19. Kapitel
Ich bekam nicht viel von dem Film mit, denn immer wenn jemand aufstand, oder das Kino wieder betrat, hatte ich so eine Angst erwischt zu werden, dass ich komplett erstarrte. Ich konzentrierte mich nur darauf und hatte sogar so etwas wie Spaß. Als Alec irgendwann während des Filmes vorschlug, noch etwas anderes zu machen, was mich mit Sicherheit ebenfalls ablenken würde, konnte ich nicht anders, als sofort zu zusagen.
Die Zeit verflog wie im Rausch, der ganze Tag wirkte, als würde ich in einer Parallelwelt leben, in der ich keine Sorgen hatte und ich liebte es. Zwar redeten Alec und ich die meiste Zeit kaum miteinander, aber wir schalteten die Welt um uns herum ebenfalls auf Stumm und konzentrierten uns nur auf uns.
„Was hast du denn noch vor?", fragte ich vorsichtig, als wir wieder in seinem Auto saßen. Die Dämmerung hatte schon eingesetzt und langsam fing ich an mich zu fragen, ob ich nicht doch lieber wieder zurück zu Oma fahren sollte. Sie machte sich bestimmt Sorgen. Aber Lucas würde auch da sein und nach meiner riesigen Szene heute, wollte ich nicht schon wieder mit ihm zusammen stoßen.
„Hast du schon mal nachts über der Autobahn gestanden?", fragte er rhetorisch, denn meine Antwort darauf kannte er genauso gut wie ich selber – natürlich hatte ich das nicht! Das war doch verrückt, gefährlich und vor allem Verboten! Aber der Junge mit den eisblauen Augen redete angeregt weiter: „Denn glaube mir, das ist ein wesentlich besserer Ausweg aus dem Leben, als ein Sprung vom Dach des Kinos." Nach kurzem Überlegen verstand ich, worauf er da anspielte. Woher wusste er, was mir vorhin auf dem Dach für Gedanken gekommen waren? War ich wirklich so durchschaubar? Oder flog einfach ein Fabelwesen über mir, das meine Gedanken auf schwebende Schilder über meinem Kopf und sichtbar für alle aufschrieb?
Ich hätte nein sagen können, ich hätte nein sagen müssen! Es war nicht richtig, so etwas Riskantes zu machen. Was, wenn wir erwischt werden würden? Und mal abgesehen davon, dass die Idee bescheuert und verboten war, war sie auch reichlich riskant! Aber ich sagte nicht nein, ich sagte ihm nicht, er solle mich zurück zu meiner Oma fahren, stattdessen schwieg ich und sah mit an, wie sich das Auto in Bewegung setzte.
„Die Regeln bleiben die gleichen.", sagte Alec tonlos, als wir aus dem Auto stiegen. Wir befanden uns in einer Seitenstraße, kurz vor einer Autobahnbrücke. Ich konnte erkennen, dass auf dem kleinen Hügel zwischen Büschen und Bäumen eine Leiter angebracht war, die direkt auf das Schild der Autobahn führte. Mich überkam derselbe Rausch, wie schon vor dem Kino und ich war auf einmal froh, nicht abgesagt zu haben. Mit den „Regeln" meinte Alec genau das gleiche, wie schon im Kino: Ich durfte niemandem davon erzählen. Doch das würde nicht allzu schwer werden, denn die potenziellen Zuhörer ließen sich bei mir auf eine Hand beschränken. Einer davon war ein Zehnjähriger, den ich niemals freiwillig auf solche Gedanken bringen würde und ein anderer war Robin, den ich an diesem Tag sowieso aus meinem Kopf gestrichen hatte. Dann hätten wir noch meine Väter, die mir eine Standpauke halten würden und ein Mädchen, mit dem ich erst einmal in meinem Leben gesprochen hatte und trotzdem zu dem inneren Kreis zählte – ja, ich brauchte diesen heutigen Ausflug eindeutig!
Ich kletterte hinter Alec die Leiter herauf und war überrascht, wie gut das funktionierte. Es war zwar nicht sonderlich hoch, doch ich kannte meine Tollpatschigkeit und hätte mir zugetraut ab zu rutschen und mir bei dem Sturz sämtliche Knochen zu brechen – doch nichts dergleichen passierte. Ich kam unversehrt oben an und musste zu aller erst die wunderschöne Aussicht genießen.
Dank der Dunkelheit, die in diesen Herbstmonaten schon recht früh einsetzte, fuhren alle der unzähligen Autos mit Licht, was dazu führte, dass sie wie hunderte Glühwürmchen auf der Straße zu tanzen schienen. Es war ein atemberaubender Anblick.
Alec setzte sich auf den Boden, durch den man dank seiner Netzanordnung ebenfalls auf die Glühwürmchen sehen konnte, und ich tat es ihm nach. Zwar setzte ich mich mit genug Abstand neben ihn, doch auch nicht so weit, wie ich es noch vor ein paar Tagen getan hätte. Heute hatte ich wirklich das Gefühl bekommen, dass wir so etwas wie Freunde sein könnten.
„Hier.", sagte der Schwarzhaarige und reichte mir eine Flasche, die ich nicht sofort Identifizieren konnte. Wollte er hier oben etwa auch noch trinken?! Der Junge mit den eisblauen Augen, die trotz der Dunkelheit hell zu leuchten schienen, merkte an meinem Blick wie begeistert ich von der Idee war und nahm daher als erster einen Schluck der klaren Flüssigkeit.
Ich schmiss alle meine Bedenken über Bord, als mir klar wurde, dass meine ganzen Sorgen zu keinem Ergebnis geführt hatten und dass es so gut tat, einen ganzen Tag lang nicht auf die Konsequenzen geachtet zu haben, sodass ich irgendwann doch die Flasche aus seiner Hand nahm – heute war das in Ordnung.
„Was ist das eigentlich?", fragte ich nach einiger Zeit. Die Flasche mit der klaren Flüssigkeit war schon beinahe zur Hälfte ausgetrunken und mein Bauch hatte sich mit einer wohligen Wärme gefüllt.
„Wodka.", antwortete Alec kurz und nahm einen weiteren Schluck. Ich wollte aber selber etwas und versuchte es ihm aus der Hand zu reißen, doch aus irgendeinem unerfindlichen Grund griff ich daneben. Alec lachte leise, ehe er sich wieder mir zuwandte: „Du hast noch nicht viel Alkohol in deinem Leben getrunken, oder?", fragte er und schien recht amüsiert – es war das erste Mal, dass ich Alec Pecht wirklich amüsiert sah. Normalerweise assoziierte ich sein Lächeln immer nur mit Arroganz oder Sarkasmus, doch dieses Mal schien es echt zu sein – oder ich merkte die Andeutung dahinter einfach nicht.
„Ich habe viele Dinge noch nie gemacht.", antwortete ich wage auf seine Frage und wollte noch einen Versuch starten, nach der Flasche zu greifen, vielleicht würde sie dieses Mal nicht ausweichen, doch Alec vermasselte mir meinen Triumpf, indem er die Flasche zurück in seinen Rucksack steckte.
„Hey!", rief ich überrascht aus und wollte mich zu ihm Beugen, um an die Tasche hinter ihm zu gelangen, doch als Alec sich zurück beugte, um meinem Arm auszuweichen, merkte ich erst, dass meine Beine unter dem Geländer in der Luft baumelten und da ich ziemlich ins Wanken geriet, ließ ich es nach kurzer Überlegung doch lieber bleiben.
„Wir hatten genug, das Zeug wird erst mal für ne Weile halten.", sagte er auf meinen Ausruf der Empörung, doch ich verstand nicht wirklich, was er damit meinte.
„Wieso warst du heute so nett zu mir?", fragte ich schnell um das Thema zu wechseln. Ich konnte es nicht erklären, aber auf einmal wollte ich mich unbedingt mit ihm Unterhalten. Es war als hätte die Wärme in meinem Körper meine Sinne und die Steuerung meines Gehirns übernommen und war gerade dabei das Schiff in eine komplett andere Richtung zu steuern.
Doch ich war nicht die einzige die Alkohol getrunken hatte, auch Alec schien wesentlich offener mit der Wärme am Steuer seines Körpers zu sein. Daher antwortete er mir auch sofort. „Ich dachte einfach, dass du mal einen Tag Auszeit verdient hättest. Bilde dir bloß nichts darauf ein, vermutlich war ein bisschen Eigennutz auch bei der Entscheidung dabei.", sagte er und wirkte wirklich ehrlich.
„Wieso brauchtest du denn einen Tag Auszeit?", hakte ich neugierig nach und sah ihn genauso durchdringend an, wie ich das von ihm gelernt hatte. Leider erschien über seinem Kopf kein Schild auf dem seine Gedanken geschrieben waren, deshalb war ich nach meinem Möchtegern-Röntgenblickes genauso schlau wie vorher.
Zum Glück brauchte ich seine Gedanken gar nicht erraten, denn in diesem Augenblick war Alec mindestens genauso gesprächig, wie Becks an normalen Tagen. „Wegen Emma.", sagte er und drehte sich so zu mir um, dass nur noch eines seiner Beine in der Luft baumelte, während er das andere lässig auf den netzförmigen Eisenboden angewinkelt hatte. Alleine diese Antwort warf so viele Fragen auf, die ich am liebsten alle auf einmal von mir gelassen hätte, doch ich hielt mich zurück, damit der Junge vor mir weiter reden konnte. „Sie verbringt heute den ganzen Tag mit deinem Bruder und übernachtet auch bei euch. So nett Elias auch ist, sie ist doch meine kleine Schwester! Sie soll die Gegenwart eines Jungen nicht so sehr genießen, dafür ist sie noch viel zu jung." Ich konnte spüren, wie ernst ihm die ganze Sache war, doch für mich klang es einfach nur absurd. Die beiden waren doch nur befreundet, sie waren zehn verdammt! So sehr ich mich auch bemühte eine ernste Antwort zu geben, ich schaffte es einfach nicht – ich fing lauthals an zu prusten.
„Na vielen Dank für dein Verständnis.", meinte er sarkastisch – dieses Mal erkannte ich den Sarkasmus hinter seinen Worten sogar! – und griff nach seiner Tasche.
„Hey, ich will auch noch was.", sagte ich empört, als er tatsächlich einen weiteren Schluck der bitteren Flüssigkeit nahm.
„Du hattest genug, aber ich brauche dank dir mehr."
„Na gut, dann bin ich jetzt halt wieder ernst: Die beiden sind zehn, was denkst du denn, was die machen?! Werde bloß nicht so ein großer Bruder.", sagte ich und dachte daran wie das wohl in ein paar Jahren werden würde, wenn Emma tatsächlich alt genug für solche Sachen war.
„Ist denn einer, der sich einen Scheiß für seine Schwester interessiert lieber?", fragte Alec nun angriffslustig. Er spielte auf Lucas an und an den wollte ich auf keinen Fall denken.
„Ach halt die Klappe.", murmelte ich, während ich einen erneuten Versuch startete, nach der Flasche Wodka zu greifen; Dieses Mal gelang es mir.
„Du solltest mir zeigen, wie ich kämpfen kann! So etwas wie Nachhilfe, nur eben nicht geistig, sonder physisch.", meinte ich nach einiger Zeit der Stille. Alec hatte die Flasche schon wieder außerhalb meiner Reichweite versteckt und seit dem starrte ich einfach nachdenklich auf das Meer aus hunderten Glühwürmchen. Ich dachte bei meiner Bitte an Marie, dachte an die vielen Wege auf denen sie mir weh getan hatte und wollte endlich auch einmal etwas besser können als sie, eine Art Macht über sie ausüben, die sie sonst nur über mich ausübte. Es musste ein tolles Gefühl sein, einmal am längeren Hebel zu sitzen.
Merkwürdigerweise fand Alec meinen Vorschlag ziemlich lustig und brauchte ein bisschen, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte, ehe er sagte: „Bist du sicher?! Ich habe doch selbst nie irgendwo gelernt, glaub mir, da ist nicht viel Theorie bei, wenn ich jemandem eins auf die Nase gebe. Außerdem habe ich dich immer mehr als Pazifisten gesehen."
„Das ist mir egal und normalerweise bin ich auch gänzlich gegen jede Art von Gewalt, doch ich möchte mich wehren können, möchte dass du es mir zeigst! Die Idee ist spitze.", sagte ich und klang dabei wie ein trotziges Kind. Was tat der Alkohol bloß mit mir? Trotzdem nahm ich einen weiteren kleinen Schluck, die bittere Flüssigkeit fing sogar langsam an, mir zu schmecken, und versuchte noch einmal ihn argumentativ umzustimmen. „Ich habe dich beobachtet. Du gewinnst, obwohl du kaum sichtbare Muskeln hast. Du bist zwar nicht schlaksig, aber gegen die meisten Jungen in der Schule kommst du nicht an."
„Na, danke!", antwortete er sarkastisch und warf dabei wieder etliche Fragen auf. Was war denn los? Ich hatte doch nur Tatsachen aufgeführt. Doch mir blieb keine Zeit mir weiterhin Gedanken darüber zu machen, denn ich merkte, wie auf einmal alles um mich herum zu schwanken anfing. Das Gerüst auf dem wir saßen, wackelte um mich herum, doch irgendwie schien Alec es nicht zu bemerken, er blieb einfach ganz ruhig!
Wie schaffte er das denn? Mir war zwar klar, dass er sich und sein Auftreten sehr gut unter Kontrolle hatte, immer darauf bedacht war, nicht zu viele Emotionen zu zeigen. Doch ich war mir sicher, dass wir gerade dem unausweichlichen Tod in die Augen saßen und jeden Moment in das Meer aus Glühwürmchen fallen würden – ein bisschen Panik war da schon angebracht!
Hektisch hielt ich mich am Geländer fest, als könne ich dadurch gegen die Gesetze der Physik ankommen und unser Leben retten, doch das Gerüst schwankte weiterhin unausweichlich auf den Boden zu. Verdammt wieso konnte ich keinen klaren Gedanken fassen?! Lag das an der Panik, die meinen ganzen Körper erfüllte, oder doch einfach an dem Alkohol, der noch immer meine Sinne beherrschte?
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