#192 Jérôme & Tom: Kindermund

Jérôme

Drei Tage nachdem ich ihn zu meinem Geburtstag eingeladen habe ist Tom wieder bei mir.
Kaum, dass wir uns begrüßt haben wird er hibbelig und dann platzt es förmlich aus ihm heraus:
"Ich mach's!"
Fragend blicke ich ihn an und verstehe zunächst nicht wovon er rede, was er nun auch zu bemerken scheint: "Deine Geburtstagsfeier. Ich komme. Gerne."
Ob er die Zusage auch so versteht wie ich die Einladung?
"Ich hatte erwähnt, dass meine Schwester mit den Kindern da ist?" hake ich vorsichtig nach.
"Habe ich mitbekommen" stellt er fest, "du möchtest, dass ich sie kennenlerne."
Er hat die Zusage so verstanden wie ich die Einladung, sage ich mir und ein Gefühl ungeahnter Euphorie durchströmt mich.

.

Tom

Nach meiner Zusage begann Jérôme in den folgenden Wochen mich mit Aufmerksamkeiten und Geschenken zu überhäufen, was darin gipfelte, dass er anfing nach einer Wohnung in seiner Nähe zu suchen, welche er für mich kaufen könne.
Während ich die kleineren Geschenke durchaus genoss, ging mir das zu weit. Da ich aber nicht wusste wie ich das Ablehnen sollte ohne unhöflich zu wirken ließ ich mich tatsächlich auf diverse Besichtigungen mitschleppen, bei denen ich dann zum Leidwesen der jeweiligen Makler so lange an den Wohnungen herummäkelte bis Jérôme überzeugt war, dass die nichts taugen.
Die Zeitspannen die ich bei und mit ihm verbrachte wurden dabei immer länger und länger.
Bis ich dann Anfang Juli mit meiner Mutter und meinem Bruder in die Pyrenäen aufbrach.

Eine Reise die meiner Beziehung zu meiner Mutter wirklich gut tat.
Nicht nur, dass ich auf dem Hinweg ihr eine mehrstündige Stadtrundfahrt durch Paris samt Spaziergang um den Eiffelturm ermöglicht habe und dann eine Übernachtung in Chartres samt Besichtigung der dortigen Kathedrale. Nein, auch nachdem wir meinen Bruder bei seinem Kletterkurs in den tiefsten Pyrenäen abgesetzt hatten, hatten wir drei Wochen Zeit und sind mit dem Auto einmal um das Gebirge herumgetingelt. Von den Stätten der Katharer über Carcassonne und Lourdes bis Biarritz, dann via Pamplona und Zaragoza bis nach Barcelona und von dort über Andorra wieder zurück um meinen Bruder aufzugabeln.
Übernachtungen in einfachen Pensionen und Hotels, aber auch im Zelt auf dem Campingplatz waren mit vielen lustigen Szenen verbunden. Das Eintauchen in die Geschichte und Kultur der drei Länder auf unserem Rundkurs war etwas, was meine Mutter ebenso sehr begeistert wie mich und auch sonst erlebte ich neue Seiten an ihr.
Da war die dreispurige Nationalstrasse von Lourdes Richtung Biarritz. Meine Mutter fuhr und ihre erste Frage war gleich: "Wofür ist dir Spur in der Mitte?"
"Zum überholen Mama" erklärte ich.
"In beide Richtungen?" fragte sie.
"Ja" sagte ich und da war meine Mutter schon in der mittleren Spur.
"Wer weicht aus wenn einer entgegen kommt?" wollte sie dann wissen. Amüsiert meinte ich: "Wer zuerst Angst hat..."
Nun, ich weiß nicht ob die uns entgegen kommenden Franzosen Angst hatten, als ihnen ein Auto mit deutschem Kennzeichen und einer weißhaarigen Frau am Steuer entgegenkam, Fakt ist aber, dass mein Mutter bis Pau auf der mittleren Spur durchrauschte...
Auch dein Fahrstil liegt doch irgendwie in den Genen.

Während ich Jérôme von alledem erzähle, sitzen wir beim Sushi und ich merke plötzlich, dass ich ihn in den drei Wochen doch irgendwie vermisst habe.
Nicht meine Ankunft in meiner Wohnung in Siede, sehr wohl aber das Betreten seiner Wohnung vorhin hat bei mir ein Gefühl von 'wieder nach Hause kommen' ausgelöst.

Und so platze ich plötzlich und für ihn völlig unerwartet mit "Du solltest meine Familie kennenlernen, erstmal meine Mutter!" heraus.
Niemals werde ich den Blick vergessen den er mir nun zuwirft, erst die totale Überraschung und dann das diese unbändige Freude die in seinen Augen aufstrahlt.
Erst dann wird mir so richtig klar, dass ich ihm endgültig bestätigt habe, was mir bis zu diesem Moment selbst noch nicht so richtig klar geworden war: Dass ich ihn längst als meinen Freund vorstellen kann, dass ich gerne bei ihm bin, dass ich mich auf seinen Geburtstag und seine Familie freue und dass ich mir vorstellen kann, mein Leben mit ihm zu verbringen oder es zumindest einmal zu versuchen.

"Das wäre mir eine richtige Freude. Wir laden sie nach meinem Geburtstag zu uns zum Essen ein, ich koche" begeistert sich Jérôme sofort, "gibt es etwas das sie nicht isst, kommt sie alleine..."

Es fühlt sich richtig an, denke ich, dieses Mal kein Versteckspiel, egal ob das mit Jérôme und mir etwas wird, ich werde ihn und uns vor niemandem mehr verstecken.

****

An Jérômes Geburtstag habe ich die Nacht vorher nicht bei ihm übernachtet, was mich aber nicht so sehr überrascht hat, war doch seine Familie bei ihm zu Besuch.

Allerdings, ohne ihn und sonst jemanden bei mir jetzt zu diesem Restaurant zu kommen, es verunsichert mich.
Vielleicht auch weil ich weiß, dass da seine Familie, seine Freunde und Kollegen anwesend sind.
Ja, ich sorge mich darum, was die von mir halten und über mich denken - und das weniger wegen mir, sondern weil ich nicht will, dass ich Jérôme blamiere.

Entsprechend zaghaft betrete ich den Italiener in dessen Separée Jérôme diesen Abend feiert.
Wie das bei separaten Räumen so ist, entdecke ich weder ihn noch eine Feier als ich in dem Ristorante angekommen bin.
Super, jetzt muss ich noch jemanden ansprechen...
Entschlossen wende ich mich an einen der huschigen Italiener der hier als Kellner fungiert: "Guten Abend, ich suche Doktor Ewers, er feiert seinen Geburtstag hier?"
"Si, die sind hinten im Festzimmer" erwidert der und als er meinem fragenden Blick bemerkt, ergänzt er dann doch noch: "Gerade durch die Tür wo Festzimmer drauf steht..."
Okay, das sollte ich jetzt finden denke ich und erwidere: "Grazie..."

Als ich dann die Tür öffne und in die Raum trete bemerke ich sofort, dass ich offensichtlich der Letzte bin.
Alle, wirklich alle, drehen sich zu mir hin und um, aber anders als damals in Bangkok weiß ich sofort, dass diese Aufmerksamkeit mir gilt – und es ist mir sehr unangenehm.
So auf dem Präsentierteller zu stehen und von mindestens einem Dutzend Menschen, die ich weder kenne noch einschätzen kann, mit unverhohlener Neugierde angestarrt zu werden verwandelt mich im Nu wieder in den schüchternen Jungen von dem aus ich mich nie wirklich weiter entwickelt habe.
Jérôme aber ist aufmerksam genug – und kennt mich scheinbar schon gut genug – um sofort aufzuspringen, zu mir zu eilen und mich mit einer Umarmung aus meiner Erstarrung zu holen.
"Ich freue mich wirklich so sehr, dass du hier bist" flüstert er mir ins Ohr.
Als er sich wieder von mir löst halte ich noch seine Hand fest und sage lauter: "Alles Gute zum Geburtstag – und danke für die Einladung!"

Er fasst mich an der Schulter und führt mich zu einer Frau mit drei Kindern. Wenn das seine Schwester ist, ist sie seine ältere Schwester, denke ich.
Mit den Worten "Das ist Thomas" stellt er mich vor und aus den Reaktionen der vier Menschen, erkenne ich, dass sie zumindest aus Jérômes Erzählungen schon von mir gehört haben.
Er hat seiner Schwester von dir erzählt! Für einige Sekunden nimmt diese jähe und unerwartete Erkenntnis mein ganzes Denken ein, dann holen mich Jérômes Worte aus meiner kurzen Trance: "Meine Schwester Sigrun und ihre Kinder Lennart, Leonie und Lorenz."
"Sehr erfreut" sage ich während ich Sigrun zur Begrüßung die Hand gebe und den beiden älteren der Kinder, die eher verhalten auf mich reagieren, ein kurzes "Hallo" zuwerfe.
Der jüngste, ich schätze ihn auf vielleicht sechs Jahre alt, hat da weniger Berührungsängste, denn er schaut mich aus großen Kinderaugen erwartungsvoll an und meint dann voller Ernst: "Du bist also der vielleicht mal unser Onkel Thomas wird?"
An den Blicken seiner Geschwister und dem etwas verlegenen Lachen seiner Mutter erkenne ich, dass er das so sicher nicht hätte sagen sollen. Was bitte hat Jérôme schon über Zukunftspläne mit mir seiner Schwester und seinen Neffen und Nichten erzählt? wundere ich mich still und merke dennoch wie ich erröte.
"Das musst du schon deinen Onkel Jérôme fragen kleiner Mann" erwidere ich freundlich, "übers Heiraten haben wir nämlich noch nicht geredet!"
Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Jérôme nun seinerseits errötet während der Kleine einen Stoß von seiner Schwester erhält die ihm zuraunt: "Lorenz, so was fragt man nicht!"

Daraufhin stellt er mich erstmal seinen Arbeitskollegen und Freunden vor. Dass die scheinbar auch alle schon zumindest einmal meinen Namen gehört haben überrascht mich nun weniger nachdem ich erfahren habe, dass mich sein jüngster Neffe schon als zukünftigen Onkel sieht.
Das wird ein Heimspiel für mich denke ich, während das letzte bisschen Anspannung von mir abfällt. Allerdings sind die Anwesenden auch alle sehr freundlich zu mir. Neugierig, aber nicht auf die unangenehme Art und Weise. Eines jedoch wird mir sehr schnell klar: Jérôme muss sehr viel über mich geredet haben - und das nicht erst seit gestern.
Das macht mich ungeheuer stolz und erfüllt mich mit großer Zufriedenheit. Auch weil mir klar ist, dass nach heute Abend mich jeder von Jérômes Seite als Jérômes festen Freund betrachten wird.
Es fühlt sich so an, wie eine bestandene Prüfung. Eine, deren Ergebnis ein beglückendes Gefühl auslöst.
Das sich noch steigert als seine Schwester uns über Weihnachten zu sich in die Schweiz einlädt.
Jérôme ist da zwar ohnehin über Weihnachten regelmäßig, aber sie erstreckt die Einladung ausdrücklich auf mich und mir ist die nonverbale Botschaft dessen sehr wohl bewusst: Ich bin willkommen in der Familie. Zumindestens solange ich Jérôme glücklich mache.
Aber wo ist auch schon jemand willkommen der ein Familienmitglied unglücklich macht? Eben..

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