#101 João, Tom & Mirko: Niemand

João

"Weißt du, wenn ich dich so erlebe und dann alle deine Freunde und Connections und die sind alle so erfolgreich, Filmemacher, Filmstars, Abgeordnete, Lords, Professoren und in zehn Jahren sind die bestimmt Minister, CEOs, Oscar-Gewinner und sowas....
...und dann ich..." aus Toms Augen spricht der Selbstzweifel während es wie ein Monolog aus ihm herausbricht, "...ich bin ein Niemand dagegen. Die sind erfolgreich, reich, schön, intelligent und mächtig, du bist erfolgreich, reich, schön, intelligent und mächtig, was bin ich schon?" Er schaut bekümmert zu Boden: "Ich schaffe wahrscheinlich nicht mal 'nen bemerkenswerten Abschluss meines Studiums. Wenn denn überhaupt..."
Unsicher huschen seine Augen herum und suchen meine Augen, mein Gesicht, dann fährt er fort: "Ich frage mich dann immer: Wieso ich?"

"Zweifel nicht immer an dir selbst" erwidere ich, "du bist ein besonderer Mensch. Erstens, weil ich dich liebe und zweitens, weil du ungeheuer loyal bist und vor allem ungeheuer hilfsbereit.
Du leistet enorm viel in dem du für andere da bist. Für mich, oder für Mirko oder auch Marco beispielsweise.
Die Beiden wären ohne dich viel unglücklicher, ich auch...."

Mit leuchtenden Augen schaut er zu mir auf, saugt geradezu gierig auf, was ich über ihn zu sagen habe.

"Und Drittens: Du inspirierst andere Menschen. Auch wenn du das vielleicht garnicht merkst, aber du kannst dich enorm für die Ideen und Anliegen anderer begeistern und das fühlt sich gut an. Und dann gibst du vielen Dingen in meinem Leben einfach einen Sinn. Vieles bei dem ich mich früher immer gefragt habe, warum ich das eigentlich mache, ergibt Sinn, wenn ich es für uns mache." Monologe kann ich auch, trotzdem blicke ich jetzt forschend zu Tom in der Hoffnung, er habe verstanden was ich ihm sagen will.

Dieser schaut nachdenklich, dann plötzlich erhellt sich seine Miene und ein verlegenes Lächeln huscht über sein Gesicht: "Wenn man dich so reden hört, dann habe ich wohl doch auch Vorzüge..."

"Tom, ich liebe dich, weil du besonders bist, nicht obwohl!" versichere ich ihm.

"Schon deswegen bin ich dir völlig verfallen" murmelt der, muss dann aber doch grinsen.
"Na siehste, nicht immer Trübsal blasen..." zwinkere ich ihm zu, "im Übrigen habe ich viertens vergessen zu erwähnen: Sex mit dir ist etwas von dem man schwerlich genug bekommt!"

Und dann genieße ich wie er rot wird, erst seine Wangen, dann unterhalb der Augen und dann die Ohren...
Denn da ist noch etwas, dass ich ihm gegenüber aber niemals erwähnen werde: Mit seiner schüchternen, aber auch sehr unbefangenen Art appelliert Tom massiv an die Beschützerinstinkte zumindest aller Männer die auf Männer stehen, ohne dass ihm das allzu bewusst ist.

Meine Gäste sind längst wieder heimgekehrt, alle die aus Brasilien kamen habe ich mit einem Bombardier Jet der Luxaviation von Sao Paulo über Rio nach Nizza und am Dienstag dann wieder zurück fliegen lassen.
Die Firmenjets von CRVC sind natürlich alle Embraer weil das halt ein brasilianisches Unternehmen ist und die haben entweder nicht die Reichweite oder genug Plätze für sowas.

Und so sind nur noch wir, die Babyboys sowie Rico und Cici im Haus.

Nachdem ich nun sein Selbstbewusstsein wieder aufgebaut habe, verzieht Tom sich gut gelaunt an den Flügel.
Kurz darauf entlockt er diesem auch erste Melodien die für mich nach Chopin klingen, irgendeine von dessen Nocturnes.
Die Musik erweckt bei mir die Vorstellung eines kindlichen Tom der vorsichtig und mit großen, erstaunten Augen die Welt erkundet, eines Toms bevor er dann in die Schule kam und erfahren musste, was es heißt 'Anders' zu sein. Ja Kinder können grausam sein.

Von Chopin wechselt er zu Tschaikowsky und Schwanensee. Er spielt mit einer Mischung aus trauriger Getragenheit und wildem, aufbrausendem Furor, was dem Stück einen ganz eigenen Charakter gibt.
Und lockt damit Cicero an, der sich zu ihn gesellt und das Ganze ein klein wenig bewundernd anschaut.

Kaum das Tom mit Schwanensee fertig ist erscheinen die Babyboys und kommen turtelnd und knutschen die Treppe herunter, was Cicero dazu animiert spöttisch "Ouuuhhh Teenager in Love..." zu sagen.
Tom schaut hoch und sieht die beiden ebenfalls, dann huscht ein Grinsen über sein Gesicht und er fängt eine neue Melodie, eine ziemlich schnulzige für mein Empfinden, an zu spielen.

Und dann singt er dazu, wobei ich erstaunt bin, wie er das schafft ohne dabei eine Miene zu verziehen und dazu noch die melodramatisch leicht schmollenden Stimmlage eines sich von der ganzen Welt unverstandenen Teenies zu imitieren:

"A teenager's romance is fickled or true
A teenager's romance is red hot or blue
You're either in misery or high on a crest

A teenager's romance is like all the rest

They tell us we're different
We haven't the right
To decide for ourselves, dear
What's wrong and what's right

Keep saying you love me
And they'll look upon
A teenager's romance
That goes on and on

They tell us we're different
We haven't the right
To decide for ourselves, dear
What's wrong and what's right

Keep saying you love me
And they'll look upon
A teenager's romance
That goes on and on

A teenager's romance
That goes on and on..."

"Oh mein Gott, das ist soooo kitschig Tom" kommentiert Mirko das und schüttelt den Kopf während Lucas und Cicero zwischen Lachen und Flüchten hin und her zu schwanken scheinen.

Und dann meldet sich Ricardo aus einer anderen Ecke des Salons: "Nun seid doch mal nett zu Tom, der hatte als Teenager weder eine Romance noch Love..."
Betroffen schweigen die drei Jüngeren von uns und ich denke nur: Das war nett gemeint Rico, aber besser hättest du geschwiegen.

Tom schenkt Rico einen mehr als nur traurigen Blick und dann sagt er mit bitterer Stimme: "...nur das Gefühl etwas wichtiges verpasst zu haben, das bleibt."
"Oh bitte, dass hast du doch mit João längst alles doppelt und dreifach nachgeholt" meint Lucas.
Er denkt nach und dann plötzlich strahlt er als würde die Sonne aufgehen und erwidert: "Da hast du allerdings Recht!". Daraufhin springt er vom Klavierhocker auf und stürmt auf mich zu und umarmt mich sehr fest, ohne dass er ein Wort sagt.
Aber das muss er auch garnicht, denn ich verstehe ihn ohne Worte.


Tom

Und dann ist er da, der letzte Tag dieses Sommers in Frankreich.
João, Ricardo und Cicero müssen zurück an ihre Uni in Sao Paulo, auf mich wartet eine Hausarbeit und auf die beiden Jungs die Schule.

Der Wagen ist bepackt und vollgetankt und ein letztes Mal umarme ich João.
Aber der lässt mich noch nicht los.
Und dann höre ich ihn flüstern: "10. September um 18 Uhr am Gare de l'Est in Paris. Ich erwarte dich!"
Das ist in vier Wochen!
"Was...?" Ich bin absolut überrascht.
"Sei einfach da. Und bring formelle Kleidung mit!"
"Okay...." stammele ich.
João küsst mich noch einmal dann löst er sich von mir.
Mit einem schmerzlichen Gefühl des Abschiedes gehe ich die wenigen Schritte zu meinem Auto, da ruft er mir noch augenzwinkernd zu: "Ach ja, komm' nicht mit dem Auto dahin!"
Was er wohl vorhat? Aber das wird er mir jetzt nicht verraten.

"Bist du sicher, dass du jetzt fahren willst?" erkundigt sich Lucas.
"Hä???" Was hat der denn jetzt?
"Wir sehen doch, dass dich die Trennung von João mitnimmt" meint Mirko.
Stimmt, ich fühle mich wirklich nicht besonders...
...aber Lucas mit meinem Auto durch das Chaos hier fahren lassen? Sicher nicht!
"Sobald wir auf der Autobahn sind fährst du" stimme ich Lucas zu

Wir wechseln kurz vor der Auffahrt auf die Autobahn.
Ich setze mich nach hinten und schärfe Mirko nochmal ein, ja auf das Mautticket aufzupassen.
Dann sage ich den beiden noch wo es lang geht: "A8 Richtung Marseille, dann A8 Richtung Lyon und dann A7 Richtung Lyon. Wenn ihr Vienne erreicht habt, dann anhalten, ab da fahre ich dann..."
"Okay ja" sagen die beiden unisono...
"Tempolimit ist 130..." sage ich noch, dann lehne ich mich zurück.
Ich fühle mich müde, es ist als wäre mit João auch ein Teil meines inneren Abtriebs weggegangen.
Dabei sind es doch nur vier Wochen... und mit diesem trötzlichen Gedanken schlafe ich ein.

Mirko

Ruhig rollt der schwere Wagen durch die flirrende Hitze der Provence.
Wie heiß und trocken es hier eigentlich ist, wird mir erst so richtig klar, als wir  unterhalb von Bergen mit brennenden Wäldern vorbeifahren.
Der Kontrast zu der geschützten, klimatisierten und bewässerten Blase in der wir die letzten Wochen verbracht haben tritt für mich in diesem Moment so krass zu Tage wie in der ganzen Zeit hier am Mittelmeer nie zuvor.

"Bald hat uns der Alltag wieder" reißt mich Lucas Stimme aus meinen Gedanken.
"Hmm ja...." murmele ich zustimmend.
"Irgendwie fühlt es sich für mich immernoch ein wenig an als wäre es ein Traum gewesen" sagt mein Freund nachdenklich.
"Oh ja..." stimme ich zu und muss jetzt doch ein bisschen grinsen.
Ein ganz schön feuchter Traum teilweise...
"Aber war schon faszinierend, diese Welt aus Hedonismus, Macht, Einfluss, Dekadenz, Connections, Veränderungswille und Traditionen einmal live erleben zu können" meint Lucas.
"Oh ja, eine Welt die du sonst nur aus Film und Fernsehen kennst ganz real zu betreten, dass ist schon geil irgendwie" stimme ich ihm zu, "egal was uns beiden passiert in Zukunft, diesen Sommer wird keiner von uns je vergessen!"
"Na ja, vielleicht mit Alzheimer" wirft er ein. "Möglich, aber dann wird das zu den Erinnerungen gehören die am Längsten noch da sind" gebe ich mich überzeugt.
Dann ist es wieder still während Lucas den Wagen gelassen über die Autoroute du Soleil steuert.

"Tom nimmt es ja ganz schön mit wenn er sich von João trennen muss" unterbricht Lucas die Stille erneut.
"Die Beziehungen der Beiden hat schon etwas Unheimliches" erwidere ich, "so wie bei Tristan und Isolde..."
"Ich weiß was du meinst" entgegnet Lucas.
"Hoffentlich muss ich nie erleben, dass João Tom verlässt" merke ich an, "oder schlimmeres noch..."
"Dass Tom João verlässt kannst du dir also auch nicht vorstellen?" fragt Lucas und grinst dazu schief.

Nein, das kann ich mir definitiv nicht vorstellen, aber dass Tom irgendeine Dummheit macht im umgekehrten Falle durchaus. Ich mein, João hat ihn ja nicht umsonst schwören lassen, dass er...

"....neee kann ich mir auch nicht vorstellen" bestätige ich Lucas Vermutung.
"Glaubst du an so etwas wie Seelenverwandtschaft?" fragt dieser mich.
"Vor drei Monaten hätte ich jetzt gelacht und 'Blödsinn' gesagt" antworte ich, "aber nachdem ich jetzt Tom und João fünf Wochen lang erlebt habe, fällt es mir nicht mehr so leicht das als esoterische Spinnerei abzutun."
"Geht mir ähnlich...." stimmt er mir zu.

Und wieder ist es still in unserem Wagen als wir uns an Avignon vorbei  weiter Richtung Norden bewegen.

Zum dritten Mal ist es Lucas der die Stille bricht: "Hast du dich je einmal gefragt, was João an Tom findet?"
"Hmmm...." erwidere ich wenig intelligent.
"Ich mein was Tom an João findet ist ja nachvollziehbar..." raunt mein Freund.
"Du hast Tom jetzt nicht gerade als Golddigger hingestellt?" empöre ich mich.
"So hab' ich das nicht gemeint..." verteidigt er sich lahm.
"Okay will ich auch hoffen" entgegne ich, "aber um deine Frage zu beantworten, was João an Tom findet: Das ist ganz einfach, etwas, dass er mit allem Geld und aller Macht der Welt nicht erlangen kann, nämlich bedingungslose Liebe."
"Du meinst Tom liebt João um jeden Preis unabhängig davon, was dieser ihm bietet und bieten kann?" zeigt Lucas sich skeptisch.
"Was soll es denn anderes sein als bedingungslose Liebe wenn du deinem Freund ernstlich verbieten musst dir im Fall des Falles in den Tod zu folgen?" erinnere ich ihn an den Vorfall im Hause der Caxias.
"Punkt für dich...." seufzt Lucas, "aber unheimlich ist es schon ein bisschen."
"Sagte ich ja" stimme ich ihm zu.

Nach 4 Stunden Fahrt nähern wir uns dann diesem Vienne und ich bemühe mich Tom wachzubekommen.
Erst nachdem ich ordentlich an seinen Beinen rüttele gelingt mir das auch und Tom öffnet die Augen.
Überraschend schnell ist er dann wach und orientiert: "Nach der Mautstation kommt gleich rechts ein Parkplatz, da halten bitte..."
Woher immer er auch so etwas weiß, aber es stimmt.

Nun aktiviert Tom das Navi und gibt Luxemburg als Ziel ein, dann schaut er auf dem Smartphone die Verkehrslage noch einmal genau an bevor er grummelt: "Durch Lyon, um Lyon herum oder ganz an Lyon vorbei, das ist jetzt die Frage..."
Ohne weitere Worte zu verlieren setzt Tom die Fahrt vor. Verwirrend häufig wechselt er nun Autobahnen und Schnellstraßen, tankt zwischendurch auf und irgendwann sind wir wieder auf einer wenig befahrenen Autobahn in ländlicher Umgebung und Tom seufzt: "Lyon hinter uns, das ist gut!
Während er Lucas noch auf das Tempolimit hingewiesen hat, hält Tom für sich weniger davon, denn während mein Lucas hinten längst pennt, legt Tom eine zügige Marschgeschwindigkeit von um die 160km/h vor, was auf der relativ leeren Autobahn aber auch keine Probleme macht.

"Warum Luxemburg?" frage ich und bin es nun, der das Schweigen bricht.
"Da ist der Sprit sehr billig" antwortet Tom einsilbig.
"Okay..." Was soll ich jetzt sagen, wenn er keine Lust hat auf Unterhalten, dann halt nicht.
"Das ist kein Umweg, falls du das denkst" ergänzt Tom seine Antwort.
"Nein, schon okay..." murmele ich.

Dann ist es aber doch Tom der das Schweigen wieder bricht: "Und, war es für dich auch ein schöner Urlaub?"
Was ist das bitte für eine blöde Frage, der war doch völlig abgefahren!
"Das fragst du jetzt nicht ernsthaft?" erwidere ich.
"Na, ich weiß nicht, einige Dinge liefen ja doch anders als gedacht..." kommt es von ihm.
"Was denn?" will ich wissen.
"Na ja, dass ich in Lucas das Verlangen nach Zwillingen erweckt habe zum Beispiel..." meint Tom mit schiefem Grinsen.
"Ooookayyy, das gehört jetzt nicht zu den Dingen die ich meinen Eltern erzähle..." entgegne ich und Tom unterbricht mich mit: "Ich bitte darum!" bevor ich fortfahre: "...aber ich habe dich jetzt auch vorher nicht für enthaltsam gehalten, von daher..."
"Dann ist ja gut" meint er.
"Man du Spinner, das waren die geilsten Wochen die ich bisher hatte in meinem Leben, vermutlich werde ich die niemals vergessen - und du fragst ernsthaft ob es ein schöner Urlaub war?" gespielt empört boxe ich Tom gegen die Schulter.
"Das Schlagen des Fahrzeugführers ist während der Fahrt zu unterlassen" merkt der emotionslos an, dann aber müssen wir beide lachen.

Etwas über fünf Stunden seit dem Fahrerwechsel in Vienne erreichen wir Luxemburg.
Der frisch geweckte Lucas wirft einen Blick auf die Preistafel der Tankstelle und merkt dann an: "Isse aba echt billig hier!"
"Deswegen tanken wir hier..." sagt Tom in einem Tonfall mit dem man kleinen Kindern etwas erklärt.
"Wie lange brauchen wir denn jetzt noch bis nach Hause?" will ich wissen.
"Wenn alles gut läuft nochmal 5 Stunden" meint Tom.
"Dann sind wir um ein Uhr in der Nacht da.." rechnet Lucas.
"Stimmt, aber jetzt fährst du wieder!" bescheidet ihn Tom.
Und so steuert mein Schatz den Wagen in die Dämmerung und durch die Eifel Richtung Köln.
"Bei der nächsten Fahrt darfst du dann auch" grinst Tom mich an.
"Hä, was, wieso?" stottere ich verständnislos.
"Du wirst im Oktober 18 Babyboy" frotzelt er, "und fängst daheim mit der Fahrschule an."
Oh, ja, stimmt!
"Fast vergessen..." murmele ich.

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