#35 Tom & Mirko: Bluffing

Tom

Bin ich jetzt ein Held oder was? Immerhin habe ich diesem dunkelhaarigen, dunkeläugigen, knuffigen Jungen namens Mirko aber mal sowas von geholfen.

Aber im Ernst, ich hoffe er hat nicht gesehen wie ich danach gezittert habe. Denn diese mutige Version von mir kommt nur selten zum Vorschein. Eigentlich nur dann, wenn ich meine jemanden der mir wichtig ist verteidigen zu müssen oder mich die Behandlung eines anderen derart triggert, dass ich so wütend werde, dass meine Angst auf der Strecke bleibt.

Und natürlich triggert mich eine Szene wie sie mir in meiner Schulzeit regelmäßig widerfahren ist enorm.

Zu meiner Überraschung kommt Mirko die ziemlich steile Treppe in den ersten Stock ohne Hilfe hoch. Ich lotse ihn durch den Flur in mein Wohnzimmer und setze ihn auf mein Sofa. Er macht einen etwas eingeschüchterten Eindruck, aber mein Gefühl sagt mir, dass, bevor das Mobbing gegen ihn begann, er ein eher frohsinniger Zeitgenosse war. Wie lange er das wohl schon durchmacht?

Ich beuge mich zu ihm runter und frage: "Magst du das Shirt mal ausziehen?" Etwas erschrocken guckt er mich an und schüttelt den Kopf. Ich grinse: "Du denkst doch nicht, dass ich dich mit 'solchen' Absichten hier ausziehen will?" Okay, so wie er jetzt rot wird ist er schon süß. "Du bist verletzt, ich will mir das angucken. Du kannst auch ein Shirt von mir bekommen dann." Jetzt nickt er und vorsichtig ziehe ich ihm das Shirt über den Kopf. Das was ich jetzt aber sehe übertrifft meine schlimmsten Erwartungen. Sein gesamter Oberkörper ist von Hämatomen übersäht und sein Rücken sieht aus, als hätte man ihn ausgepeitscht. Auch wenn die schwersten Verletzungen offenbar schon versorgt wurden. "Uff" entfleucht es mir und Mirko schaut beschämt zu Boden. "Waren die das?" frage ich und er nickt. "Das ist kein Grund sich zu schämen" versichere ich ihm "wie lange geht das schon?" Mirko schaut mich an und ich sehe, dass er seine Tränen nicht mehr lange zurückhalten kann: "Seit den Osterferien."  "Das tut mir leid" sage ich und mit etwas Trotz in der Stimme entgegnet er: "Kannst du ja nichts für." "Was sagen deine Eltern..?" hake ich vorsichtig nach und Panik macht sich in seinem Gesicht breit. "Die wissen nichts! Das geht nicht, mein Papa..." und da unterbricht ihn sein Schluchzen und die Tränen fließen. Ich setze mich neben ihn auf das Sofa und lege vorsichtig meinen Arm um ihn und halte ihn einfach während er seine Verzweiflung aus sich herausweint. Und währenddessen wird mir eines ganz klar: Ich werde ihm helfen, ich werde nicht zulassen, dass ihm dasselbe wie mir widerfährt. Auch wenn der Kleine tough ist, er wird daran kaputt gehen.

Als er sich wieder beruhigt hat frage ich: "Hast du Schmerzen?" Als Antwort seufzt er nur. Aus dem Badezimmer hole ich meinen Arzneikasten. Mit einem Glas Wasser reiche ich ihm eine Ibu800: "Schluck das, dann wird es besser." Schnell spült er es runter. "So und jetzt schaue ich mir deine Wunden an!" bestimme ich. Mit Wundesinfektion und Klammerpflaster kümmere ich mich um seine geplatzte Lippe, dann um die Abschürfungen an seinen Armen und dem Oberkörper. Was nicht mit Pflastern zu versorgen ist behandle ich mit Sprühpflaster. Am Anfang gibt Mirko noch Schmerzenslaute von sich, aber bald setzt die Wirkung des Schmerzmittels ein und er wird ruhiger. Als ich fertig bin hole ich ein weiße Shirt von mir und helfe ihm es anzuziehen. So wie er da in meinem ihm etwas zu großem Shirt mit hängenden Schultern dasitzt sieht er wirklich zum Anbeißen aus und Mann möchte sofort einen Schildwall um ihn herum anlegen der ihn vor der bösen Welt beschützt. Cute isser ja schon, aber way too young.

"Du bist echt auch schwul?" kommt eine zaghafte Frage von ihm. 

Mirko

Erst habe ich doch tatsächlich gedacht, er will mir an die Wäsche, dann habe ich vor ihm geheult wie ein Schloßhund. Peinlicher gehts nicht...

Vom Aussehen her könnte man denken er geht noch zur Schule, aber die fette Karre und die eigene Wohnung sprechen dafür, dass er doch ein wenig älter ist. Nachdem er  sehr sorgfältig alle meine Läsionen verartztet hat und mir sogar ein Shirt von ihm gegeben hat, nehme ich all' meinen Mut zusammen - und stelle eine wirklich dumme Frage: "Du bist echt auch schwul?"

Er lächelt mich aber nur gewinnend an: "Oh ja, aber sowas von!" Irgendwie vermittelt er mir ein Gefühl von Sicherheit und da ich neugierig bin frage ich weiter: "Was machst du beruflich?" Leise lachend erwidert er: "Ich studiere...." Mit so einer großen Wohnung und der Karre? Offenbar sah er mir an, dass ich mich wundere, denn er fährt fort: "Nee keine reichen Eltern, Nebenjob und reichen Freund." "Wissen deine Eltern...?" will ich wissen. "Möglich, aber ich habe mich noch nicht ausdrücklich geoutet bei denen" antwortet er.

"Was meinst du, lassen die dich jetzt in Ruhe an deiner Schule?" will er plötzlich wissen. Schön wäre es, aber woher soll ich das wissen? Ich zucke mit den Schultern. "Muß ich also noch ein wenig mehr Eindruck hinterlassen.." schmunzelt Tom. Fragend schaue ich ihn an: "Wie denn - und hast du keine Angst, die sind ja mehrere?" Sein Blick wird ernst: "Oh doch, natürlich habe ich Angst, wenn ich wütend bin bluffe ich nur gut - und wenn mir egal ist was andere denken, kann ich meine Angst gut mit Arroganz kaschieren." Nach einer kurzen Pause meint er: "Hast du nicht gesehen, wie meine Hände gezittert haben hinterher? Bin nur froh, dass diese Hirnies zu blöd waren um zu begreifen, dass ich es nicht mit denen allen auf einmal hätte aufnehmen können." Deswegen hat er also gezittert! "Aber um deine Frage zu beantworten, ich habe da eine Idee..." dabei grinst er wirklich fies bevor er fragt: "Wann hast du morgen die erste Stunde?" "Um acht" antworte ich, was hat er nur vor? "Dann werde ich dich morgen in die Schule fahren!" bestimmt er. "Was soll das bringen?" frage ich irritiert nach, doch er grinst schon wieder: "Wart's ab...." Was er wohl vor hat?

"So, bevor ich dich jetzt nach Hause fahre, bekomme ich deine Handynummer!" beschließt er. Ich zögere, doch er bestimmt resolut: "Du wirst jetzt nicht laufen - und wie sollst du mich erreichen, damit ich diese Qualle wieder für dich an die Wand klatsche?"  Qualle für Mehmet? Auch nicht schlecht. "Ich nenne ihn Michelinmännchen" kichere ich. "Passt auch" lacht er trocken.

So kommt es, dass ich von ihm nach Hause gefahren werde. Und er als "Edler Ritter Tom" in meiner Kontaktliste eingetragen ist. Von ihm natürlich.

***

Pünktlich um 7:40 Uhr warte ich an der Ecke vor unserem Haus und nach nicht einmal dreißig Sekunden hält der schwarze BMW von Tom vor mir.  Schnell steige ich ein und während Tom wieder losfährt schaue ich ihn mir an. Er trägt ein schwarzes Jacket, schwarzes Shirt, schwarze Hose und schwarze elegante Lederschuhe. An seinem linken Arm trägt er ein aus goldenen Fäden geflochtenes Armband, das ziemlich teuer aussieht und seine Augen verstecken sich hinter einer extravaganten Sonnenbrille von Burberry. Insgesamt wirkt er ein bisschen unheimlich.

Während der Fahrt fragt er mich aus: "Haben die dich häufig geprügelt?" "Ja, fast täglich" antworte ich bedrückt. "Gab's irgendwelche besonderen Vorkommnisse?" "Ja, einmal haben sie mich mit einem Stück Gartenschlauch geprügelt und ich lag mindestens eine Doppelstunde bewußtlos in irgendeiner Ecke!" sage ich mit tonloser Stimme. "Lehrer, andere Schüler?" fragt er knapp, aber ich weiß worauf er hinaus will: "Entweder haben die nichts gemerkt oder es ignoriert". "Na toll" seufzt er. "Wie heißt du mit Nachnamen, wie alt bist du, welche Klasse?" "Folkerts, 16, 10. Klasse" antworte ich ebenso knapp. Warum will er das alles wissen?

In der Straße meiner Schule angekommen mache ich mich zum Aussteigen bereit, doch Tom biegt schwungvoll nach links in die Einfahrt zum Gelände der Schule ein.  Es ist jetzt kurz vor acht und entsprechend viele Schüler sind auf dem Weg, der zu unserem Schulhof und dem Haupteingang des Schulgebäudes führt, unterwegs. Tom bremst kurz und drückt zwei Knöpfe in der Mittelkonsole und kurz darauf ertönt eine Sirene und blaues Blitzlicht wird von den Leuten und Wänden vor und neben uns reflektiert. "What the fuck!" entfährt es mir, während ich beobachte wie Menschen vor uns hastig zur Seite springen. Tom schaltet die Sirene wieder aus und fährt auf den Schulhof und dann einen großen Bogen bevor er direkt vor dem Haupteingang ankommt. "Ich hatte dir doch ein wenig mehr Eindruck versprochen" grinst er mich an. Ich bin immer noch völlig perplex als Tom meint: "Zeit zum Aussteigen! Schreib mir wann du Schulschluss hast!" Während ich die Autotür öffne sehe ich aus dem Augenwinkel den Schuldirektor mit hochrotem Kopf die Treppe herunter stürmen. "Scheiße, der Direx!" stoße ich hervor. "Nur keine Panik" beruhigt mich Tom und steigt energisch aus dem Wagen aus.

Der Direktor stürmt direkt auf Tom zu: "Was machen Sie mit dem Auto auf meinem Schulgelände, dass...." "Guten Morgen Herr Direktor!" unterbricht Tom ihn, nur um dann mit süffisanter Stimme fort zu fahren: "Das ist ihnen aber schnell aufgefallen, wenn man bedenkt, dass Sie und ihr Lehrkörper seit Monaten gekonnt übersehen, dass Herr Folkerts auf genau diesem Gelände regelmäßig zusammengeschlagen wird oder auch schon einmal unbemerkt bewußtlos herumliegt." Der Mund des Direx geht auf und wieder zu, wie bei einem Fisch der plötzlich auf dem Trockenen liegt. "Aber deswegen können Sie doch nicht einfach..." keift er wieder los und erneut unterbricht ihn Tom, dieses Mal allerdings mit einer eiskalt-arroganten Stimme: "Sie sehen ja, dass ich kann und glauben Sie mir, ich kann noch ganz andere Dinge!" Nun spiegelt sich Verunsicherung im Gesicht des Direktors: "Ja was wollen Sie denn?" "Nicht viel, eigentlich möchte ich nur sicherstellen, dass Sie und ihre Mitarbeiter ihren Job machen und dafür sorgen, dass Herr Folkerts hier in einem sicheren Umfeld seiner Schulpflicht nachkommen kann." "Und wer sind Sie?" blöckt der Direx wieder los. "Ich vertrete hier die Interessen derer, die ein Interesse am Wohlergehen von Herrn Folkerts haben. Wenn Sie daran ebenfalls Interesse zeigen und beispielsweise Ihrer Aufsichtspflicht nachkommen, dann werden Sie auch in Zukunft wenig mit uns zu tun bekommen" äußert Tom sehr kühl und  schaut den Direktor mit gelangweilter Miene an. "Ich rufe jetzt die Polizei!" verkündet der Direx entschlossen. "Das können Sie selbstverständlich machen" entgegnet Tom ihm unbeeindruckt "aber ob eine Verurteilung wegen mehrfacher fahrlässiger Körperverletzung und eine Schmerzensgeldklage gegen Sie persönlich, andere Lehrer hier und diese Schule wirklich gut für ihren Beamtenstatus und ihre weitere Karriere ist? Mehr als 90 Tagessätze sind da schnell erreicht." Es sieht so aus als würde der Direktor nun doch ein wenig blaß um die Nasenspitze. "Im übrigen, wir sind hier in einer liberalen und progressiven Stadt" fährt Tom unbekümmert fort "die Medien hier finden durch die Schulleitung geduldete homophobe Gewaltexzesse sicherlich hochinteressant." Nun rudert der Direktor heftig zurück: "Aber, man kann doch über alles vernünftig reden...." "Selbstverständlich" entgegnet Tom und wirkt plötzlich äußerst charmant "aber wenn Sie dafür Sorgen, dass Herr Folkerts hier wieder ohne Angst vor Gewalt herkommen kann, sehen Sie mich nicht wieder noch müssen Sie mit mir reden!" Dann dreht er sich zu mir: "Soll ich mitkommen oder kommst du alleine in die Klasse?" "Danke, geht schon!" lächele ich ihn an.  "Einen schönen Tag noch Herr Direktor" flötet Tom mit samtener Stimm, dann steigt er in seinen Wagen und verlässt das Schulgelände.

Was war denn das für ein krasser Auftritt? Ich glaube mein Direx hat jetzt sogar ein bisschen Angst vor mir!

Der Direktor guckt unsicher zu mir, Unmengen an Schülern und auch Lehrern stehen herum und gucken verwirrt zu uns. Ich fange an zu grinsen, hebe meinen Kopf und steige ohne mich umzudrehen die Treppe hinauf und gehe in meinen Klassenraum. Hinter mir höre ich wie das Gerede anhebt, es brummt wie in einem umgestürzten Bienenstock. Als ich mein Klassenraum betrete ist es jedoch plötzlich sehr still. Die Jungs schauen mich verunsichert an, die Mädchen hingegen eher neugierig.
Mit einer guten Viertelstunde Verspätung hastet Frau Sailfelder in den Raum. Sie mustert mich mit einem merkwürdigen Blick bevor sie anhebt: "Bon jour! Entschuldigen Sie die Verspätung, ich musste noch kurz zum Direktor!" Ach, warum das denn wohl? Ich kann mir ein triumphierendes Grinsen nicht verkneifen als ich ihren Blick erwidere.

In der nächsten Pause wird zwar viel getuschelt und in meine Richtung geglotzt, aber ich höre weder blöde Sprüche noch will mir jemand ans Leder. Plötzlich jedoch kommt Lisa aus der Klassenstufe über mir mit zwei Freundinnen zu mir hergelaufen. Was wird das jetzt? Verunsichert schaue ich sie an, als sie vor mir stehen, aber alle drei lächeln mit freundlich an.

"Hallo Mirko" fängt Lisa an "darf ich dich was fragen?" Ich nicke und sie fährt fort: "Der süße Typ da, der unseren Direx heute so cool rund gemacht hat, ist der dein Freund?" Schön wäre es denke ich, erwidere aber ein wenig verlegen "Nein...." bevor ich leise hinzufüge "...leider nicht!" "Oh, ihr wärt aber ein süsses Paar" schwärmt Lisa sofort und  fragt dann "bekommen wir seine Nummer?" Bitte was? "Nur weil er nicht mein Freund ist, ist er noch lange nicht 'ne Hete" grinse ich sie an "aber ich kann Tom mal fragen, ob ich euch seine Nummer geben darf." Lisa rollt dramatisch ihre Augen und meint: "Tja, alle tollen Typen sind vergeben oder schwul." "Oh, danke für das Kompliment." erwidere ich lachend. Die drei Mädchen lachen mit und ich stelle fest, wie schön es ist, wenn mal wieder mit mir und nicht über mich gelacht wird. "Er heißt also Tom?" fragt Lisa und dann nickt sie zum dem Pulk Mädchen hinüber von dem aus die drei zu mir herüber kamen "Komm' mit, du musst uns alles erzählen!" Vorsichtig stupsen mich die drei in die richtige Richtung. "Oh ja gerne" freue ich mich und etwas leiser setzte ich nach "es tut gut, nicht mehr ganz alleine herumzustehen." Lisa schenkt mir ein strahlendes Lächeln und legt ihren Arm um meine Schultern: "Du bist jetzt nicht mehr alleine, du hast jetzt uns Cutie!"

Und ganz plötzlich fühlt sich meine Zukunft nicht mehr so düster an wie gestern noch. Ich stehe mitten unter den Mädchen welche die homophoben Wichser meiner Klassenstufe nur zu gerne flach legen würden, wir lästern über die Jungs und alle verhalten sich mir gegenüber als wenn wir schon immer befreundet wären. Statt mich mit den Trotteln meiner Klassenstufe herumzuschlagen, bin ich plötzlich akzeptiert unter den coolen Girls der Jahrgangsstufen über mir. Wenn das jetzt ein Traum ist, lass' mich bitte nicht aufwachen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top