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stell dir vor...
du wachst eines tages auf und bemerkst, dass all deine heimlichen wünsche in erfüllung gegangen sind und du endlich perfekt bist.
du hast deine traumfigur und als du in den spiegel guckst, strahlt dich ein fröhliches zahnpastalächeln an. deine filigranen finger fahren über dein gesicht, während du deinen ebenmäßigen teint begutachtest, der durch keine einzige hautunreinheit durchbrochen wird.
sobald du an den kleiderschrank trittst, springen dir all die klamotten ins auge, die du schon immer besitzen wolltest - jede jeans schmiegt sich makellos an deine hüften und der weiche stoff deines pullovers schmiegt sich an deine arme, an denen keine narbe mehr zu sehen ist.
unten in der küche erwartet dich bereits deine familie; deine eltern sitzen einträchtig nebeneinander beim frühstück, so als wäre die scheidung nie geschehen, und deine geschwister nerven zur abwechslung nicht, sondern nehmen dich in den arm, um dich zu begrüßen.
etwas überwältigt von dieser harmonie, die du so noch nie vorher erlebt hast, setzt du dich an den tisch und beginnst, ebenfalls zu essen. zum ersten mal seit langem ist dir nicht schlecht bei dem gedanken, welche kalorien du in dich reinstopfst - stattdessen spürst du die leichtigkeit deines körpers.
nachdem du wenig später auf dem parkplatz der schule hältst, kannst du noch immer nicht fassen, dass du gerade tatsächlich allein auto gefahren bist - schließlich hattest du eigentlich noch gar keinen führerschein. doch jetzt erstrahlt der “lappen“ in deinem portmonee und der schlüssel deines eigenen gefährts klimpert verführerisch.
kurz darauf stößt du zu deinen freunden, die augenblicklich strahlen und dich dazu einladen, abends gemeinsam zu grillen. zu erst willst du ablehnen, da deine eltern bestimmt etwas dagegen haben, oder du zu viel zu tun hast, aber dann erinnerst du dich an die worte deiner mutter, du sollest dir einen schönen tag machen und an die tatsache, dass heute freitag ist - ein bisschen freizeit kannst du dir also durchaus gönnen.
also stimmst du zu, woraufhin dich dein(e) beste(r) freund(in) anstupst: “dein schwarm wird auch da sein. und er/sie hat schon nach dir gefragt.“
mit glühenden wangen betrittst du den klassenraum - besser kann es ja gar nicht werden; zumal du mit einem handgriff feststellst, dass deine hausaufgaben, die du gestern eigentlich vergessen hast, wie durch ein wunder erledigt worden sind.
trotzdem driften deine gedanken während des unterrichts ab und du kommst ins grübeln. warum ist plötzlich alles perfekt?
gestern noch hätten deine freunde dich kaum beachtet, du hättest im schulbus nur mit mühe und not den letzten platz ergattert und dein vater hätte dir eine standpauke noch vor dem ersten kaffee darüber gehalten, wie undiszipliniert du bist.
aber auch wenn du dir das nicht wirklich erklären kannst, genießt du es und richtest deine aufmerksamkeit wieder auf deinen lehrer, der dir sogar zuzwinkert - hat er dich doch bis jetzt immer erfolgreich übersehen und dir am ende des schuljahres eine schlechte mündliche note reingedrückt.
auch der restliche tag verläuft wie am schnürchen und als du dich letztendlich von deinen klassenkameraden verabschiedest, ruft dir dein schwarm sogar ein gut gelauntes “tschüss“ zu, was dich vollkommen plättet und dich nur noch nervöser wegen der grillparty macht.
gerade willst du dich auf den weg zu deinem auto machen, allerdings sticht dir ein mädchen ins auge, das du immer nur aus der ferne gesehen hast. ein gerücht besagt, dass es ein halbes jahr in eine klink musste, weil es unter magersucht litt - und wahrscheinlich stimmt diese geschichte, immerhin ist sie eine ganze weile gänzlich verschwunden gewesen.
mittlerweile sieht die junge frau wieder gesünder aus, und aufgrund ihrer kurzen hotpants kannst du die cellulite an ihren beinen erkennen. obwohl du sie eigentlich nicht verurteilen möchtest, freust du dich innerlich, dass du damit nicht mehr zu kämpfen hast.
sie hat sich ihre einst blonde mähne abgeschnitten und unter einen beanie gestopft, wodurch sie viel jünger wirkt, als sie eigentlich ist. außerdem schillern an ihren unterarmen feine weiße striche, die ihre vergangenheit unwillkürlich erzählen.
das kabel ihrer kopfhörer ist verknotet und du hörst, wie sie eine genervte sprachnachricht macht, in der sie sich über permanent schlechte laune beschwert und zugibt, seit tagen nicht richtig schlafen zu können.
du musst schlucken. da war sie schon in einer klinik, hat bestimmt 15 kilo zugenommen, und immer noch geht es ihr nicht gut? du bist verdammt froh, dass es bei dir nur ein fingerschnips gebraucht hat, denn verdammt: dir geht es so gut wie noch nie und du freust dich nur auf eine kühle dusche und ein noch kälteres bier heute abend, das du dir vielleicht mit deinem schwarm teilst.
jedoch kommst du nicht dazu, weiter über sie nachzudenken, da just in dem moment ein wagen vor ihr hält und ein typ aussteigt: seine viel zu langen haare fallen ihm unordentlich ins gesicht und sein hemd hat definitiv auch schon mal bessere tage erlebt - zumindest gehst du nicht davon aus, dass er es durchlöchert und verschwitzt gekauft hat - du kannst letzteres bis zu dir riechen.
dennoch erhellt sich das gesicht deiner fremden mitschülerin schlagartig und sie fällt dem kerl regelrecht um den hals, bevor er ihre stirn küsst und ihr danach die tür aufhält.
etwas verdaddert blickst du den beiden nach und läufst anschließend selbst zu deinem auto. das mädchen und seinen chauffeur bereits wieder vergessend gleitest du hinters steuer und willst den schlüssel im zündschloss umdrehen, was jedoch gar nicht geht.
so oft du auch daran rüttelst, nichts funktioniert. prompt kriegt deine gute laune einen dämpfer und frustriert stöhnst du auf. dann aber beißt du die zähne zusammen und erinnerst dich an deine anbetungswürdigen beine, die du mit gesenktem blick nun perfekt betrachten kannst. keine delle, nichts.
wie könnte dich jetzt ein nicht anspringendes auto aus der fassung bringen, wo du doch alles andere hast. also zückst du dein handy, das zur abwechslung mal nicht nach drei sekunden hängen bleibt. rasch rufst du deine mutter an, in der hoffnung, von ihr abgeholt werden zu können.
jedoch hat auch sie über nacht eine veränderung durchgemacht und eine neue arbeitsstelle, weswegen sie keine zeit hat, dich einzusammeln. zwar schlägt sie vor, deinen vater zu fragen, doch auch der speist dich mit einer entschuldigung ab und verspricht dir immerhin, dich morgen zur entschädigung zum essen auszuführen.
trotzdem hockst du nach wie vor da und weil auch keiner deine freunde zeit hat (auch sie sind perfekt und haben plötzlich ausgefüllte terminkalender), aber leider musst du begleitet mit dieser erkenntnis feststellen, dass du für das perfektsein eines eingebüßt hast: die fähigkeit, mit schwierigkeiten zu meistern. denn zum perfektsein gehören nun mal keine schwierigkeiten.
also bleibt dir nichts anderes übrig, als besagte mitschülerin von vorhin anzurufen. tatsächlich geht sie ran und verspricht, dich innerhalb der nächsten halben stunde abzuholen.
um dir die zwischenzeit ein kleines bisschen zu versüßen, stalkst du ihren instagramaccount. im gegensatz zu deinem neuen feed, der in den letzten stunden wie durch zauberhand farblich abgestimmt wurde und geschichten von mauritius und hawaii erzählen, wirken ihre bilder zufällig zusammengewürfelt: von ihren familienmitgliedern, ihrem hund und einzelnen naturszenen - nicht mal eine story hat sie.
instinktiv fragst du dich, ob sie nichts erlebt, wo sie doch gar nichts aufregendes postet - oder hält sie den spannenden teil ihres lebens etwa unter verschluss?
doch noch bevor du darauf eine antwort findest, parkt sie vor dir und winkt dich zu sich.
ihr auto ist unordentlich und eigentlich musst du befürchten, dir dein outfit zu ruinieren, weil auf dem sitz bestimmt schokoflecken pranken. du lässt dir aber nichts anmerken, sondern lächelst dankend, während sie losfährt.
einige minuten herrscht stille, bis du wissen möchtest: “hattest du nichts vor? weil du mich einfach so abholen konntest.“
sie grinst. “ne, im moment bin ich ziemlich spontan. vorhin war mir sogar langweilig, also kam deine bitte gerade richtig.“
überrascht hebst du eine augenbraue, kannst du es dir nämlich überhaupt nicht vorstellen, langweile auszuhalten.
sie scheint dein unbehagen zu bemerken, da sie lacht. “keine sorge, das ist nicht immer so. aber manchmal ist das ganz gut. man kann über sich selbst nachdenken und hat eine ungewöhnliche freiheit. keine verpflichtungen. nur du und die welt.“
belustigt lachst du auf. was bringt einem die welt, wenn man sie nicht nutzt? fragst du dich, während dein blick über das amaturenbrett schweift, bis du in der ablage vor dir ein fotoalbum entdeckst. auf deine frage hin, ob du mal reinschauen darfst, nickt sie und du öffnest die erste seite.
und blätterst.
jedes foto sieht malerisch aus, zeigt meere, sonnenuntergänge, lachende gesichter. ungläubig blinzelst du, da du nicht glauben kannst, dass das alles tatsächlich deine sitznachbarin sein soll.
das langweile mauerblümchen.
in bikini, perfekt geschminkt, herzlich lachend. mal im arm eines anderen, mal allein.
das darf doch nicht wahr sein.
scheinbar nutzt sie die welt doch.
du siehst zu ihr, wie sie irgendwas summt, sich einen schokofleck von der oberlippe leckt und konzentriert den straßenverkehr verfolgt.
wie sähe wohl ihr perfektes “fingerschnips-leben“ aus? ohne augenringe und mit geraden zähnen.
du scheinst laut gedacht zu haben, denn sie erwidert: “das wollte ich früher auch wissen. heute weiß ich es: hätte ich ein perfektes leben, wären diese bilder nicht möglich. aus angst, etwas falsch zu machen.“ sie tippt auf ein bild, auf dem sie einen bikini trägt. ihr bauch wölbt sich und man sieht ihre narben, außerdem trägt sie eine zahnspange.
du schluckst erneut an diesem tag. “man könnte aber meinen, nach deinem klinikaufenthalt hättest du eines“, sagst du, obgleich du weißt, wie oberflächlich das klingt.
dementsprechend empört schnaubt sie auch. “du scheinst die meinung der anderen zu teilen. dass man eine therapie macht, um makellos zu werden und ich versagt hätte. aber dabei ist sinn der sache, mit den makeln umgehen zu können.“
sie klingt aufgebracht und du hörst deutlich die wut in ihrer stimme.
“ich hab mitbekommen, dass du über nacht wohl eine veränderung durchgemacht hast und nun miss/mister perfect bist. aber lass mir dir eins sagen:
mich mögen die menschen vielleicht unterschätzen. doch mit dir tauschen wollte ich nicht. und jetzt entschuldige mich: meine augenringe und ich haben noch was zu erledigen.“
und mit diesen worten hält sie vor deiner haustür, hinter der sich eine perfekte villa befinden wird, wohingegen du die fotos, die dich auf komische weise so beeindruckt haben, zurücklassen musst.
genauso wie das mädchen, das dir plötzlich ein komisches gefühl beschert hat.
perfektionismus.
brauchst du das überhaupt?
dem sonderbaren mädchen zu urteilen nicht. und es wirkt glücklich, als es mit heruntergelassenen fenstern und lauter musik in die unvollkommene ungewissheit rollt.
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