20. Kapitel
„So geht das beim besten Willen nicht weiter.", sagte meine Oma, als ich am nächsten Tag wieder in der Küche stand. Alec und ich hatten wohl irgendwie in seinem Auto geschlafen, doch ich konnte mich nicht erinnern, was genau passiert war, nachdem ich gedacht hatte, das Gerüst würde auf die Straßen fallen. Es war alles einfach ausgelöscht und das Gefühl gefiel mir überhaupt nicht. Doch nicht nur meine löchrige Erinnerung zeigte mir, dass ich gestern eindeutig zu viel Alkohol getrunken hatte, auch mein Kopf wollte mich darauf aufmerksam machen und bescherte mir einen mächtigen Kater. Jetzt wusste ich, wie sich Lucas gefühlt haben musste, als er gestern so laut von mir angeschrien wurde.
Über meine Abwesenheit war Oma natürlich gar nicht erfreut, sie hatte sich vermutlich noch mehr Sorgen gemacht, als sie zugab und es tat mir wirklich leid, doch ich hatte diesen Tag ohne Sorgen wirklich gebraucht. „Was hast du denn eigentlich mit diesem Jungen gemacht?", hatte sie mich gefragt, nachdem ich das Haus betreten und eine Kopfschmerztablette zu mir genommen hatte und klang dabei wenig begeistert. Mein schlechtes Gewissen war zwar groß, aber trotzdem hatte ich nicht antworten können, ohne zu verraten, welche verbotenen Dinge Alec und ich getan hatten – das machte sie nur noch verrückter.
„Vielleicht hätte man uns einfach nicht gegen unseren Willen hier her schicken sollen.", sagte Lucas nun trotzig. Offenbar hatte er sich von seinen Kopfschmerzen erholt, denn er sprach lauter und wirkte lange nicht mehr so blass, wie noch am Vortag. Diese Erkenntnis gab mir ein wenig Hoffnung, nicht für lange Zeit mit diesen unerträglich dumpfen Schmerzen leben zu müssen.
„Ich werde nicht mit euch diskutieren. Ihr könnt froh sein, dass ich eure Väter nicht über die Ausflüge aufgeklärt habe. Aber mal ehrlich – ihr werdet doch ein paar Tage miteinander verbringen können, ohne gleich ausfallend zu werden. Ihr seid doch keine kleinen Kinder mehr!" Oma war wütend, sogar ziemlich wütend. Das war ein Gefühl, dass ich noch nie bei ihr gesehen hatte und es machte mein schlechtes Gewissen noch größer.
Zu meiner Überraschung schien Lucas ebenfalls nichts erwidern zu wollen, sondern blieb still. Aber sein Blick sagte definitiv aus, dass er immer noch nicht bereit war, vor zu gaukeln es würde alles in Ordnung sein.
„Gut, wenn wir das geklärt haben: Ich muss noch einmal los fahren um Zutaten zu kaufen, denn nachher bekommen wir besuch und dafür möchte ich einen Kuchen backen – vielleicht habt ihr ja Lust mir zu helfen." Sie ließ es wie eine Frage klingen, doch das war es keinen Falls, denn im Grunde würden weder Lucas noch ich eine Wahl haben.
„Kann ich euch alleine lassen, ohne dass ihr euch gleich wieder gegenseitig aus dem Haus scheucht, oder soll ich euch einfach mitnehmen?", fragte sie interessiert. Eines war noch schlimmer, als mit Lucas alleine in einem Haus zu sein – mit ihm in einem Auto zu sitzen und die Stille, die dadurch entstand, zu ertragen, daher versicherte ich Oma, dass sie uns dieses Mal vertrauen konnte. Mein Bruder schien ähnliche Ansichten zu vertreten, denn auch er wagte es nicht, zu widersprechen.
Als Oma aus dem Haus war, rechnete ich beinahe damit, dass Lucas sich für meine Aktion am Vortag rächen und mich ebenfalls, trotz meines schmerzenden Kopfes, anschreien würde, doch das tat er nicht. Er verließ aber auch nicht den Raum. Stattdessen blieb er im Türrahmen der Küche stehen und beobachtete mich ganz genau.
„Was ist los?!", fragte ich irgendwann gereizt, weil ich eigentlich keine Zuschauer haben wollte, während ich das Wasser trank. Ich ärgerte mich prompt über meinen hitzigen Tonfall, denn das mochte das Monster in meinem Kopf überhaupt nicht und schien aus Trotz gegen meine Schädeldecke zu schlagen. Schmerzerfüllt kniff ich meine Augen fest zusammen, vielleicht konnte ich das Monster so schlafen legen. Wieso hatte mich niemand gewarnt, dass Alkohol solche Kopfschmerzen verursachte? Es tat zwar gut, eine ganze Nacht lang dank des Alkohols nur Spaß zu haben, doch mit diesen Schmerzen hatte ich nicht gerechnet – gläubige Menschen nannten das wohl Karma. „Wer Schlimmes sät, wird auch Schlimmes ernten", oder so ähnlich.
„Können wir bitte einmal ganz in Ruhe miteinander reden?", fragte Lucas ernst und setzte sich neben mich auf den Stuhl. Er drehte sich so, dass er mich direkt anschauen konnte und im Grunde hätte ich es ihm gleich tun sollen, aber ich konnte es einfach nicht. Stattdessen starrte ich auf das Glas und versuchte verzweifelt desinteressiert auszusehen. Er sollte nicht wissen, wie verletzlich ich in seiner Gegenwart war.
Als ich auf seine Frage nicht antwortete, weil ich wusste, dass er sowieso nicht locker lassen würde, fuhr er ruhig fort: „Was hast du mit Aggro-Alec gemacht? Ihr wart die ganze Nacht zusammen, oder?" Mir fiel erst jetzt auf, wonach das für Außenstehende aussehen musste, doch diese Annahme schien für mich so absurd, dass ich mir gar nicht erst die Mühe machte, zu widersprechen.
„Wieso nennst du ihn so?!", fragte ich stattdessen und merkte wie die Wut in meinen Körper zurück kehrte. Mein Kopf tat zwar höllisch weh, schaltete meine Gefühle aber leider nicht, wie der Alkohol selbst, aus.
Wenn er Alec bei seinem bescheuerten Spitznamen nannte, bedeutete das, dass mein Bruder auf das Gerede der anderen hörte und es sich verinnerlichte. Was mochte er dann wohl über mich gehört haben? Welchen Spitznamen hatte ich bei den anderen zu denen ich jetzt auch meinen eigenen Zwillingsbruder zählen konnte?
In der Schule hing er zwar immer öfters mit Marie und ihren Freunden herum, aber trotzdem tat es weh zu glauben, dass er auch auf ihre Worte hörte. Es war das eine, mit solchen Leuten rum zu hängen, aber viel Schlimmer war es, das zu glauben was sie einem erzählten. Ich konnte die Enttäuschung darüber nicht verbergen. Niemand würde ein Schild über meinem Kopf brauchen, um zu erraten wie es mir dabei ging – nicht einmal Lucas.
„Weil es stimmt. Da war mal so eine Schlägerei, keine Ahnung ob du das mitbekommen hast, aber es hieß Aggro-Alec gegen mich. Aber vermutlich warst du einfach zu beschäftigt damit, ihm zu helfen.", formulierte Lucas sarkastisch. Er war also auch deswegen wütend, doch das war eines der wenigen Dinge, die ich nicht bereute, die ich immer wieder machen würde.
„Vielleicht hätte ich dir geholfen, hättest du mich damals nicht links liegen gelassen.", antwortete ich bissig und schaffte es nun doch meinen Kopf zu dem Jungen zu drehen, der mich früher am besten von allen Menschen auf der Welt kannte und für den ich früher nicht nur den Kampf gestoppt, sondern auch selber verteidigt hätte. Zu dem Blick des Jungen, mit dem ich nicht nur die Augenfarbe teilte.
„Ich habe dir schon einmal gesagt, dass du nicht immer in der Vergangenheit schwelgen sollst.", sagte Lucas belehrend wie ein Lehrer, der seinen Schülern nun zum zwanzigsten Mal erklären musste, was eins plus drei macht, und stand auf um sich einen Müsliriegel aus dem gleichen Schrank zu holen, in dem das neue Glas Nutella stand. Sofort wurde mein ganzes Gesicht heiß und die Scham überkam mich, als ich an die Nacht zurück dachte. Ich war in diesem Moment froh und dankbar dafür, dass niemand etwas gemerkt hatte – niemand außer Alec zumindest, denn ich wurde das Gefühl nicht los, dass er sich sofort zusammen reimte, warum ich seine Hilfe gebraucht hatte.
„Und ich dachte dir würde inzwischen klar sein, dass ich mir nicht von dir sagen lasse, was ich tun soll.", antwortete ich und versteckte mein glühendes Gesicht wieder, in dem ich auf mein Glas mit Wasser schaute. Ich wollte ihn sowieso nicht ansehen – was tat ich hier eigentlich? Das Gespräch war so kalt, dass ich mir vorkam, als würde ich mit einem Fremden über das Wetter sprechen, dabei war er doch mein Zwillingsbruder! Wie konnte es nur so weit kommen?
„Du hast dich ziemlich verändert. Ich war zwar immer in den Sommerferien Zuhause, doch da hast du dich ziemlich von mir fern gehalten, ich merke erst jetzt, wie anders du geworden bist.", meinte Lucas ohne jeglichen Ton der Verurteilung, als er sich wieder neben mich setzte. Er stellte es einfach fest, genau wie eine Gleichung in Mathe – ich wollte einfach nur noch hier weg. Was dachte er sich eigentlich? Natürlich hatte ich mich verändert! Wenn der liebste Mensch einfach freiwillig aus deinem Leben verschwindet und dich in der Hölle zurück lässt, dann verändert es dich.
Ich wollte einfach weg. Doch ich würde ihm nicht den Gefallen tun, als Erster die Flucht zu ergreifen, denn das würde mir die Schuld an dem ganzen Streit geben, da ich dann offensichtlich nicht bereit wäre, mit ihm zu reden.
„Glaube mir, dafür verstehe ich langsam, dass du schon immer genau so warst und dich damals nur verstellt hast.", antwortete ich und glaubte meinen Worten. Es war ihm so leicht gefallen, weg zu gehen, dass ihm vermutlich noch nie viel an mir gelegen hatte.
Ich wollte endlich weg hier, suchte verzweifelt nach einem Ausweg, der mich von diesem ganzen Gespräch befreite, ohne als kindisch zu gelten, doch es fand sich einfach nichts. Stattdessen schien die Temperatur um uns herum immer weiter zu sinken.
„Ich weiß wirklich nicht, wo dein Problem liegt.", antwortete Lucas nachdenklich. Der tolle Bruder wusste tatsächlich mal eine Antwort nicht? Das musste ein völlig neues Gefühl für ihn sein.
„Mein Problem liegt in dir, vielleicht hättest du einfach nicht zurück kommen sollen.", sagte ich ehrlich, tonlos. Ich spürte keinen Hauch mehr von Liebe zwischen uns, kein Geschwisterband, das uns zusammen hielt, es fühlte sich einfach nur an, als würde ich mit einem Fremden über das Wetter reden.
„Denkst du denn, das wollte ich?! Denkst du wirklich, dass ich von all meinen Freunden weg wollte, mein ganzes Leben aufgeben wollte?", stellte Lucas die Gegenfrage. Auf einmal schien es mir, als würde er sich viel mehr aus diesem Gespräch machen, als ich. Doch das konnte nicht sein, schließlich verfügte Lucas die letzten Jahre über keine Gefühle, er dachte immer nur rational und interessierte sich nicht für mich, geschweige denn für meine Worte, doch jetzt auf einmal bemerkte ich einen Schatten unter seinen Augen, der ganz kurz an die Oberfläche zu kommen schien.
„Irgendwie hast du es ja geschafft, da raus zu fliegen und ich denke, dass es alleine deine schuld gewesen ist. Also spiel mal nicht so verletzlich, ich weiß doch, dass du im Grunde nichts als ein kalter Eisblock geworden bist.", sagte ich trocken und brach offenbar auch den letzten Rest unserer Verbindung. Denn wortlos drehte sich mein Bruder um und verließ den Raum.
Ich war nicht laut geworden, hatte wie eine Erwachsene geklungen und war nicht weggelaufen, doch trotzdem war ich nicht zufrieden. Als ich aus dem Fenster sah, merkte ich dass es angefangen hatte zu regnen und hätte beinahe bitter aufgelacht – konnten die Wolken meine Gefühle spüren? Ich hatte nicht aufgegeben, hatte den stillen Kampf gegen Lucas gewonnen, aber wieso fühlte ich mich dann nicht gut?
Während ich aus dem Fenster sah und den einzelnen Regentropfen zu sah, wie sie sich ihren Weg an der Scheibe nach unten kämpften, verfiel ich in meine Gedanken, die mich komplett einzunehmen schienen. Wie war Lucas leben im Internat gewesen? Ich hatte ihn nie besucht, kannte seine alten Freunde nicht – hatte es jemanden an seiner Seite gegeben, der ihm näher stand, als wir es jemals getan hatten? Warum musste er da weg, wenn er freiwillig niemals etwas getan hätte, um von der Schule zu fliegen?
Ich erinnerte mich noch wage an seine kurze Erklärung, in der er mir sagte, er habe mit der Tochter des Direktors geschlafen, doch wurde man deswegen gleich von der Schule geworfen? War so etwas überhaupt erlaubt? Oder war es wie mit einem Eisberg, der im offenen Meer schwamm? – Man sah an der Oberfläche nur einen Bruchteil dessen, was sich unter dem Wasser im Schatten verbarg.
Als mir bewusst wurde, wie viele Fragen sich in mir aufwarfen, wie sehr ich über Lucas nachdachte, stand ich sofort auf. Vermutlich war es die Schuld der Regentropfen, die auf einmal zuließen, dass ich meine Gedanken mit meinem Bruder füllte.
Aber jetzt hatten sich die vielen Fragen in meinem Kopf eingenistet, ich konnte auch dann nicht aufhören darüber nach zu denken, als ich auf mein Handy schaute und eine Nachricht von Robin vorfand. Es schien mich nicht einmal zu interessieren, dass er mir nun endlich geschrieben hatte, es war mir egal.
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