Wer ich bin.
»Was willst du eigentlich hier?«
»Genau! Du wirst nie lernen, dich vernünftig zu verwandeln!«
»Du Loser! Verschwinde, wir wollen dich hier nicht haben!«
Wieder taten sie es.
Wie schon so oft.
Wie eigentlich immer, wenn sie mich sahen.
Die Raubtiere.
Sie machten mich fertig, nur wegen meiner verdammten Zweitgestalt! Warum konnte ich kein Luchs sein? Oder ein Adler? Dann würden sie mich akzeptieren. Doch sie taten es nicht. Weil ich anders war. Und alles, was anders war, schienen sie abgrundtief zu hassen.
Meine Eltern hatten es sich bestimmt toll vorgestellt, die ganzen Sommerferien auf einer Art Camp zu verbringen, nur unter Woodwalkern, mitten in der Natur. Sie hatten gehofft, ich würde endlich dazugehören, endlich Freunde finden. Hat ja toll geklappt!
Nein, das hatte es definitiv nicht. Ich fühlte mich, als würde sich eine Kralle immer und immer tiefer in mein Herz bohren.
Dazugehört hatte ich nie, auch nicht unter Menschen. Ich war immer langsamer gewesen als die Anderen, war immer der Öko-Freak gewesen. Und ich zog die Coolness der Leute runter, die mir mir etwas zu tun haben wollten. Doch das war mir eigentlich recht. Ich war nunmal eine Einzelgängerin, hörte lieber die Rufe der Vögel als Musik und verbrachte meine Freizeit im Wald statt im Einkaufszentrum. Denn wo niemand war, konnte mich auch niemand verspotten.
Und wieder blickte ich in höhnische Gesichter, die mich anschriehen. Ich stand einfach nur da, ohne etwas zu sagen, ohne mich zu bewegen, versuchte krampfhaft, die Tränen zurückzuhalten, die drohten, aus meinen Augen zu fließen wie Wasser aus einer Quelle.
Endlich mischte sich jemand ein. Es war Mila, eine Art Betreuerin des Camps und Sperber in zweiter Gestalt. Eigentlich war sie ganz in Ordnung.
»Was ist denn los? Was soll das, Leute?«, fragte sie scharf wie ihr Schnabel in ihrer Zweitgestalt war.
»Frag Hanna«, brummte Ben, ein Wolfswandler.
Also wandte sie sich an mich. Doch ich brachte keinen Ton hervor. Meine Kehle war wie zugeschnürt, ich konnte nur den Kopf schütteln und den Blick abwenden, auch wenn ich am liebsten »Wonach sieht es denn aus?« gefragt hätte. Doch, obwohl ich schwieg, sagte das mehr als tausend Worte.
Während Mila weiterhin auf die Raubtiere einredete, drehte ich mich um und stürmte in den Wald, jedenfalls versuchte ich es, aber ich war so langsam, dass man es kaum stürmen nennen konnte. Hinter mir hörte ich Gelächter, doch ich drehte mich nicht um. Ich wollte nicht in ihre verzogenen Fratzen blicken, rannte stattdessen vorwärts, bis meine Lungen zu bersten schienen. Die Kronen der Bäume empfingen mich mit sanftem Rauschen, die Vögel mit leisem Zwitschern.
Erschöpft und keuchend setzte ich mich auf den Waldboden und lauschte für einen Moment den Rufen der Singvögel. Sehnsüchtig blickte ich ihnen hinterher, als sie ihre Schwingen in den Himmel erhoben. In den Himmel, der so unendlich weit und strahlend war.
Ich wünschte mir mit aller Macht, ich wäre auch so frei, könnte so fliegen. Doch stattdessen war ich gefangen in diesem langsamen, klobigen, ungeschickten Körper, konnte mich höchstens in mein Haus verkriechen. Doch selbst das würden die Raubtiere problemlos zerstören.
Ich wanderte eine Weile durch den Wald, meine Tränen trockneten und hinterließen salzige Schlieren auf meinen blassen Wangen.
Vor mir tauchte ein kleiner, stinkender Tümpel mit trübem Wasser voller Algen und Mückenlarven, vielleicht auch Froschlaich.
Reglos setzte ich mich davor und starrte eine Weile lang ins reglose Wasser, betrachtete mein Spiegelbild und ich sehnte mich erneut danach, einfach eine andere Person zu sein. Hübsch und stark und beliebt, mit einem großen Freundeskreis und zu der andere auf- statt herabblickten.
Doch ich war nunmal eine Schnecke. Eine ganz normale, schleimige, ekelhafte Weinbergschnecke.
Nicht mehr. Und mehr würde ich auch nie sein. Damit musste ich mich wohl abfinden. Es gab schließlich keine Möglichkeit, das zu ändern. Ganz ehrlich, da wäre ich lieber einfach ein Mensch ohne Verwandlungsfähigkeiten, wenn ich dafür als Mensch nicht auch so langsam und hässlich wäre wie als Tier.
Als ich an meine Tiergestalt dachte, spürte ich ein immer stärker werdendes Kribbeln. Ich bin allein, dachte ich nur. Niemand war da, der meine ruckartige, unkontrollierte Verwandlung beobachten, sich erneut darüber lustig machen konnte. Warum sollte ich mich nicht verwandeln, in meinem Haus verkriechen und am besten nie wieder herauskommen?
Mein Körper schrumpfte prompt und ungleichmäßig, meine Klamotten landeten auf meinem schleimigen Schneckenleib. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich mich unter dem Stoff hervorwinden konnte und als Mensch hätte ich schon jetzt gekeucht vor Anstrengung. Ich kroch, eine Schleimspur hinter mir herziehend, auf ein dickes Blatt, das über den Tümpel ragte, und blickte erneut ins Wasser. In diesem Moment war ich erleichtert, dass Schnecken nicht weinen konnten.
Wer bin ich schon?, fragte ich mich stumm.
Eine Versagerin, hallte es in meinem Kopf wider und ich versuchte mit aller Macht, diese fiese Stimme, deren Worte schlimmer brennen als Salzwasser in einer offenen Wunde, in irgendeine Ecke meines Bewusstseins zu verbannen. Vergeblich.
Da verlor ich auf dem schmalen Zweig das Gleichgewicht und fiel so ungeschickt auf den Rücken, dass es ewig dauerte, bis ich wieder normal kriechen konnte.
Vor mir wuselte eine kleine Ameisenstraße über den Waldboden, an dem goldenes Moos im Sonnenlicht schimmerte. Die winzigen Sechsbeiner krabbelten so viel schneller als ich über kleine Zweige, Moosflecken und Farne.
Neugierig begann ich, den Tierchen zu folgen, da erblickte ich einen riesigen schwarzen Käfer, noch größer als ich, mit glänzendem Panzer und langen, mit Widerhaken bestückten Beinen. Er war umringt von unzähligen Ameisen, die über seinen Panzer krabbelten und ihre kleinen Beißwerkzeuge in seine Beinchen rammten.
Obwohl die kleinen Insekten so viel kleiner und schwächer als ihr Opfer waren, versuchten sie, es mit ihm aufzunehmen. Sie erinnerten mich an mich selbst, nur, dass ich weder den Mut, noch die Unterstützung anderer hatte, um mich den Raubtieren entgegenzustellen. Ich hatte keine Kolonie hinter mir - und selbst wenn: Wer hatte bitte Angst vor einem Haufen schleimiger Schnecken?
Wieder hallte das Wort Versagerin in meinem Kopf und ich fauchte die Stimme stumm an.
Aber vielleicht... vielleicht stimmte es? Vielleicht war ich wirklich eine Versagerin, die es nie zu etwas bringen würde.
Aber was, wenn ich das ändern konnte? Was, wenn ich den Raubtieren mal gehörig die Meinung sagte?
Nein. Meine Angst war zu groß, Angst davor, dass sie mich danach noch schlimmer beleidigen und sogar angreifen würden. Eigentlich war ich immer fest entschlossen gewesen, einmal etwas aus mir zu machen. Aber wie sollte ich das machen?
Als ich erneut zu den Ameisen blickte, die den viel größeren Käfer überwältigten, fällte ich eine Entscheidung. Ich konzentrierte mich auf mein blasses, braunhaariges Menschen-Ich, spürte, wie Knochen und Wirbel in mir wuchsen und ich, ruckartig und unregelmäßig, wieder zu einem Mädchen wurde. Hier im Wald sah mich niemand. Hier musste ich nichts verstecken.
Ich tappte - oder eher, trampelte - über den Waldboden und streifte mit meine Kleidung wieder über, atmete kurz tief ein und aus und stapfte entschlossen zurück in Richtung Camp, wo bald Zeit fürs Abendessen war.
Nun jedoch standen die Raubtiere in einem Kreis beieinander und tuschelten, da entdeckte eine Luchswandlerin, deren Name ich nicht kannte, mich und zeigte mit einem höhnischen Grinsen in meine Richtung.
»Ach, die kleine Schnecke hat ihren Heulkrampf unterbrochen?«, spottete Ben, der Wolfswandler, und unwillkürlich ballte ich die Fäuste. Ich fühlte keine Verzweiflung oder Niedergeschlagenheit, nur noch kochend heiße Wut, wie ein Lauffeuer in meinem Herzen, das sich immer weiter ausbreitete.
»Hau einfach ab, okay? Das ist wohl für alle am besten.«
»Genau!«, echote David, ein hochgewachsener Adler-Wandler.
»Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Denkst du, irgendjemand von uns will etwas mit dir zu tun haben? Was ist an dir schon besonders?«
»Was an mir besonders ist?«, fauchte ich förmlich. Die kleine, schüchterne Schnecke Hanna war irgendwohin geflohen.
»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass es bei dir gleich ein blaues Auge ist!«
David lachte nur, er schien mich überhaupt nicht ernst zu nehmen. Das lodernde Feuer der Wut in mir explodierte, ich holte aus und der Adler-Wandler war so perplex, dass selbst ich mit meinen langsamen Bewegungen meine Faust in sein Gesicht rammte. Fassungslos taumelte er einige Schritte rückwärts, drehte sich um und stürzte davon ins Zelt.
Meine Wut flaute ab, doch nicht ein Funke Stolz regte sich in mir. Im Gegenteil, eher ein schlechtes Gewissen.
»Hey, Hanna!«
Grinsend trat Ben vor und meinte freundschaftlich: »Bist ja doch nicht so schwach, wie wir dachten. Sag mal, willste mal mit uns zusammen abhängen?«
Eigentlich war es genau das gewesen, was ich gewollt hatte. Dass Leute freiwillig etwas mit mir zu tun haben wollten. Doch es fühlte sich falsch an. Ich wollte nicht erst vom schüchternen Mädchen zur wütenden Furie werden, damit Leite mich aktzeptierten. Doch es hatte sich in mir etwas verändert. Ein ganz neues Gefühl regte sich in mir, ein undefinierbares Gefühl. Als hätte ich jahrelang versucht, ein Rätsel zu lösen, obwohl ich die Antwort direkt vor mir hatte. Ich brauche keine großen, starken Raubtiere als Freunde.
Ich wollte sich nicht verstellen müssen, wollte nicht vortäuschen, jemand zu sein, der ich nicht war.
Und das war ich nicht.
Ich war Hanna.
Eine Schnecken-Wandlerin.
Ich war anders.
Und stolz darauf.
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