12. Kapitel
Ich entdeckte die Strähne, als ich mein Mathebuch aufschlug. Sie steckte direkt auf der ersten Seite und schien mich mit einer solchen Schadenfreude anzulächeln, dass ich am liebsten meine eigene Zunge abgebissen hätte. Wieso hatte ich nicht meine Klappe halten und die Scham über mich ergehen lassen können? Automatisch tastete ich nach meinem Pferdeschwanz und spürte sofort die Stelle, an der meine Haare ein ganzes Stück kürzer waren, als die Restlichen – da hatte ich, was ich verdiente. Es war meine eigene Schuld, schließlich hatte ich Marie selbst auf die Idee gebracht, ich hatte ihr eine neue Foltermethode auf dem Silbertablett serviert und sie hatte sich sofort bedient. Und das Ganze auch noch, ohne dass ich etwas gemerkt hatte.
Ich kam mir erbärmlicher vor, als noch vor einer Stunde und wollte nichts lieber als mich in mein Zimmer einschließen und mich von der freundlichen Stille verschlingen lassen. Doch stattdessen musste ich mich damit zufrieden geben, dass mir eine weitere Stunde mit dem Affen auf Drogen bevorstand und mein eigener Bruder ein Bild von mir gesehen hatte – oder es zumindest in nächster Zeit sehen würde – das in mir die Lust weckte eine Schere zu schnappen und all mein überflüssiges Fett am Körper abzuschneiden und die dabei entstehenden Schmerzen auch noch zu genießen.
„Samantha, kann ich Ihre Aufgaben sehen?", fragte Herr Riese laut genug, um mich aus meinen Gedanken zu reißen und sah mich mit strenger Falte zwischen seinen Augenbrauen an. Er wusste genauso gut wie ich, dass ich keine Aufgaben zuhause gemacht hatte. Wann sollte ich denn auch noch den Nerv finden, mich zuhause hinzusetzen und gewissenhaft meine Hausaufgaben zu lösen? Mein Leben war eine verdammte Achterbahn, die jeden Tag aufs Neue aus der Bahn zu fliegen drohte!
„Wie soll das bloß mit dir weiter gehen?!", fragte er und wendete sich dabei an die ganze Klasse. Er mochte mich nicht, aber da diese Einstellung auf Gegenseitigkeit beruhte, ging ich gar nicht erst darauf ein. Im Laufe der Zeit hatte ich gelernt, ihn sich einfach austoben zu lassen und nichts mehr auf seine Sticheleien gegen mich zu geben. Es brachte nun mal nichts. „Ich sage es euch, unsere liebe Samantha hier wird in ein paar Jahren nichts in ihrem Leben erreicht haben und aufgrund ihres mangelnden Wissens auf der Straße hausen.", meinte er provozierend, während er durch die Tischreihen ging und sich unbewusst immer wieder über die ekelhaften Haare an seinen Armen fuhr, die mehr an ein Tier als an einen Menschen erinnerten. Ein paar Schüler kicherten. Ich vermied den Blick zu Lucas, ich hätte es nicht ertragen zu sehen, wie er die Worte mit einem typischen Schmunzeln erwiderte.
Der Affe auf Drogen zog noch ein paar andere Schüler auf eine ähnliche, wenn auch nicht ganz so drastische Weise auf und machte sich einen Spaß aus seiner Position als Lehrer, während ich versuchte meinen Geist abzuschalten. Es war nur so verdammt schwer, wenn mein eigener Bruder, den ich am liebsten komplett aus meinem Gedächtnis gelöscht hätte, hinter mir saß und ich dauernd das Gefühl hatte, seinen Blick auf mir zu spüren.
Mein Handy vibrierte in der Hosentasche und alles andere war vergessen. Ein kleines Lächeln zauberte sich auf mein Gesicht, als ich las, was Robin mir geschrieben hatte: „Ich vermisse dich! Wollen wir uns nach der Schule treffen?"
„Hey, wie sieht der Plan für heute aus?", fragte ich, als ich den einzigen Menschen sah, der mir momentan ein paar unheimlich schöne Gedanken schenken konnte.
Robin ergriff sofort meine Hand und führte mich hinter eine Mauer, ehe er wortlos sein Gesicht meinem näherte und mich stürmisch küsste. Das hatte ich nicht erwartete, doch meine Überraschung verflog schnell, als ich mich dem Kuss hingab und meine Beine ein bisschen weicher werden ließ.
„Wie geht es dir?", fragte er später und schlenderte mit meiner Hand in seiner in eine Richtung, der ich kein erkennbares Ziel zuordnen konnte.
„Lucas ist wieder da.", sagte ich und wusste, dass diese Antwort genügte. Robin ahnte ganz genau, was die Rückkehr meines Bruders in mir auslöste. Ob es ihm ähnlich ging?
„Ich weiß.", antwortete er zaghaft und schien sich die nächsten Worte ganz genau zu überlegen. „Ich habe ihn heute Morgen davor bewahrt, in eine Prügelei mit diesem komischen Jungen verwickelt zu werden. Lucas dachte tatsächlich, dass er eine Chance gegen Alec Pecht haben könnte und hat ihn öffentlich herausgefordert.", witzelte Robin und schien über Lucas Unwissenheit wirklich amüsiert zu sein. Was war so lustig daran? Ich kannte beide, Alec und Lucas, doch ich fand es nicht im Ansatz komisch, dass beinahe eine Schlägerei zwischen beiden zustande gekommen wäre.
„Weißt du worum es bei ihrer Meinungsverschiedenheit ging?", fragte ich ernsthaft besorgt. Ich konnte Alec zwar nach wie vor nicht wirklich leiden, doch ich hatte schon einmal mit angesehen, wie er einen Jungen mühelos ins Krankenhaus befördert hatte. Damals haben seine Augen so hasserfüllt ausgesehen, dass ich es nicht schaffte mich zu bewegen. Ich dachte damals wirklich, er würde ihn umbringen. Seit dem Tag hatte Alec den Ruf als Schlägertyp wett und ich war, obwohl ich ihn nicht kannte, zum ersten Mal mit der gesamten Schule einverstanden. Der Junge hatte sich danach nicht mehr blicken lassen, manche sagen, er hätte die Schule gewechselt, andere jedoch meinten, er würde ab jetzt nur noch von zuhause aus unterrichtet werden, weil sein Trauma viel zu groß sei.
Robin zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.", sagte er unbeteiligt. „Ich war halt erst da, als Aggro-Alec schon ausgeholt hatte. Was genau dein Bruder gemacht hat, weiß ich leider nicht." Ich dachte an die Worte zurück, die Alec mir im Unterricht aufgedrückt hatte und wie er mich zu meinem Bruder ausfragen wollte. War Lucas jetzt in Schwierigkeiten?
„Danke, dass du dazwischen gegangen bist.", flüsterte ich leise und beugte mich zu Robin, um ihm einen leichten Kuss auf die Wange zu geben. Ich wollte mir nicht ausmahlen was passiert wäre, wenn die beiden Jungen sich tatsächlich geschlagen hätten. Lucas war bei weitem nicht schwächlich, aber wenn Alec einmal den Bezug zur Realität verlor, traute ich ihm vieles zu.
Eine Zeit lang wurde es still zwischen dem braunhaarigen und mir, doch keineswegs langweilig. Ich hatte mich immer noch nicht an die Berührung unserer Hände gewöhnt und auch die kleinen Pausen, zu denen er mich animierte um mich zu küssen, taten ihr übriges um die Stille zwischen uns zu vertreiben.
„Wo gehen wir eigentlich hin?", fragte ich nach einer Weile. Wir waren gerade in eine Wohngegend eingebogen, die ich noch gar nicht kannte. Normalerweise trieb ich mich nicht viel in der Stadt herum und kannte mich daher auch nicht wirklich aus.
„Stimmt ja.", meinte Robin darauf hin nachdenklich. „Du hast ja gar nicht mitbekommen, dass ich umgezogen bin." Wir gingen zu ihm?! Ich konnte nicht verhindern, dass eine leichte Panik in mir aufstieg. Ich wusste ganz genau was in Filmen immer passierte, wenn das Mädchen mit zu dem Jungen nach Hause ging und ich war mir zwar sicher, dass ich Robin sehr gerne hatte, aber trotzdem noch nicht bereit für das Ergebnis war, zu welchem es immer in den kitschigen Filmen kam. „Mein Vater hat eine Beförderung bekommen und wir konnten endlich aus der alten Bruchbude raus.", fuhr er stolz fort und schien nicht zu merken, dass mein Herz beinahe aus meiner Brust schlug. Ich musste mich wirklich zusammen reißen! Es war schließlich immer noch meine Entscheidung, ob ich mit Robin schlafe wollte oder nicht. Außerdem konnte ich ja wohl bei ihm zuhause sein, ohne gleich Sex zu haben!
„Das sieht schön aus.", sagte ich um mich abzulenken und starrte auf das große Haus vor meinen Augen. Es wurde von einem großen Garten verziert, in dem sich auch im Herbst noch wunderschöne Farben erstrahlten.
„Meine Mutter hat auch eine Menge Arbeit da rein gesteckt. Komm mit, ich möchte dir was zeigen.", er zog mich an seiner Hand durch die Haustür und ich fand mich in einem wunderschönen Eingangsbereich wieder, der eindeutig durch teure Ausstattung überzeugte. Wenn ich mich an die kleine Wohnung erinnerte, in der Robin damals mit seinen Eltern leben musste, war ich wirklich begeistert. Das war ein großer Fortschritt, aber vermutlich war sein Vater jetzt mindestens genauso wenig Zuhause, wie meiner – das war nun mal der Preis, den man für einen so schönen Lebensstil bezahlet. Aber Robin schien in keinster Weise traurig darüber, stattdessen führte er mich stolz herum und zeigte mir nicht nur die große Küche sondern auch alle drei Bäder, das Wohnzimmer mit einer riesigen Leinwand, die laut Robin „echtes Kinofeeling" vermittelte.
„Und das ist mein Reich.", sagte er, während ich ihm auf die Treppe folgte. Offenbar hatte er den gesamten Dachboden für sich alleine.
Das erste was ich entdeckte war ein großes Bett, dicht gefolgt von einem Schreibtisch, auf dem ziemliches Chaos herrschte und einem Bücherregal, das nur ein paar Büchern, die ich an einer Hand abzählen konnte, ein Zuhause bot. Am meisten angetan hatte es mir jedoch ein großes Bild, das direkt über seinem Bett hing und lauter imposante Städte zeigte.
„Das ist echt schön.", sagte ich und lächelte vorsichtig zu Robin herüber, der nicht halb so begeistert schien, wie ich in diesem Moment.
„Hier, das wollte ich dir schon die ganze Zeit zeigen.", sagte er und griff nach einem der wenigen Bücher, die ich in diesem Zimmer sehen konnte.
„Was ist das?", fragte ich neugierig, noch bevor er wieder bei mir angekommen war. Was wollte er mir nur zeigen? Als Antwort bekam ich nur ein breites Grinsen.
Als der Junge auf dem Bett Platz nahm, blieb mir nichts anderes übrig, als mich neben ihn zu setzen, um besser sehen zu können. Er schlug das Buch auf und griff nach den Bildern, die lose darin gesteckt hatten. Ich brauchte ein bisschen, um die Situation zu begreifen, die sich da auf dem Bild abzeichnete. „Das Baumhaus.", flüsterte ich begeistert und rutschte nun doch ein Stück dichter zu Robin, um das Foto noch genauer betrachten zu können. Er hatte tatsächlich ein Bild des Baumhauses gemacht, bevor es dem Sturm zum Opfer gefallen war!
Als er mir das nächste Bild offenbarte, konnte ich meinen Augen kaum trauen – das Bild besaß er noch?! Es zeigte Robin, Lucas und mich, wie wir mit vollen Süßigkeiten-Tüten vom Karnevalsumzug vor der Kamera posierten. Ich trug genau wie Robin und Lucas ein Piratenkostüm, obwohl meine beiden besten Freundinnen tagelang versucht hatten mich mit ihnen in eine Prinzessin zu verwandeln, doch ich wollte unbedingt genauso aussehen wie Lucas und sein bester Freund. Damals war ich höchstens acht gewesen und hatte einen riesigen Aufstand gemacht, als Papa mir trotzdem das Prinzessinnenkostüm gekauft hatte, bis er es umgetauscht und mich zu einem echten, harten Piraten gemacht hatte. Während ich heute darüber nachdachte kam ich mir ziemlich dumm vor, einfach so einen Aufstand zu machen – vor allem wenn man bedachte, wie viel Ärger unsere Väter eh schon mit mir und Lucas hatten – doch damals wollte ich alles dafür tun um genau wie mein Zwillingsbruder und Robin auszusehen und somit von ihnen als cool betrachtet zu werden. Meine Rechnung ging auf, denn den ganzen Tag lang hatten mich die beiden wie jemanden in ihrem kleinen Pakt behandelt und ich hatte damals so viel Spaß, wie schon lange nicht mehr.
Robin zeigte mir noch etwa ein Dutzend Bilder, die mich alle so stark zum grinsen brachten, dass meine Gesichtsmuskeln irgendwann anfingen zu schmerzen. Ich hatte zwar auch ein paar Bilder von damals, doch ein paar davon sah ich heute zum ersten Mal. Es tat wirklich gut, wieder an die schöne Zeit erinnert zu werden.
„Ich kann nicht glauben, dass du die noch alle hast.", hauchte ich fassungslos und löste mich vom letzten Bild um Robin anzusehen. Kaum trafen sich unsere Blicke überfiel mich so ein starkes Glücksgefühl, das gepaart war mit einer traurigen Nostalgie, dass ich die Gefühle nur auf eine einzige Weise in die unendlichen tiefen des Nichts schicken konnte – ich fing an Robin zu küssen.
ontenٻ
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