25. Kapitel
In der Schule ging Robin mir wie immer aus dem Weg, auch wenn ich dachte, er würde sich unseren ersten Streit mehr zu Herzen nehmen. Vermutlich war ich ziemlich naiv, zu glauben, er würde sich bei mir entschuldigen, oder mich zumindest zum Reden auffordern. Nichts dergleichen geschah. Stattdessen schaute er mich auf dem Gang nicht einmal mehr an, sondern redete mit seinen Freunden.
Es ging mir alles zu nah, ich hätte mich nicht so sehr darauf einlassen dürfen, denn inzwischen dachte ich viel zu oft an diesen Streit und fühlte mich viel zu schlecht, sobald ich an meine abweisende Reaktion dachte. Es war schließlich nur normal, dass er weiter gehen wollte und ich sollte mich wohl geschmeichelt fühlen, dass er bereit war, mit mir diesen Schritt zu wagen – ich hatte schließlich nicht das Aussehen, eines Models.
Während ich versuchte genauso unbeteiligt an Robin vorbei zu gehen, fasste ich den Entschluss, beim nächsten Mal unvoreingenommen zu sein. Wer weiß – vielleicht fühlte es sich ja schön an, wenn ich einmal alles um mich herum vergessen und über das Gefühl des Ersticken hinweg sehen konnte.
„Ärger im Paradies?" Ich erschrak so sehr, dass ich herum fuhr und direkt in die eisblauen Augen blickte, die ich in der ganzen letzten Woche nur einmal gesehen hatte. Alec war wieder da.
„Was interessiert es dich?!", stellte ich genauso tonlos – vermutlich war Alec noch immer sauer auf mich, da Elias und ich einfach bei ihm zuhause aufgekreuzt waren.
„Tut es nicht, ich habe es lediglich festgestellt.", sagte er gehoben und ging weiter, als wäre nichts gewesen. Er war definitiv noch sauer.
Wieso machte mir das so viel aus? Wir beide waren zwar so etwas wie Freunde, aber das hatte noch nie bedeutet, dass wir uns immer mit Samthandschuhen anfassten.
„Sieht aus, als müssten wir zusammen arbeiten.", sagte Lucas und setzte sich neben mich, während er mir seine Karte zeigte – super. Ich hatte gerade tatsächlich gedacht, dass der Tag nicht noch schlimmer werden könnte, doch offensichtlich hatte ich mich da getäuscht.
Der Affe auf Drogen hatte den glorreichen Vorschlag, die Schüler in Gruppen auf zu teilen, natürlich sofort genutzt, um mir meinen Tag zu vermiesen. Wir hatten inzwischen jeder eine Karte gezogen, die die Gruppen zuteilte und wie der Zufall es wollte – oder der Riese hatte geschummelt und mir absichtlich alle Nieten zugesteckt – saß ich nun an einem Tisch mit meinem tollem Bruder und seiner neuen besten (festen?) Freundin, die es genoss mich fertig zu machen. Das einzige Glück, das mir in diesem Moment zuteil wurde, war die Tatsache, dass Alec nicht auch noch in unsere Gruppe musste, sondern Marvin, ein unscheinbarerer Junge, der sich aus allem raus hielt und sich nicht von Marie beeindrucken ließ.
Ich wusste ja, dass der einzige Kurs, in dem nicht nur mein Bruder, sondern auch Marie und Alec saßen, schlimm werden würde, aber mit so einer Boshaftigkeit meines Schicksals hatte ich nicht gerechnet.
Während wir unsere Aufgabe bekommen hatten und Marvin und ich uns wirklich Mühe gaben, diese zu erfüllen, alberten Lucas und Marie herum, wie ein frisch verliebtes Pärchen – hatte ich da etwas verpasst? Ich schlug mir den Gedanken aus dem Kopf, schließlich schrieb ich Lucas schon ein bisschen mehr Geschmack zu, doch es sah schon eindeutig aus, wenn sie seine Hand nahm, um darauf etwas zu schreiben und er sie immer nur spielerisch weg zog.
„Könntet ihr vielleicht auch mal mit machen und arbeiten?!", fragte ich genervt und vergaß für einen Moment, wen ich da vor mir hatte. Ich konnte diese Albernheit meines Bruders einfach nicht mehr mit ansehen, hatte er wirklich so wenig Geschmack?
„Wie wärs wenn du dich wieder auf deine Aufgabe konzentrierst und uns machen lässt, was wir wollen? Ich denke damit würdest du auf lange Zeit gesehen glücklicher sein.", sagte Marie mit einer Zuckersüßen stimme, doch die Drohung die in ihren Worten steckte war unverkennbar, also schaute ich zu Lucas, um seine Reaktion zu sehen. Doch er schien das gar nicht mitbekommen zu haben. Was hatte ich mir denn auch gedacht? Dass er mich in Schutz nehmen würde? Ich war ziemlich naiv in letzter Zeit – natürlich interessierte es ihn nicht, wenn Marie mir eine Drohung an den Kopf warf, schließlich redeten wir nicht mal mehr miteinander und benahmen uns nicht mehr wie Geschwister, geschweige denn, wie Zwillinge. Ich sollte nicht erwarten, dass er mir half.
Doch ich brauchte nur einen einzigen Blick auf die beiden Turteltauben zu werfen, deren Hände sich noch immer ganz offen auf dem Tisch berührten, und sofort kam all meine Wut wieder an die Oberfläche und ich sagte mit starker Stimme: „Und ich denke, es würde dich glücklicher machen endlich deine ekelhaften Griffe von meinem Bruder zu nehmen!" Ich hätte nichts Schlimmeres sagen können, schließlich richteten sich die Worte nicht nur an Marie, ich hatte Lucas schließlich auch laut als meinen Bruder bezeichnet – eine Angewohnheit, die ich mir eigentlich in den letzten Jahren abgewöhnt hatte. Eine Geste der Zuneigung, die ich ihm eigentlich nicht mehr zusprechen wollte.
Sofort ertönte ein helles und ohrenbetäubendes Lachen aus dem Hals den ich am liebsten umgedreht hätte, doch es interessierte mich nicht. Ich starrte einfach auf Lucas, der mir gegenüber saß, und wollte seine Reaktion beobachten. Er lachte nicht. Stattdessen sah er mich genauso überrascht an, wie ich mich fühlte. Zwar öffnete er seinen Mund, um etwas zu sagen, aber das wollte ich nicht hören. Ich wollte gar nichts von ihm hören, er sollte sich einfach wieder mit Marie vergnügen und ich sollte mich nicht weiter daran stören, schließlich war es seine Sache.
Ich stand so schnell auf, dass ich mit meinem Bein gegen den Tisch stieß, doch ich ging gar nicht darauf ein, sondern verließ den Raum so schnell, dass ich mich nicht einmal mehr bei dem Affen auf Drogen abmeldete.
Leider kam ich nicht einmal bis zum Schulhof, bevor ich Schritte hinter mir hörte und wenig später eine Hand auf meiner Schulter spürte. Ich wollte nicht mit ihm reden, ich wollte nichts erklären müssen, ich wollte einfach nur alleine gelassen werden.
„Sam?", fragte er vorsichtig, doch ich drehte mich nicht um, denn wenn ich das tun würde, konnte ich für nichts garantieren, egal wie stark ich bleiben wollte.
„Bitte, Sam!", fügte er nach einer kurzen Weile leise hinzu und drehte mich an meiner Schulter so, dass ich ihn ansehen musste. Wieder einmal fiel mir auf, wie ähnlich wir uns sahen. Unsere Haare hatten den exakt gleichen Farbton und seine grünen Augen schienen nur ein Spiegelbild der meinen zu sein. Vermutlich hatten wir beide im Moment sogar den gleichen Gesichtsausdruck aufgesetzt.
„Lass mich doch einfach in Ruhe.", sagte ich verzweifelt, doch glaubte nicht einmal daran, dass meine Worte auf Gehör trafen, also redete ich schnell weiter: „Ich wollte mich nicht einmischen und es tut mir leid, keine Sorge, es wird nicht wieder passieren. Können wir es nicht einfach ignorieren und weiter machen, wie bisher?"
Ich sah meinen Zwillingsbruder durchdringend an, doch er antwortete nicht, schien meinen Ausdruck einfach nur zu mustern und versuchte wohl heraus zu finden, ob ich die Wahrheit sagte. Um meinen Standpunkt zu verdeutlichen, holte ich kurz Luft und nahm meine Worte wieder auf: „Ich hatte einfach einen echt schlechten Tag, alles scheint heute falsch zu laufen und daher hatte ich mich eben nicht unter Kontrolle." Ich konnte nicht mehr. Ein Teil von mir wollte einfach weglaufen und meinen Bruder wieder aus meinen Gedanken streichen, doch ein anderer Teil sehnte sich danach, ihn zu umarmen und mir sagen zu lassen, dass alles wieder gut wird. Wann war ich nur so sentimental geworden?
Lucas nahm mir den Zwiespalt ab, indem er mich einfach an sich heran zog, seine Arme um mich legte und zu ließ, dass ich meinen Kopf auf seiner breiten Brust ablegte. Ich fühlte mich endlich wieder geborgen, fühlte mich sicher. Und hätte die Situation anders ausgesehen, hätte ich sie vermutlich sogar genossen, doch heute war kein schöner Tag für mich und die Geborgenheit machte es nicht besser. Sie machte mir lediglich deutlich, wie schön ich es haben könnte und wie dumm ich war, so etwas aus zu schlagen. Doch gleichzeitig musste ich daran denken, wie schlecht es mir ergangen war, als mein eigener Bruder sich ohne Probleme von mir getrennt und mich alleine zurück gelassen hatte.
Als ich dann auch noch spürte, wie meine Augen zu brennen anfingen, konnte ich nicht mehr. Ich schubste ihn schnell von mir weg. „Lass mich in Ruhe.", zischte ich mit brüchiger Stimme. Ich wollte Lucas in die Augen sehen, wollte wissen wie er mich ansah, doch ich konnte nicht – meine Augen schienen in Tränen zu schwimmen, die ich verzweifelt versuchte vor dem überlaufen zu schützen. Ich wollte nicht weinen. Ich wollte nicht schwach sein.
„Wieso lässt du dir nicht helfen?", fragte mein Bruder mit leiser, aber belegter Stimme. Ich hatte ihn ebenfalls vor den Kopf gestoßen, als ich ihn von mir geschubst hatte.
‚Weil ich Angst habe', hörte ich mich in meinen Gedanken sagen. ‚Ich habe Angst, dass du mich wieder verletzt' – ich hätte es ihm sagen sollen, hätte ehrlich sein müssen, doch egal wie sehr ich mich konzentrierte, die Worte schafften es nicht aus meinem Mund. Stattdessen konzentrierte sich mein Körper immer noch erfolgreich darauf, meine Tränen zurück zu halten.
Blöderweise verzieh mir der Affe auf Drogen meine kleine Flucht genauso wenig wie Marie – sie war einfach sauer, dass Lucas mir hinter her gelaufen war – sodass ich mich am Ende der Stunde mit ihm alleine im Raum aufhalten musste.
„Was glauben Sie eigentlich wer sie sind?", fragte er und starrte mich mit diesem komplett verrückten Blick an, der nur durch die Einnahme sämtlicher Droge erklärbar gewesen wäre. Ich antwortete nicht, er würde mir sowieso nicht zu hören, also führte er seinen Monolog fort, während ich zu verstehen versuchte, was genau zwischen Lucas und mir passiert war. „Sie laufen mitten in der Stunde aus meinen Unterricht und veranstalten damit eine riesige Szene, die den weiteren Verlauf meiner Stunde behindert. Desweiteren sind Sie unkonzentriert, machen keine Hausaufgaben und von ihren miserablen Noten werde ich gar nicht erst Anfangen." Tadelnd musterte er mich von oben bis unten und verzog angewidert das Gesicht, als er einen kleinen Fleck auf meinem Shirt bemerkte, der mir auch erst in der letzten Stunde aufgefallen war, da mich niemand darauf hingewiesen hatte.
„Was für eine Strafe bekomme ich?", fragte ich nach einiger Zeit der Stille, um dieser unangenehmen Stimmung zu entkommen. Ich wollte nur noch nach Hause in mein Zimmer und mir in Ruhe über alles im Klaren werden.
„Sie alleine werden dieses Mal noch ungeschoren davonkommen, nehmen sie das einfach als Warnung, schließlich kann ich mir immer noch etwas einfallen lassen, sollten sich ihre Noten nicht verbessern. Aber ich habe beschlossen, dass Ihre Gruppe in der nächsten Stunde auf jeden Fall einen Vortrag bereit halten sollte, den ich bewerten werde – sagen Sie es den anderen." Er machte eine abwertende Geste zur Tür, mit der er mir bedeutete, den Raum zu verlassen und ihm aus den Augen zu treten. Nichts lieber als das.
Ich wurde mir erst ein paar Schritte später bewusst, was seine kollektive Strafe bewirkte, denn damit war ich gezwungen mich in meiner Freizeit sowohl mit Lucas, als auch mit Marie zu treffen – das konnte ja lustig werden. Hasste mich das Schicksal wirklich so sehr?
„Und? Was hat er zu dir gesagt?" Lucas hatte überaschender Weise vor dem Klassenraum auf mich gewartet und schien ganz erpicht darauf zu sein, meine Erklärung zu hören. Dachte er wirklich, nach der ganzen Sache vorhin, würde ich ohne weiteres mit ihm plaudern wollen?
„Wir müssen bis Morgen die Projektarbeit beenden und unsere Ergebnisse dann vortragen.", informierte ich ihn knapp und wäre am liebsten vom nächsten Hochhaus gesprungen. Wieso konnte mich das Pech nicht einfach mal in Ruhe lassen? Lag es an mir? Vermutlich hatte ich mir alles selbst zu zuschreiben, trotzdem fühlte es sich echt scheiße an.
„Dann sage ich Marie und dem anderen Jungen Bescheid und wir treffen uns nachher alle bei uns zuhause – Paps wird sich freuen.", sagte mein Bruder beschwichtigend und lächelte ein wenig, offenbar war er sich selbst nicht sicher, wie er nun mit mir umgehen sollte. Na toll! Dann hatte ich jetzt also auch das Privileg verspielt, von ihm einfach ignoriert zu werden.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top