18. Kapitel
„Hier.", sagte Alec als er mir an der Türschwelle das Glas übergab. Da Oma gerade nicht zuhause war, um Brötchen vom Bäcker zu holen und Lucas noch immer verschlafen in meinem Bett lag, beeilte ich mich, es wortlos an seinen Platz im hinteren Teil des Schranks zurück zu stellen. Den Jungen mit den eisblauen Augen ließ ich in der Zwischenzeit wortlos stehen.
„Danke.", sagte ich, als ich wieder an die Türschwelle kam, an der Alec unbeteiligt wartete. Er schaute sich um und schien ziemlich verwirrt, ehe er sich wieder mir zu wandte und mich eindringlich ansah. Ob er schon ahnte, warum ich so plötzlich exakt diese Größe brauchte? Hoffentlich nicht.
„Jetzt sind wir Quitt.", sagte er tonlos, ließ den Blick jedoch nicht von mir ab. Als er merkte, dass ich die Anspielung nicht verstand, holte er ein bisschen weiter aus: „Schließlich hast du mir geholfen nicht den ganzen Tag auf dem Schulhof liegen bleiben zu müssen.", sagte er und offenbarte mir seinen Schneidezahn, der an diesem Tag ein ganzes Stück kleiner geworden war. Seine eisblauen Augen sahen mich weiterhin an und ich versuchte ein Lächeln, doch es scheiterte kläglich. Zum Glück schien Alec meinen Versuch als gelungen zu werten und löste endlich seine Arme aus seiner gewohnten ablehnenden Haltung, bei der er sie vor der Brust verschränkte.
Es war das erste Mal, dass ich so einen Fortschritt bei ihm erkennen konnte. Wir fingen vielleicht doch noch an Freunde zu werden. Aber im Grunde mochte ich ihn doch gar nicht, doch wie konnte ich jemanden nicht mögen, der an einem Samstagmorgen so etwas Umständliches und mutmaßlich Irrationales für mich tat?
Er wollte sich gerade umdrehen, als ich einige Schritte von Oben hörte und mir etwas einfiel. „Warte kurz.", sagte ich und hielt Alec am Arm fest, um ihm zu signalisieren, wie ernst es mir war. „Hast du das Bild noch? Das Bild von mir... in... in der Umkleide? Kannst du es mir schicken?", fragte ich ernst und hoffte, dass er sich nicht gleich halb todlachen würde. Das stottern konnte ich wider erwarten nicht verhindern.
„Wieso willst du das haben? Ich denke nicht dass das eine gute Idee wäre.", sagte er nachdenklich, seine Arme haben sich kurz nach meiner Berührung wieder vor der Brust verschränkt.
Die Schritte von Oben wurden lauter und je mehr Dezibel das Geräusch erreichte, desto wütender wurde ich. Wieso hatten mich Lucas Worte gestern Nacht nur so hart getroffen? Mir fielen auf einmal so viele Worte ein, die ich meinem Bruder unbedingt vor den Kopf werfen wollte, aber dafür brauchte ich das Bild, das ich sowieso immer noch perfekt vor meinem Inneren Auge sehen konnte.
„Alec, ich meine es ernst. Ich brauche dieses Bild - Bitte.", bat ich so eindringlich, dass er merken musste, wie ernst mir die ganze Sache war.
„Aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.", murmelte er und zog sein Handy aus der Tasche. Mir fiel erst jetzt auf, wie bedacht sich der Junge mit den eisblauen Augen immer bewegte. Man erwartete ja schließlich von Jemandem, der sich oft prügelte, einen gewissen Grad an Robustheit, an Grobmotorik, doch auf Alec schien dieses Klischee beim besten Willen nicht zu zutreffen.
Als ich das Bild sah, kamen alle Erinnerungen wieder hoch und ich konnte nicht verhindern, einen leichten Kloß in meinem Hals zu fühlen. Ich fragte mich zwar, wieso Alec das Bild immer noch auf seinem Handy hatte, doch das traf vermutlich auf die Hälfte aller Oberstufenschüler zu, daher stand es mir gar nicht zu, ihn darauf anzusprechen.
„Danke.", murmelte ich, als mir das vibrieren meines Handys signalisierte, dass sich das Bild nun auch auf meinem Handy befand. „Ich denke du solltest jetzt gehen.", sagte ich tonlos, als mir klar wurde, was ich jetzt machen wollte, was ich jetzt machen musste.
Ich sah Alec an, dass er verstehen wollte, was genau meine Intentionen mit dem Bild waren, doch er fragte nicht nach. Das gehörte irgendwie zu dem unausgesprochenen Pakt zwischen uns - keiner stellte unangebrachte Fragen.
Ich schloss die Tür und befand mich wieder alleine mit meinem Bruder in dem großen Haus. Jetzt wo die Scham über meinen nächtlichen Ausflug beinahe verflogen war, da alle Spuren beseitigt wurden, konnte ich mich vollkommen auf die Worte von Lucas konzentrieren. Ich dachte an den Vorwurf, den er mir gemacht hatte, ich sei selber schuld. Dachte an das Bild und konnte meine Wut einfach nicht mehr an mich halten. Auf einmal kehrten alle schrecklichen Erinnerungen an meine Gefühle wieder zurück, ich dachte an die Narben auf meinen Beinen, die dank Marie jeder gesehen hatte, dachte an die vielen Tage in denen ich mich nackt im Spiegel betrachten musste und beinahe Pausenlos mit einem schlechten Gefühl herum lief. Und das sollte alles meine eigene Schuld sein?
Ich rannte so schnell ich konnte die Treppe nach Oben und riss die Tür zu unserem Zimmer auf. Lucas stand gerade vor seiner Tasche und schien nach irgendetwas zu suchen.
„Hier!", meinte ich wütend und zwang ihn auf mein Handy zu schauen. Lucas sah verwirrt aus und wusste wohl nicht, worauf ich hinaus wollte, also musste ich weiter ausholen: „Sieht das für dich irgendwie freiwillig aus?! Sieht das tatsächlich für dich so aus, als hätte ich es gewollt?!" Ich machte eine kurze Pause, doch Lucas schien noch immer Probleme zu haben, mich zu verstehen. Er stellte sich gerade hin und sah mich mit einer Falte zwischen seinen Augenbrauen an: „Was ist denn los mit dir?! Ich kenne das Bild doch.", sagte er. Ich merkte, dass er nicht länger, als unbedingt notwendig war, auf den Bildschirm geschaut hatte. Auch jetzt wich er meinem Handy mit seinem Blick aus, obwohl ich es ihm beinahe mitten ins Gesicht hielt.
„Was los mit mir ist?! Oh tut mir leid, aber wenn mir mein eigener Bruder sagt, ich sei selber schuld an diesem Bild und allem anderen, was Marie mit mir macht, dann macht mich das vielleicht ein bisschen wütend!", meinte ich sarkastisch und wurde mit jeder Silbe lauter. Ich konnte an Lucas Gesichtsausdruck sehen, dass er wohl einen ziemlichen Kater hatte - das wurde ja immer besser.
„Was hat Marie denn noch...", fing er mit zusammengekniffenen Augen an, doch ich unterbrach ihn sofort. Jetzt war ich dran! „Nein, hör auf mit mir zu sprechen! Ich will dich nicht hier haben, ich will dich nicht in meinem Leben - verstehe es doch endlich! Also gehe wieder an deine tolle Schule zurück und lasse mich mit meinem Leben alleine." Jedes Wort, das aus meinem Mund strömte, führte zu einem nächsten - ich konnte einfach nicht aufhören. Es tat so gut ihm meine Meinung zu sagen, dass ich gar nicht anders konnte, als weiter zu reden: „Aber du bist trotzdem hier und meinst über mich urteilen zu müssen, obwohl du nichts weißt! Du weißt nicht, was ich in den letzten Jahren alles durchmachen musste, bloß weil mein eigener Bruder beschlossen hatte, mich alleine zu lassen. Ich hasse dich dafür, ich hasse dich als meinen Bruder, ich hasse dich!" Ich war schon so weit, dass ich die Worte nur noch schrie. Ich wollte ihm weh tun, wollte ihm weh tun, wie er mir weh getan hatte. Ich ließ all meine angestaute Wut auf Lucas endlich an die Oberfläche schwimmen und schien jede Faser meines Körpers, wegen meiner Anspannung, genau zu spüren.
Lucas, der eindeutig noch mit einem mächtigen Kater zu kämpfen hatte, setzte zu einer Antwort an. Auch er sah lange nicht mehr so beschwichtigend aus, wie noch vor ein paar Augenblicken. Doch ich wollte ihn nicht hören. Das war mein Augenblick und in dem wollte ich kein Wort aus dem Mund meines Bruders hören, die mir Zweifel in meine Wut mischten und alles kaputt machen würden.
Ich tat das einzige, was mir einfiel: Ich lief weg. Ich rannte die Treppe herunter, stolperte dabei beinahe über meine eigenen Füße, fing mich wieder und öffnete die Haustür unter einem verwirrten Blick meiner Oma. Ich konnte in diesem Augenblick keine Rücksicht auf sie nehmen, ich musste einfach weg.
Langsam wurde mir klar, was ich da gerade getan hatte, welch schlimmen Worte aus mir heraus gekommen waren und ich musste mir darüber klar werden, ob ich jetzt erleichtert war oder mich noch schlechter fühlte. Vermutlich hatte Lucas doch recht gehabt. Ich war ein schlechter Mensch, vielleicht wiederfuhr Menschen einfach das, was sie verdient hatten und wenn sie schlecht waren, dann waren die Ereignisse die darauf folgten ihre Eigene Schuld.
Auf dem Hof erlebte ich eine ziemlich große Überraschung, die mich vorerst aus meinen Gedanken riss, denn das alte Auto von Alec stand noch immer an seinem Platz. Der Junge mit den eisblauen Augen war noch immer da! Mir wurde klar, dass er auf mich gewartet haben musste, als sich die Tür auf der Beifahrerseite öffnete und er mir von dem Steuer aus einen Kopfnicken zeigte, dass mir zu verstehen gab, ich solle einsteigen.
Um von hier weg zu kommen hätte ich vieles gemacht und zu Alec ins Auto zu steigen erschien mir nach der ganzen Aktion heute, nicht mehr halb so absurd, wie noch vor ein paar Tagen. Der schwarzhaarige Junge begrüßte mich mit den Worten: „Ich habe mir schon gedacht, dass du noch mal meine Hilfe gebrauchen könntest." Und ich kam nicht drum herum, ihm leicht zu zulächeln um meine Dankbarkeit aus zu drücken.
„Wo fahren wir eigentlich hin?", fragte ich nach einer Weile, in der wir einfach Schweigend nebeneinander gesessen haben. Meine Gedanken drohten gerade wieder einmal die Überhand zu erlangen, aber das wollte ich heute nicht zulassen, also beendete ich das Schweigen.
„Lass dich überraschen, ich habe da eine Idee. Keine Ahnung, ob es dir gefällt oder nicht, aber ich denke du brauchst mal eine Ablenkung.", sagte er, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. Es war merkwürdig ihn hinter dem Steuer zu sehen, schließlich war er kaum ein Jahr älter als ich, doch heute kam mir das eindeutig zu Gute.
Ich merkte, dass wir wieder zurück in die Stadt fuhren und fragte mich angestrengt, was er wohl geplant hatte. Was machte Alec Pecht normalerweise in seiner Zeit außerhalb der Schule?
Alec parkte seinen Wagen auf einem kleinen Hinterhof des Kinos, in dem ich vor kurzer Zeit erst mit Robin gewesen war. War es merkwürdig, dass ich trotz Robin heute lieber mit Alec herum hing?
„Was machen wir hier? Willst du mit mir ins Kino gehen?!", fragte ich vorsichtig. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass zwei Stunden in einem dunklen Raum meine Gedanken irgendwie von den heutigen Ereignissen ablenken würden, doch was blieb mir anderes übrig, als mit zu gehen?
„Indirekt schon, doch wir machen das ein bisschen anders, als du es vielleicht kennst.", sagte er mysteriös und warf damit unendlich viele Fragen in mir auf, die mich alle nur noch neugieriger machten.
Der Junge mit den eisblauen Augen ging voraus. Da wir uns auf dem Hinterhof befanden, war keine einzige Menschenseele zu sehen. Zum Glück war es zur Mittagszeit hell draußen, denn im Dunkeln hätte ich mich keinesfalls sicher gefühlt.
„Komm, hier rauf.", sagte Alec und trat auf ein paar leere Getränkekisten, die jemand auf dem Boden abgestellt hatte. Sie standen direkt an der Wand und somit war es ein leichtes über sie auf den großen Mülleimer und von da aus auf eine Art Garagendach zu klettern. Was tat ich hier eigentlich? So langsam dämmerte mir, was Alec vorhatte und ich war definitiv nicht damit einverstanden. Trotzdem folgte ich ihm, erst auf den nächsten Vorsprung und von da aus immer weiter, bis wir das Dach erreicht hatten.
„Und jetzt?", fragte ich leise, als wir so hoch oben standen, dass mich nur ein Schritt und der daraus resultierende Fall, von dem sicheren Tod oder zumindest von unerträglichen Schmerzen trennten. Die Erkenntnis darüber, dass ich bei einem Sturz aus dieser Höhe auf den harten Asphalt sterben könnte, fühlte sich gut an. Ich hatte die Macht und je näher ich mich an die Kante stellte, desto sicherer fühlte ich mich. Es war einfach unglaublich. Ich vergaß alles um mich herum, vergaß Alec der mich nur kurz berühren musste um mich von der Kante zu stoßen und ich vergaß Lucas, der vermutlich längst wieder in meinem Bett lag, um seinen Rausch auszuschlafen. Bald standen meine Zehen über die Kante, sodass ich mich nur nach Vorne lehnen musste, um das Gleichgewicht zu verlieren. Es war einfach magisch.
Leider endete der Moment plötzlich, als Alec die Stille zerschnitt: „Tut mir ja leid dich zu stören, aber wir müssen weiter." Er deutete auf eine kleine Luke, die uns den Weg nach unten und in das Gebäude ermöglichte.
Wenig später saß ich tatsächlich neben Alec Pecht auf einem kleinen Vorsprung über dem Projektor, der den fertigen Film an die große Leinwand warf. Der Film hatte noch nicht angefangen, doch trotzdem saßen wir im Schatten, sodass uns niemand sehen konnte. „Du machst das öfters, oder?", flüsterte ich begeistert. Mein Puls schlug seit der Nummer auf dem Dach so schnell wie schon lange nicht mehr und schien sich in nächster Zeit auch nicht beruhigen zu wollen. Die unausweichliche Möglichkeit erwischt zu werden, war einfach viel zu berauschend.
„Das eine oder andere Mal schon, ja. Aber bis jetzt hat diesen Weg noch niemand zu sehen bekommen.", sagte er ernst und ich verstand die Drohung in seinem Ton genau. Er sagte mir damit, dass es auch so bleiben sollte und dass ich meinen Mund über dieses kleine Geheimnis halten sollte. Ein bisschen überraschte es mich zwar schon, dass ich die erste war, der er das hier zeigte, doch ich hatte nicht vor, dieses Geheimnis zu veröffentlichen.
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