21. Kapitel
Als Oma wieder zuhause war, lief es im Endeffekt darauf hinaus, dass sie den Kuchen alleine backte und Lucas und ich getrennte Wege gingen. Ich wollte eigentlich auf das Zimmer und mich ein bisschen ausruhen, doch der Plan wurde schnell über Bord geworfen, als ich bemerkte, dass Lucas den Raum schon für sich selbst in Anspruch nahm und in ein Buch vertieft war. Ich überlegte zwar noch kurz, trotzdem hinein zu gehen, denn wenn Lucas las, dann hätte eine Atombombe neben ihm einschlagen können und er hätte nicht einmal hoch gesehen, doch ich wollte ihm trotzdem nicht so nahe sein.
Wie sich herausstellte, hatte sich auch im hinteren Teil des Hauses, den ich in den letzten Jahren nicht einmal betreten hatte, nichts verändert, sodass ich ohne Probleme die Treppe, die auf den Dachboden führte, erreichte und hinauf klettern konnte. Das Besondere an diesem Dachboden war ein kleines rundes Fenster, das direkt auf den Hof blicken ließ. Es schien als hätte jemand eine Zeitreise gewagt, das alte Fenster aus dem Mittelalter geschnitten und hier wieder eingesetzt – ich liebte es.
„Denkst du, wir dürfen hier sein?", fragte ich besorgt. Ich fühlte mich zwar immer wieder wohl bei Oma und übernachtete liebend gerne hier, doch trotzdem kam es mir vor, als würden wir etwas Verbotenes machen. Wir hatten in dem großen Haus verstecken gespielt und als Lucas sich verstecken wollte, fand er diese alte Leiter im hinteren Teil des Hauses. Oma hatte uns nie von einem Dachboden erzählt, dabei war es das coolste, was ich in meinem kurzen Leben je entdeckt hatte. Alles roch alt, die Stufen knirschten bei jeder Verlagerung des Gewichts und die dutzenden Kisten luden quasi dazu ein, in ihnen herum zu stöbern – das mit Abstand beste war aber ein Fenster, das uns den Blick auf den Hof frei gab.
Lucas und ich hatten Tagelang da oben verbracht und sahen dabei immer wieder aus dem Fenster raus, um zu beobachten, wer zu Besuch kam und wer das Haus verließ. Wir hatten uns eingebildet, von unserem Posten würden wir irgendwann einen Einbrecher entlarven können oder gar einen Bösewicht, der aus dem Gefängnis geflüchtet ist lokalisieren – klar, wir waren beide schon alt genug, um zu wissen, wie gering die Chancen dafür standen, doch niemand blickte herauf zu uns, wir hatten es immer geschafft, im Schatten zu verschwinden. Außerdem war unsere Fantasie so groß, dass es
am meisten Spaß machte, sich einfach hunderte Geschichten aus zu denken.
Und jetzt setzte ich mich das erste Mal seit Jahren wieder an das Fenster und starrte auf den Hof hinaus. Ich hatte kurz nach Lucas Auszug versucht, mich hier oben wohl zu fühlen, doch damals hatte ich es als Verrat angesehen, diesen wundersamen Ort zu betreten. Mein Gespräch mit meinem Bruder vorhin, hatte mir aber klar gemacht, dass keine Bindung mehr zwischen uns bestand, also durfte ich mir nicht mehr von diesem Gefühl vorschreiben lassen, was ich machen konnte und was nicht. Ich musste endlich anfangen, alleine zu leben, nicht mehr an die früheren Zeiten zu denken, denn da hatte Lucas recht: Die waren schon lange vorbei.
Ich verbrachte Stunden da oben, saß Stunden lang im Schneidersitz auf dem Boden und schweifte immer wieder in meinen Gedanken ab, die Regentropfen, die auch auf dieser Scheibe versuchten das Rennen nach unten zu gewinnen, taten ihr übriges.
Erst als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung bemerkte, verschärfte ich meinen Blick. Ein Auto fuhr auf den Hof, ein ziemlich neues und teures Auto, soweit ich das beurteilen konnte. Es stiegen zwei Frauen aus, die ich beide nicht zuordnen konnte, aber sie wirkten genauso wie ihr Auto – reich, versnobt und aufgetakelt. Das mussten die Freundinnen meiner Oma sein.
Während ich mich auf den Weg nach Unten machte, um die Frauen zu begrüßen – genau, wie Oma Lucas und mich vorhin gebeten hatte – machte ich mir wieder klar, dass auch die Frau, die früher mit mir im Sommerregen getanzt hatte, weil es mir so viel Spaß machte, über sehr viel Geld verfügte.
„Samantha, du bist aber groß geworden!", rief die eine Frau mit den kurzen braunen Haaren und der Brille quietschend aus und zog mich sofort in ihre Arme, als ich in Reichweite war. Kannten wir uns? Die andere musste meinen Blick bemerkt haben, denn sie warf lachend ihren Kopf in den Nacken, was ihre langen grauen Haare in Bewegung brachte.
„Nicht so stürmisch, Liese. Die Kleine erinnert sich doch nicht mehr an dich!", sagte sie, als sie sich beruhigt hatte und ich lächelte verlegen. Ich konnte mich beim besten Willen nicht an diese Frauen erinnern, denen ich offenbar schon einmal begegnet war.
„Anja, Anneliese – schön euch wieder zu sehen, das ist ja inzwischen Jahre her.", sagte Lucas, der plötzlich hinter mir auftauchte. Konnte er sich tatsächlich an die beiden reichen Frauen erinnern? Ich erinnerte mich aber nicht daran, dass in dem kurzen Gespräch der Name der zweiten Frau gefallen war, vermutlich war Lucas tatsächlich fähig sich an die vorherige Begegnung zu erinnern, auch wenn es inzwischen über zehn Jahre her sein musste. Ich schlussfolgerte, dass ich die Beiden vermutlich kurz nach meiner Adoption getroffen hatte, dass sie mich daher kannten – doch auch wenn ich zu dem Zeitpunkt kein Baby mehr war, war es mir trotzdem ein Rätsel, wie ich mich daran erinnern sollte. Ich konnte mir kaum die nötigen Vokabeln in Spanisch merken, wie sollte ich da an eine Begegnung denken, die schon so lange her war?
„Was für ein schöner junger Mann aus dir geworden ist!", sagte die Frau aus deren Umarmung ich mich inzwischen gelöst hatte und wandte sich meinem Bruder zu, den sie ebenfalls großherzig an ihre Brust drückte. Sie wirkte begeistert und Lucas lächelte Charmant – mir war nicht einmal bewusst, dass er dieses Wort kannte, geschweige denn es auch anwenden konnte. Wieso verhielt er sich so?
„Sie sind dafür kein Stück älter geworden.", gab mein Bruder zurück. Nichts war mehr von dem Jungen übrig, mit dem ich mich vorhin gestritten und erst recht nichts mehr von dem, der sich mit Alec geprügelt hatte.
„Kommt doch erst mal alle ins Wohnzimmer, ich habe Kuchen gebacken.", sagte Oma und unterbrach somit die suspekte Zusammenführung. Als sich die anderen auf den Weg in das nächste Zimmer machten, hielt meine Oma mich auf und flüsterte: „Die beiden waren damals zu meinen Geburtstagen da und haben sich von dir und deinem Bruder verzaubern lassen. Ihr wart aber auch zu süß!", sagte sie und schwelgte in ihren Erinnerungen. Es war nicht zu übersehen, dass sie diese Zeiten vermisste.
„Was möchtest du eigentlich später mal machen, Lucas?", fragte die erste Frau mit der Brille und den kurzen braunen Haaren enthusiastisch. Wir saßen mittlerweile alle beisammen im Wohnzimmer und aßen den köstlichen Kuchen, der gleichzeitig auch das Einzige positive des ganzen Tages darstellte. Die meiste Zeit redeten die drei Freundinnen mit sich und mein Bruder schleimte sich, wann immer er konnte so sehr bei den beiden ein, dass er aufpassen musste nicht auf seiner Schleimspur auszurutschen. Dementsprechend begeistert waren die beiden Frauen von ihm und hatten Spaß daran, ihn aus zu fragen.
Ich hatte im Laufe des Gesprächs, an dem ich mich zwar nicht beteiligte, aber immer zuhörte, erfahren, dass die beiden Frauen ziemlich große Namen in ihrer Branche waren. Die zweite Frau war tatsächlich die Leiterin der besten Universität des Landes und Anneliese, die erste Frau, war mit irgendeinem Politiker verheiratet, der wohl ziemlich viel zu sagen hatte. So langsam merkte ich, warum Lucas so übertrieben freundlich war.
„Ich bin mir noch nicht ganz sicher – vielleicht studiere ich Medizin nach meinem Abitur, doch auch Jura interessiert mich sehr. Und mit meinen Noten habe ich da sowieso die freie Auswahl.", antwortete er und schaffte es irgendwie trotz des überheblichen Inhalts nicht arrogant zu klingen. Das mit dem Wunsch die Medizin zu erlernen kannte ich schon, kaum ein Jahr, nach dem wir unsere Familie gefunden hatten, wurde meinem Zwillingsbruder klar, dass er das gleiche wie Papa machen wollte, dass er Leben retten wollte. Es überraschte mich nicht wirklich, doch der zweite Berufswunsch war neu für mich – warum ausgerechnet Jura? Klar, ich verstand, dass meinem Bruder nach der Schule die Welt offen stand, doch ich hatte in ihm nie einen Anwalt oder Richter gesehen.
„Ja, das glaube ich dir. Schon damals ist mir sofort aufgefallen was für ein schlaues Kerlchen du warst." Und ich war das dumme Mädchen, das mit niemanden ein Wort gesprochen hatte. Ich kam mir fehl am Platz vor, hatte es satt den Ausführungen meines Bruders zu zuhören und wollte nur noch nach Hause, doch ich konnte nicht weg.
So langsam konnte ich mir ein Bild von unserer Begegnung machen, die Lucas offenbar ganz vorne in seinem Gedächtnis abgespeichert und nicht, wie ich, in den unendlichen Weiten des Gehirns verloren hatte. Es muss etwa ein halbes Jahr nach unserer Adoption gewesen sein, Lucas und ich waren um die sechs Jahre alt und Oma hatte Geburtstag. Damals fungierte Lucas als Mittelsmann zwischen mir und dem Rest der Welt und niemand kam zwischen uns, er war alles was ich hatte, alles was ich jemals haben wollte. Daher hatte ich nicht mal wirklich aufgepasst, wer alles zu Besuch war – mal abgesehen davon, dass ich mich auch dann nicht an den Tag erinnern konnte, wenn ich mich damals die ganze Zeit für die anderen Interessiert hätte. Wie machte Lucas das nur?
Die letzten beiden Tage verbrachte ich hauptsächlich alleine auf dem Dachboden. Ich fand dort ein altes Fotoalbum, dass ich mir tausendmal ansah und starrte aus dem Fenster, um meine Langeweile zu vergessen. Vermutlich hatte Oma gemerkt, dass es keinen Sinn machte, mich und Lucas zusammen bringen zu wollen und sie gab es deshalb irgendwann auf. Ich und mein Bruder redeten nicht mehr viel miteinander, er kam nicht zu mir und ich hatte keinen Anreiz dazu, den ersten Schritt zu wagen – vermutlich war das auch besser so. Wenn ich daran dachte, wie komplett anders er sich bei Anja und Anneliese verhalten hatte, wie schnell er sich zu einem anderen Menschen verwandeln konnte, dann wollte ich gar nicht wieder zu seinem Leben gehören, sonst müsste ich mich immer fragen, ob er es tatsächlich ernst meinte.
Sein ganzes Verhalten kam mir beinahe wie Prostitution vor – er schleimte sich bei zwei Frauen ein, die Einfluss auf die Welt hatten. Er wollte sich gut mit ihnen Stellen, um später noch einfacher das zu bekommen, was er wollte und das wiedersprach meiner eigenen Einstellung vollkommen. Wie konnte man sich nur für etwas so verstellen, Menschen so dreist anlügen, nur um von ihnen gemocht – ja, sogar bevorzugt zu werden.
„Na, wie waren deine freien Tage so? Also ich hatte das beste Wochenende meines Lebens!", flötete Elias, als ich mich endlich wieder in meinem eigenen Zimmer befand und dabei war, meinen Rucksack wieder aus zu räumen.
„Freut mich, dass wenigstens einer von uns Spaß hatte.", sagte ich sarkastisch und dachte an die letzten Tage zurück, die mir so unnötig vorkamen, wie der Chemie-Unterricht beim Affen auf Drogen. Im Grunde hatte ich mich nur an dem Tag mit Alec nicht miserabel gefühlt, denn überraschender Weise hatten mir diese Ausflüge sogar Spaß gemacht, aber davon würde ich Elias niemals etwas erzählen können, sonst kam er noch auf die Idee etwas davon selbst aus zu probieren.
„Was habt ihr eigentlich alles gemacht?", fragte ich Elias nach einer Weile, da ich genau wusste, dass er darauf brannte mir alles von seinen tollen Tagen zu erzählen.
„Zuerst sind wir in den Zoo gefahren – Emma war mit – und da haben wir ganz viele Fotos mit den Elefanten gemacht und danach wurde es nur noch besser, denn Emma durfte hier übernachten.", sagte er mit so viel Begeisterung, dass ich wieder einmal nicht verstehen konnte, wieso Alec das mit den beiden nicht süß fand – ich, für meinen Teil, fand es unheimlich niedlich.
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