Prolog
„Ich werde gewinnen", flüsterte ich mir selbst zu, bloß zwei Sekunden bevor ich die schweren Holztüren aufstieß. Meine Zwillingsschwester und ich hatten seit unserem ersten Atemzug für die Krone gekämpft. Bis zu diesem Tag. Unserem siebzehnten Geburtstag. Heute nahmen die Jahre des Wettkampfes ein Ende. Die Jahre, in denen wir uns bemüht hatten, immer noch makelloser und schöner auszusehen, als die andere, immer etwas schneller die Unterrichtsaufgaben zu verstehen und immer noch ein kleines bisschen höflicher und zuvorkommender gegenüber unseren Gästen zu sein. Aber vor allem, unserem Vater mehr zu gefallen als die andere. Es war fast so, als fiele mir eine tonnenschwere Last von den Schultern, als ich in meinem Geburtstagsgewand den Ballsaal betrat. Aber nur fast, denn auch, wenn nun die tägliche Konkurrenz endlich ein Ende hatte, stand mir noch das schlimmste bevor. Die Entscheidung. Den eine von uns beiden, entweder meine Schwester oder ich, hatte sich all diese mühen und schlaflosen Nächte 7 Jahre umsonst angetan. Ich holte Luft. Ich hatte sie ohne es zu bemerken einige Sekunden angehalten und nun verlangte meine Lunge stechend nach Sauerstoff. Dennoch wollte ich noch dringender gewinnen, als ich atmen wollte. Der Ballsaal war festlich geschmückt worden. Alles war mit golden glänzenden Girlanden verhangen und Kellner trugen Tablette voller schimmerndem Champagner herum. Unsere Gäste waren kaum in unserem Alter. Lediglich Verwandte, Berater oder Freunde des Königreichs in hohen Positionen. Und sie alle waren langweilig und eingenommen von sich selbst. Der ganze Raum stank nach ihren Schatten und wurde von diesem graublau Ton gedämmt, der sie umgab. Ich versuchte mir nichts anmerken lassen. So wie immer. Meine einzige und wichtigste Regel seit ich denken konnte. Niemals jemanden bemerken lassen, dass ich etwas sah. Etwas, was sonst niemand sah. Die Schatten. Die Spiegelbilder der Menschen, die alles auf einen Blick wiedergaben, was die Person ausmachte. Ihre Gefühle, ihren Charakter, ihre Intentionen. In Farben, Gerüchen und Temperaturen. Nur für mich bemerkbar. Den ich war leider nicht bloß eine Prinzessin und möglicherweise zukünftige Königin, ich war auch eine der gefürchteten Mutierten. Eine sogenannte Lethal. Bloß das niemand davon wusste außer mir. Und das musste auch unter allen Umständen so bleiben, sonst wäre es nämlich mein kleinstes Problem, das ich von dem Gedanken von der Krone auf meinem Haupt Abschied nehmen konnte. Wenn jemals jemand erfuhr, dass ich eine der Verfluchten war, würde ich im Wald landen. So wie meine Mutter. Ein Schauer kroch an meinem Rücken empor bei der Vorstellung. So wie immer. Ich griff mir geschickt ein Glas des sprudelnden Alkohols und spülte all meine dunklen Gedanken damit herunter. Besonders heute musste ich darauf achten, dass meine Maske der perfekten, sorgenfreien Prinzessin nicht auch nur eine Sekunde verrutschte. Ich klopfte mir den nicht vorhandenen Staub von meinem weißen Tüll-Rock und glättete meine Haare mit der Hand. Dann erspähte ich Audra auf der anderen Seite des Raums. Meine Schwester in einem Schatten von rosa. Die Ruhe selbst. Meine Schwester und ich sahen uns nicht im Ansatz ähnlich. Ich hatte die tiefschwarzen Haare und die blauen Augen unseres Vaters geerbt, sie die blonden Haare und die sanften, grünen Augen unserer Mutter. Ihr Kleid war auch weiß, aber deutlich aufwendiger. Ihr hatte man Perlen aufs Korsett geschnürt und deutlich mehr Satin verwendet. Der Stich der Eifersucht brannte für einen Augenblick in meiner Brust. Erst einen Moment später erinnerte ich mich wieder daran, dass es vorbei war, dass die Entscheidung bereits getroffen war und es nie wieder von Bedeutung seien würde, welche von uns beiden das Kleid trug, das mehr dem einer zukünftigen Königin entsprach.
„Eden meine Schöne, dein Lächeln ist verrutscht!" Ich bewegte meine Mundwinkel reflexartig nach oben. Eine meiner Tanten, Marge, kam auf mich zugesteuert und beugte mich mit ihrem typischen, offen neugierigen Blick.
„Tante Marge!" Ich ließ das Lächeln auf meinem Gesicht sitzen. Bis zur Verkündung der Entscheidung würde es sicher noch eine volle Stunde dauern, also war es nun wohl an der Zeit sich unter die Leute zu mischen und die Gewissheit einer zukünftigen Königin zu verströmen.
Mein Vater schlug mit dem Silberlöffel, von dem er vor wenigen Wimpern Schlägen noch Himbeertorte gegessen hatte gegen sein Champagnerglas. Bloß nach einem Schlag war der ganze Saal still.
„Sehr verehrte Gäste, wir haben uns heute hier versammelt, weil meine beiden Töchter das Blut einer Königsfamilie in sich tragen, aber nur eine, eine Krone tragen wird." Er sprach einige Worte, aber auch wenn ich meine Ohren dazu zwang zuzuhören lauschte mein Kopf seiner Rede nicht. Ich wollte nicht diese leere Ansprache, in der er mich und meine Schwester über den Himmel lobte. In der er davon erzählte, inwiefern er uns beide geprüft und gebildet hatte um eine Königin hervorzubringen, die es verdiente unser Reich zu regieren. Ich wollte bloß einen Namen. Audra oder Eden, hallte es in meinen Ohren. Ich wollte meinen Namen hören. Er zog eine bedeutungsvolle Pause, bevor er die Entscheidung verkündete. Ich ballte die Fäuste, weil ich das selbstzufriedene Gold, das ihn umgab, am liebsten zertrümmern wollte. Weil ich mich 7 Jahre für ihn auf die Knochen abgemüht hatte. Weil ich seit Tagen nicht hatte schlafen können und er stolz darüber war, dass er eine gewisse Spannung in den Saal gebracht hatte. Aber das war schon okay. Sobald er meinen Namen genannt hatte, würde alles vorüber sein. Dann würde ich nicht mehr für seine Zustimmung und Zuneigung kämpfen müssen. Dann würde ich sie endlich sicher haben.
„Eden." Und schon wurden meine Fäuste wieder zu weichen Händen. Alle Augenpaare dieses Saales richteten sich auf mich. Einige Schatten nahmen Tupfer von grünem Neid an, andere strahlte kurz in gelber Freude. Aber etwas übertönte all das. Nur für einen winzigen Bruchteil, nur für eine Millisekunde. So etwas hatte ich noch nie gesehen oder gespürt. Es war dunkel und verwirrend. Ein Schatten wie kein anderer. Ein Schatten, denn ich nicht einordnen konnte, der mir so noch nie begegnet war. So schnell wie er gekommen war, verschwand er auch wieder. Vielleicht hätte ich dem mehr Aufmerksamkeit schenken sollen. Vielleicht hätte ich mich genauer umsehen sollen und nach der Person suchen sollen, von der dieser seltsame Geruch und diese neue Farbkombination gekommen war, aber das tat ich nicht. Ich war viel zu abgelenkt von etwas anderem. Dem Fakt, dass ich gewonnen hatte. Ein für alle Mal. Ich hatte gewonnen. Ich war Eden Garastell und ich hatte den Wettkampf um die Krone gewonnen. Ich würde unser Königreich Urav regieren. Unsere Gäste umzingelten mich, um mir die Hände zu schütteln oder mir anerkennend auf die Schulter zu klopfen. Sie alle wollten für einen Moment mit der zukünftigen Königin in Kontakt treten und ihre Aufmerksamkeit erwerben, auch, wenn ich ihre unterschiedlichen Motive dafür genauestens erkennen konnte. Mein Vater umarmte mich. Er drückte mich lange und fest, so dass ich kaum mehr atmen konnte. Das war die erste Umarmung von ihm, seit Jahren.
„Du hast es dir verdient", flüsterte er mir dabei ins Ohr. Die Betonung lag auf verdient. Ich war nicht geboren dafür, ich hatte hart an mir gearbeitet. Keine weichen schmeichelnden Worte, aber sein Schatten trug einen Hauch von stolz an sich und das genügte mir.
Dann kam Audra zu mir. Ihr Gesicht wirkte unberührt, was mich ungläubig werden ließ, aber auch ihr Schatten strahlte im gleichen rosa, wie zuvor. Kein Tropfen Eifersucht, kein Stich Wut nicht einmal Enttäuschung. Sie lächelte mir zu und gratulierte mir so warmherzig, als wäre sie nie meine Konkurrentin gewesen. Das hätte ich niemals gekonnt, das wusste ich. Ich hätte mich zurückgezogen und hätte etwas kaputt gemacht. Irgendetwas. Vielleicht einige Teller und Gläser, vielleicht Kleider oder wenn ich es nicht mehr bis zu meinem Zimmer geschafft hätte eine Vase. Natürlich hätte ich gleich darauf alles beseitigt, so wie ich es immer tat, damit niemand von meinen Wutausbrüchen erfuhr, aber ich war mir sicher, dass ich nicht gratuliert hätte. Audra war schon immer ein besserer Mensch als ich gewesen, dachte ich mir heimlich. Und dennoch würde ich unser Königreich bekommen. Während ich lächelnd weiter mit allen über meine wundervolle Geburtstagsüberraschung plauderte, ging mir dieser Gedanke nicht mehr aus dem Kopf. Der Gedanke das Audra wohl möglich eine bessere Königin als ich geworden wäre. Denn so dumm es auch klang, hatte ich tatsächlich gekämpft um zu gewinnen und dabei vergessen, was es zu gewinnen gab. Und nun würde ich ein Land regieren, weil mein Vater glaubte, ich sei dafür geeignet, dabei kannte er mich noch nicht einmal wirklich. Denn ich war ja gar kein Mensch so wie er. Ich war eine Mutierte. Und Mutierte waren falsch, dass hatte er selbst immer gesagt. Ich hatte ihm etwas vorgespielt, um ihm zu gefallen, weil Mutierte das gut konnten. Die Luft in dem Raum schien knapp zu werden. Unter den vielen Schichten Tüll wurde mir heiß. Schrecklich hieß. Ich hielt es keine Sekunde länger hier aus. Mit der Entschuldigung ich müsste mich kurz frisch machen gehen, trennte ich mich von unseren Gästen und lief in großen Schritten nach draußen. Ich hatte oft Panikattacken, das war nichts Neues. Seit ich miterlebt hatte, wie meine Mutter in den Wald verbannt worden war verfolgte mich eine Angst so groß wie ein Berg und so überrumpelnd wie eine Lawine, tags und nachts. Die kühle Nachtluft traf mich hart, als ich in den Garten trat. Es tat gut, es brachte mich wieder etwas runter. Ich legte eine Hand auf die Brust und spürte wie mein Herzschlag langsamer wurde. Dann zählte ich bis zehn und konzentrierte mich einzig und alleine auf die Zahlen die ich vor mich hin murmelte. Ich musste so in Gedanken gewesen sein, das ich nicht bemerkt hatte, wie jemand an mich herangetreten war.
„Geht es Ihnen gut Majestät?" Ich zuckte zusammen. Die Stimme erkannte ich schnell. Aus langen Diskussionen mit dem König. Sir George der Berater meines Vaters musste mir gefolgt sein. Mich jetzt so aufgelöst vorzufinden, an dem Tag, der eigentlich einer der glücklichsten meines Lebens seien sollte, machte bestimmt keinen guten Eindruck. Hatte ich geweint? In einer unauffälligen Bewegung tastete ich meine Wangen ab. Nein keine Tränen. So wie immer. „Ja bestens, danke der Nachfrage!" Ich ließ kein Schwanken in meinen Ton, auch wenn es Mühe kostete. „Das muss wirklich überwältigend gewesen sein." Die Art wie er es aussprach, legte eine Andeutung unter seine Worte, die mir nicht gefiel. Hatte er doch etwas von meinem Gefühlsausbruch mitbekommen?
„Was?" Das Knistern von Kieseln verriet mir, das Sir George näher trat. „Zu erfahren, dass sie nun Königin werden, Majestät."
„Ich wusste, das ich Königin werde", widersprach ich. Wie viel daran der Wahrheit entsprach, wusste ich selbst nicht, aber er sollte auf keinen Fall denken ich hätte jemals an mir gezweifelt.
„Das wird sie zu einer wundervollen Herrscherin machen", schmeichelte er mir. Inzwischen hatte ich nicht mehr das Gefühl wie ein vollkommenes Wrack auszusehen, also drehte ich mich zu ihm um. Ein stechendes, stickendes braun empfing mich. Ein braun, wie aus den tiefsten Sümpfen. Ein braun aus Sümpfen, die schon Abertausende verlorene Menschen ertränkt hatte. Ich versuchte nicht zu starren. Mir wurde mit einem Mal kalt. Es umhüllte Sir George, der lässig an der Palastmauer lehnte und mich aus wohlwollenden, großen Augen ansah vollkommen.
„Aber mir ist da eben so ein Gedanke gekommen." Er tat so, als müsste er überlegen. Als wäre der Gedanke noch gar nicht allzu weit ausgeführt.
„Vielleicht könnten sie doch ein wenig Hilfe gebrauchen." Ich strafte die Schultern.
„Wie meinen sie das?"
„Nun, sie sind eine junge, alleinstehende Frau, die eine Menge Macht geschenkt bekommt. Es wäre wohl möglich eine kluge Idee diese Macht zu teilen, wenn es denn so weit ist und ihnen die Krone aufgesetzt wird", sagte er. Seine Stimme war so weich wie Samt, aber verbergen, was er da von sich gab konnte sie nicht. Und mir gefiel ganz und gar nicht, was das war.
„Ich wurde seit meiner Geburt auf diese Aufgabe vorbereitet", erinnerte ich ihn nicht mehr allzu freundlich. Er spielte Spielchen, die ich ebenfalls spielen konnte, aber der Tag war lang und anstrengend gewesen. Ich wollte ihn merken lassen, das ich ihn durchschaute, damit er sich so früh wie möglich mit eingezogenem Schwanz zurückziehen konnte.
„Wenn ich an meinem 18 Geburtstag zur Königin ernannt werde, werde ich gut alleine mit meiner Macht klarkommen." Er kam näher, trat zu mir raus in den Garten. Rot mischte sich viel zu schnell zum braun. Eine gefährliche Mischung.
„Ich habe schon beim Regieren dieses Landes geholfen, da warst du noch nicht geboren." Sir George versuchte ein scherzhaftes Lächeln aufrechtzuerhalten. Es war beunruhigend, wie schlecht es ihm gelang.
„Dann haben sie ja lange genug ihre Arbeit verrichtet. Vielleicht wird es bald Zeit für sie zurückzutreten. Ich muss ja nicht jeden Berater des Königs übernehmen, wenn es an mir ist die Krone zu tragen." Das Lächeln fiel. Seine Mundwinkel kippten rasant nach unten und in seinen Augen zuckten etwas. „Wie bitte?"
„Sie haben mich schon verstanden."
„Ich denke gar nicht daran!", spuckte er mir förmlich ins Gesicht. Jetzt lagen die Karten auf dem Tisch. Ich räusperte mich. „Sie sind Machtgierig und versuchen ihren Profit daraus zu ziehen, das sie glauben ich sei jung, naiv und überfordert, aber soll ich ihnen etwas verraten?" Ich machte einen Schritt auf ihn zu und lehnte mich sogar noch in seine Richtung, um meine Angst mit Überheblichkeit zu überdecken.
„Damit liegen sie falsch. Ich bin nicht zu jung, naiv und überfordert um einen wie sie aus seinem Amt zu entheben. Ich kann sogar noch mehr, sollten sie mir jemals wieder derartig unverschämt kommen..." Mein Mund machte sich selbstständig. Ich hatte mich und meine Impulsivität sonst immer recht gut unter Kontrolle. Ich wusste selbst nicht, was mich dieses Mal Antrieb. Aber noch ehe ich mich selbst stoppen konnte, packte Sir George meinen Arm. Heftig, mit Druck.
„Ich lasse mir doch von so einer dummen, kleinen Göre nichts wegnehmen!", zischte er. Sein Griff wurde noch fester. Ich konnte fühlen, wie sich blau Flecken auf meiner Haut bildeten, aber ich wollte mir den Schmerz nicht anmerken lassen.
„Ich bin keine dumme Göre, ich bin ihre zukünftige Königin! Und an ihrer Stelle wäre ich vorsichtig. Sie wollen doch nicht zusätzlich zu ihrer Arbeit auch noch ihren Kopf verlieren, wenn ich meinem Vater erzähle, wie sie mich gerade behandeln..." Zu seinem Ärger und seiner Gier trat nun Panik. Ich konnte sie wie einen hässlichen Sonnenaufgang in seinem Schatten erkennen. Das machte das Ganze um einiges Explosiver. Er verstand, was er gerade tat. Er verstand, dass er gerade der Prinzessin gedroht hatte und sein Blick verriet mir, dass er auch mit den Folgen einer solchen Tat vertraut war. Ich wartete darauf, dass er mich losließ. Es war ein aufregender Abend gewesen. Ich würde ihm sicher nicht verzeihen, aber in angesichts dessen würde ich vielleicht ein wenig Gnade walten lassen. Hauptsächlich um mir selbst zu beweisen, dass ich eine gütige Königin werden würde. So eine Königin, wie Audra es geworden wäre. Er ließ mich nicht los. Stattdessen gruben sich seine Fingernägel noch tiefer in meine Haut.
Und dann umfasste er meinen Hals. Mir entfuhr ein erstickter Schrei. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich versucht Luft in meine Lunge zu bekommen, aber ich konnte nicht atmen. Ich konnte nicht atmen... Schneller als gedacht trat die Verzweiflung ein. Ich schlug nach ihm, versuchte seine Wange zu zerkratzen, oder seine Augen, aber ich bekam nicht sein Gesicht zu fassen. Stattdessen legte sich etwas Kühles in meine Handfläche. Ich musste nicht hinsehen, um instinktiv zu wissen, was es war. Ich hatte soeben nach einem Schatten gegriffen. Und ich hatte ihn zu fassen bekommen. Das erste Mal in meinem Leben beobachtete ich die Schatten nicht nur, sondern ich berührte sie. Ich hatte nicht geahnt, dass das möglich war. Aber wenn ich sie anfassen konnte, konnte ich möglicherweise auch noch mehr mit ihnen anstellen. In der Panik, die mich mit zunehmend enger werdendem Hals erfasse, zog so fest ich konnte an seinem Schatten. Sir Georges Schrei erfüllte die Nacht. Er schrie wie am Spieß. Er schrie, als würde ihm seine Haut von den Knochen ziehen, aber er ließ mich nicht los. Also zog ich noch einmal. Mit aller verbliebenen Kraft. Das Geräusch, das darauf erklang, war schwer in Worte zu fassen, oder mir irgendetwas zu vergleichen. Es war ein unfassbar ekelhaftes Geräusch. Eins das alle Töne die einem einen Schauer über den Rücken jagten vereinte. Ein Geräusch das einen wünschen ließ sich ins nächste Gebüsch übergeben zu können. Als würden lange Fingernägel über eine Tafel gezogen werden. Sir George klappte zusammen und ging tonlos zu Boden. Ich sackte neben ihm kraftlos nieder und sog die Luft ein, als wäre es das köstlichste dieser Erde. Den Schatten hielt ich weiter fest, meine Finger hatten sich um ihn verkrampft. Ich spürte wie er langsam weicher und wärmer wurde. Als würde er schmelzen. Dann zerfiel er in meiner Hand zu etwas, das Asche glich. Ich schüttelte es angewidert von mir. Ich wollte es nicht länger berühren. Nicht länger spüren.
„Eden...was?" Nur schwer konnte ich den Kopf heben und aufsehen, zu den Menschen, die mich anstarrten.
Den Menschen, die mich anscheinend beobachtet hatten. Mein Vater, meine Schwester und fünf weitere Gäste. Sie standen im Türrahmen. Ich brauchte nicht zu fragen, wie lange sie dort schon standen und wie viel sie mitangesehen hatten. Die Schockierung und Furcht stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Sie hatten soeben mein größtes Geheimnis gelüftet. Ich war mir sicher ohnmächtig zu werden. Nicht, vor Atemnot, sondern vor Angst. Ich hätte mich von Sir George erwürgen lassen sollen. Sie wussten nun, dass ich keine von ihnen war. Sie wussten nun, dass ich eine Lethal war. Sie wussten nun, dass ich eine Lethal war und dafür würden sie mich in den Wald verbannen. In den Wald aus meinen schlimmsten Albträumen. Mein Vater warf mir einen letzten Blick zu. Er wirkte nicht mehr vollkommen überrascht. Stattdessen hatte sich sein Schatten verfärbt. Kühle, graue Enttäuschung.
Er verbannte mich an diesem Abend nicht in den Wald, so wie er es mit Mutter getan hatte. Er ließ meine Schwester und die fünf Gäste auf ihr Leben schwören, dass sie keiner Menschenseele etwas davon verraten würden. Drei von ihnen schworen, zwei weigerten sich. Ein Journalist und eine Gräfin. Am nächsten Morgen fand man ihrer beider Leichen unten am Fluss, der den Wald umgab. Der Gerüchte nach waren sie betrunken in die Fluten gestürzt und bitterlich ertrunken. Ich wusste es besser. Ich wusste, dass mein Vater die gleiche Entscheidung hatte treffen müssen, die er damals auch bei meiner Mutter getroffen hatte. Ihr Leben oder das der Beobachter. Dieses Mal war sein Urteil anders gefallen. Nun war es an mir, ihn das niemals bereuen zu lassen.
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