Kollaps

„Ich verstehe, du bist wütend." Seine Augen verengen sich und ich schlucke die nächsten Wörter, die sich schon auf meiner Zunge gebildet haben, herunter.

„Du wirst einen Scheiß machen, Arie. Es ist schon schlimm genug, dass du mich das überhaupt fragst."

Mit diesen Worten hält er die Diskussion für beendet und wirbelt erneut das Lenkrad herum und steuert, wie üblich viel zu schnell, auf unser Ferienhaus zu. Schnell beiße ich mir auf die Lippe. Alles, was ich jetzt noch sagen könnte, würde er als Beleidigung auffassen.

Unser Wochenendausflug ins Gebirge ist eine pure Enttäuschung.

Mit dreiundzwanzig Jahren bin ich nicht selbstbewusst genug, meinem Mann Widerstand zu leisten. Um ein wenig Ruhe und Abstand zu kriegen, habe ich mich bei meinem Job für ein halbes Jahr im Ausland beworben, um unseren neuesten Kunden an der Südküste zu betreuen. Ich habe mit dieser Reaktion gerechnet, die Frustration schlägt mir auf den Magen, das heißt: Mir wird übel.

Meine Finger krallen sich in das Leder meiner Armlehne. Etwas, was ihm nicht gefällt, etwas, was ihn zur Weißglut treibt. Ich würde damit das Polster brüchig machen. Seinen abwertenden Seitenblick kann ich auf mir spüren, aber ich bin nicht bereit für eine weitere Konfrontation.

Als wir das Fahrzeug verlassen und die Lebensmittel ausladen, fällt mein Blick auf eine Tüte, die ich bisher nicht bemerkt habe. Als ich meine Hand danach ausstrecke, schlägt sie mir Jens weg. Der Schmerz durchzuckt meine Finger und ich weiche ein wenig zurück.

„Finger weg, das ist nicht für dich." Ohne einen weiteren Kommentar ergreift er die Papiertüte und ein verheißungsvolles Klirren ertönt.

Eine Gänsehaut überzieht meinen Körper und fassungslos beobachte ich, wie er sich die Schlüssel schnappt und zum Haus stampft.

Eine Ahnung, dass dieses Wochenende nicht so verlaufen wird, wie ich es mir erhofft habe, bricht über mich herein. Ich folge ihm nachdenklich.

Vor zwei Jahren habe ich Jens kennengelernt. Zu der Zeit bin ich ein lebensfroher, aufgeschlossener Mensch gewesen. Meine Hobbys waren mein Leben. Das Wandern, Karate und das Reiten haben mich so lebendig fühlen lassen. All die Dinge machten mir Spaß, aber nichts erfüllte mein Herz mit mehr Freude als das Kämpfen. Sobald sich meine Hände um Stahl, vor allem Dolche, oder das Holz von meinem Kurzbogen legten, schlug mein Herz einen Schlag schneller. Damals hatte ich eine kleine Wohnung abseits der Stadt. Das Wäldchen dahinter wurde zu meinem Übungsplatz und Stunden um Stunden verbrachte ich dort und ging alle Übungen durch, die ich kannte.

Als ich Jens kennenlernte, verflogen aber schnell all diese Leidenschaften.

Ich verliebte mich so über Kopf, dass alles andere aus dem Fokus rückte. Um ihm zu gefallen, zwängte ich mich in viel zu enge Kleider. Für ihn rückte dem Bogenschießen und Schaukämpfen das Abhängen im Fitnessstudio mit seinen versnobten Freunden. Für ihn hängte ich jede einzelne meiner Charakterzüge nacheinander an den Nagel.

Das hört sich erstmal traurig an, aber es war okay. Ich liebte ihn und lange liebte er mich auch. Wir heirateten nach einem Jahr Beziehung standesamtlich an einem Freitag und gingen dann mit seinen Freunden essen und feiern.

Das letztere wuchs ihm immer mehr ans Herz und das damit zusammenhängende Trinken nahm immer mehr Platz in seinem und somit auch in meinem Leben ein.

Unsere Beziehung entglitt mir immer mehr. Da, wo früher Blumen auf dem Tisch ihren Platz fanden, verzierten immer mehr Weinflaschen unseren Esstisch. Mit der Zeit ging er immer mehr alleine los, da ich mit meinem Job nicht so flexibel war wie er als freischaffender Autor. Aus dem Spruch: „Ich gehe doch immer nur am Wochenende los!", wurde schnell ein: „Das erweitert meinen Horizont, du verstehst das nicht. Du darfst mich nicht einschließen!" Und so bekam ich ihn nur noch nachmittags und dann mitten in der Nacht zu Gesicht, wenn er sich schwer atmend ins Bett warf und sein alkoholgeschwängerter Atem mich traf.

Wir hatten unseren Fokus verloren.

Anstatt an unserer Zukunft zu bauen, baute er jede Nacht an seinem Grab. Das Ganze nahm so überhand, dass er Hand an mich legte. Da sich meine Eltern schon für von mir abgewandt hatten und sich fast alle meine Freundinnen und Freunde von mir vernachlässigt fühlten, gab es kaum einen Platz, an dem ich flüchten konnte. Ich vernachlässigte meine Karriere, meinen Körper und schnell fühlte ich mich schlapp und leblos. Jeden Abend kam ich nach Hause, räumte den Dreck von ihm auf und probierte der Alkoholleiche auf der Couch wieder Leben einzuhauchen. Nachdem er sich von mir bekochen und pflegen ließ, verließ er mich. Obwohl ich ihn anflehte, es nicht zu tun.
Das Ganze endete meistens mit einigen Schlägen. Aber schlimmer war der Moment, wenn er zurückkam. Die Nächte wurden immer länger. Manchmal ertappte ich mich bei dem Gedanken, mir zu wünschen, dass er gar nicht mehr nach Hause kam. Als er mich eines Nachts gegen meinen Willen anfasste und er mich schlussendlich dazu zwang, mit ihm zu schlafen, auf eine widerliche Art und Weise, war es genug.

Am nächsten Morgen legte ich ihm die Scheidungspapiere vor. Aber er kriegte mich immer wieder klein. Ob mit Drohungen oder in diesem Fall mit Betteln. Ich gab ihm einen Monat.

Danach spielte er mir 2 Wochen lang vor, dass er sich bessern konnte. Die zwei Wochen des Scheins endeten wohl heute.

Den Rest des Tages verbrachten wir alleine. Er hatte sich oben in sein Büro eingesperrt und ich kochte und bereitete alles vor für heute Abend. Einige Freunde von ihm hatten sich angekündigt.

Viel zu schnell verfloss die Zeit. Vor dem Spiegel hatte ich mir Make-up aufgelegt und das enge schwarze Kleid angezogen, was er mir vor Jahren gekauft hatte.

Frustriert starrte ich meinen untrainierten Körper an. Ich bin nicht dick, eher viel zu dünn. Aber da, wo sich früher meine Muskeln unter dem Kleid abgezeichnet haben, fällt der Stoff locker über meine Arme. Schnell schließe ich meine Augen und drehe mich demonstrativ weg. Meine Schwäche machte mich traurig.

„Heute wird ein guter Tag! Heute muss ein guter Tag werden."

Mit dieser Floskel rede ich mir gute Laune ein und fange an, den Braten in den Ofen zu schieben.

Als es klingelt, streife ich mir hektisch meine Handschuhe von den Fingern und eile zur Tür, doch Jens ist schneller als ich.

Ich prügele mir ein Lächeln auf die Lippen. Plötzlich kann er sprinten und euphorisch die Gäste begrüßen, aber seinen Haushalt schafft er nicht, weil er zu kaputt ist. Mein Magen ballt sich zusammen und schnell schüttle ich meine Hände aus, aus denen sich Fäusten gebildet hatten.

Die Gäste stellen sich als ein befreundetes Pärchen heraus. Max und Joanna sind zwei ehemalige Mit-Studenten. Während Joanna einen ganz sympathischen, wenn auch viel zu aufgedonnerten Eindruck macht, schlägt Max einen ganz anderen Ton an. Während Jens Joanna viel zu lange umarmt und sie fast mit Komplimenten erdrückt, schaut mich Max mit seinen stahlblauen Augen irgendwie gierig an. Seine Umarmung scheint mich zu ersticken, vor allem, nachdem ich ihm nur unterkühlt die Hand reichen wollte.

Der Abend beginnt holprig, beide haben auf dem Hinweg schon gegessen und rühren mein Essen kaum an.

Jens lenkt den Abend und schnell wird der Alkohol ausgeschenkt. Ich bleibe, wie immer, nur bei einem Wasser, was Jens in seiner kindischen Euphorie und mit seiner Art nicht unkommentiert lassen kann.

„Du bist und bleibst auch eine Spaßbremse!" Und ähnliche Kommentare darf ich mir anhören und das Mantra, was ich mir vorhin noch vorgebetet habe, erlischt wie eine überhitzte Glühbirne.

Schnell wird aus dem gemütlichen Abend ein reines Besäufnis.

Nach zwei Uhr beschließe ich, dass ich mich zurückziehen möchte. Doch mein Mann hält mich beschwipst auf.

„Also, ihr wollt doch hier schlafen, oder?"

Seine Hand schließt sich um mein Handgelenk und zwingt mich so wieder auf meinen Stuhl.

„Na ja, fahren kann ich jetzt nicht mehr ..." hickst Max und legt beiläufig eine Hand auf die Schulter von Joanna. Ein kurzes Schweigen tritt ein. Als ich einen weiteren Versuch unternehmen will, den Abend heil in mein Zimmer zu kommen, begräbt Jens das Ganze ein zweites Mal.

„Wisst ihr Mädels, ich hätte da eine kleine Idee. Nur einen Vorschlag."

Neugierig guckt Joanna von Max, zu Jens, zu mir. Eine böse Vorahnung legt sich über mich.

„Was haltet ihr davon, wenn wir heute Nacht Zimmer tauschen."

Ich schließe meine Augen. Das meint er nicht ernst.

„Wie meinst du das?", fragt die reichlich betrunkene Joanna.

„Na ja, seid ihr nicht neugierig, wie es mit jemand anderen ist ...? Ihr wisst schon. Ariel, hier schläft bei Max und ich schlafe bei dir?"

Mit den letzten Worten wackelt er anzüglich mit den Augenbrauen und lächelt die weißblonde Frau vor ihm an. Ungläubig starre ich meinen Ehemann an. War das sein Ernst.

Nur eins hat mich die ganze Zeit noch bei ihm gehalten, trotz seiner verletzenden Kommentare, seines Alkoholproblems selbst über seine offensichtliche Bereitschaft andere Frauen zu daten.

Er hatte mir immer versichert, dass ich die Liebe seines Lebens bin. Aber anscheinend hatte er mich auch darin belogen.

Ohne weitere Worte stehe ich auf. Seine Hand will mich noch festhalten, aber ich weiß nicht woher; plötzlich spüre ich eine Kraft in mir, die ich schon fast vergessen hatte.

Mit einem Ruck löse ich mich von ihm. Drehe mich um und gehe auf die Treppe zu. Er hält mich nicht mehr auf.

Die ersten Schritte fallen mir noch schwer, doch je weiter ich mich von ihm entferne, desto leichter wird mir.

Die Nacht verbringe ich eingeschlossen in meinem Zimmer. Als es kurz noch einmal an meiner Türe Klinke ruckelt und ein beschwipster Max etwas über: „Deal ist Deal!", schwafelt, ziehe ich einfach nur meine Bettdecke über den Kopf. Mit nassen Wangen schlafe ich schließlich eingerollt ein.

Um sechs schnappe ich mir alle meine Sachen und fahre nach Hause. Auf den Weg nach unten kann ich sehen das Max auf der Couch geschlafen ist. Joana kann ich nirgendwo entdecken, aber den Rest kann ich mir denken.

Der Schmerz, den ich empfinde, nimmt mir den Atem, aber seit langer Zeit habe ich das Gefühl, mich loszusagen und das Richtige zu tun.

Mit dem Auto bin ich innerhalb von zwei Stunden zurück in unserer kleinen Wohnung. Alles einzupacken ist schwerer als ich gedacht hätte. Immer wieder kommen mir die Tränen und ich komme schlecht voran. Ständig fallen mir Gegenständer herunter und durch den Tränenschleier kann ich schlecht sehen.
Schließlich, als ich zwei Koffer voll mit meinen Klamotten und den wichtigsten Dokumenten zusammen habe, will ich die erste Fuhre in meinen kleinen Mini laden.

Der erste Koffer gelingt mir gut, der zweite ist schwerer und ich keuche und schwitze, als dieser endlich im Auto landet. Seufzend wische ich mir die Tränen und den Schweiß aus dem Gesicht. Während ich die Hände an meinen Hosenbeinen abwische, fällt mein Blick auf einen Mercedes, der in diesem Moment nur zwei Meter hinter mir parkt. Irgendetwas beunruhigt mich daran, doch sobald ich den Gedanken fassen kann, ist es schon zu spät. Die Autotür wird aufgerissen und zwei kräftige Arme schleudern mich gegen mein Auto. Jens ist gekommen.

Seine wütende Fratze ist nur wenige Millimeter von mir entfernt. Seine Hände halten mich fest wie Stahl und ich keuche vor Schmerz auf.

„So willst du es also machen. Mich verlassen, heimlich, still und leise. Ich wusste doch, dass da etwas im Busch ist, hä" bei dem letzten Wort landet ein Spucke-Tropfen in meinem Gesicht. Er knallt mich wieder gegen das Blech. Ich kneife meine Augen zusammen und fange an zu zittern. Mein Rücken schmerzt und da, wo er mich festhält, bildet meine Haut rote Striemen.

„Bitte, lass uns darüber reden." Ein kläglicher Versuch angesicht des zorn-roten Gesichts meines Mannes.

„Darüber reden? Du hast sie wohl nicht mehr alle. Du bist meine Frau!"

Die Ohrfeige kommt schnell und meine Wange brennt, bevor ich etwas dagegen tun kann. Wut und Angst ballen sich in meinen Magen. Ich fange an, nach einem Gegenstand zu tasten, irgendwas, was ich ihm gegen den Kopf hauen kann. Wenn ich doch nur in dieses Auto kommen könnte, ich wäre weg, weg von ihm. Alles in mir sehnt sich danach, ihm zu entkommen, dieses Leben hinter mir zu lassen. Ich möchte wieder ich selbst sein, weg von all diesen engen Kleidern, weg von den Partys, weg von meinem deprimierenden Bürojob. In meinem Tagtraum sehe ich mich durch den Wald rennen, mit den Bogen auf die Jagd gehen, meine Freiheit wieder erlangen.

Meine Finger erreichen eine Vase, die ich lose in meinen Kofferraum gepackt hatte.

„Jens, lass sie los."

Das ist Joanna, die sich gerade aus dem Mercedes schält. Anscheinend scheint doch noch ein Funken Menschlichkeit in wenigstens einem von den Dreien zu stecken.

Aber da ist es schon zu spät. Die kurze Ablenkung hat gereicht, sein Griff lockert sich. Meine Hand schnellt vor und die Vase zerberstet an seinem Dickschädel. Seine Hände verschwinden und er fällt vor mir auf die Knie. Der Druck um meine Schultern legt sich und meine Füße berühren den Boden wieder. Ich lasse mir keine Zeit, durchzuatmen oder mich zu sammeln. Ohne weitere Worte zu verlieren, schnappte ich mir die Autoschlüssel, die auf dem Boden liegen; ich will nur noch weg. Als ich den Türgriff in der Hand habe, spüre ich allerdings erneut Arme, die sich wie eine Schlinge um mich ziehen. Ich werde hochgehoben und aus den Augenwinkeln kann ich Max' hochgeegelte Frise erkennen.

„Nicht so schnell, wir haben noch eine Rechnung offen!" Ich schreie auf und trete mit allem, was ich habe, um mich. Ich muss hier weg, das kann nicht das Ende sein.

Wie wild kämpfe ich gegen ihn an, mir ist alles egal. Meine Panik lässt mich über mich hinaus wachsen. Er stolpert, ich scheine es ihm schwer zu machen, mich festzuhalten. Hinter uns jagt ein Auto nach dem anderen vorbei. Wieder schwang ich meine Beine, doch dieses Mal schaffte ich es, den Boden zu erreichen. Jens hatte sich inzwischen mit der Hilfe von Joanna aufgerichtet und kommt mit blutüberströmtem Gesicht auf mich zumarschiert:

„Du!", knurrte er und mein Blut erstarrt in den Adern. Ein Gefühl sagt mir, dass, wenn ich es jetzt nicht schaffe zu fliehen, ich den heutigen Tag nicht überleben werde.

Mit einer Bewegung habe ich mich befreit, meine Zähne haben sich in Max' Arm versenkt und er lässt mich mit einem Ruck los. Ohne weiter einen Gedanken an ihn oder die anderen zu verlieren, drehe ich mich auf dem Absatz um und hetzte über die Straße, sein Geschrei in meinen Ohren.

Ich komme bis zur Hälfte, dann höre ich ein laut und lang gezogenes Hupen.

Erschrocken bleibe ich stehen. Meine Sinne können gerade noch den gewaltigen Koloss eines LKWs einfangen, das panische Gesicht des Fahrers, das verbrannte Gummi der quietschenden Reifen. Dann geht alles ganz schnell.

Ein Ruck durchzieht mich und schleuderte mich ins Nichts; mein ganzer Körper scheint in sich zu implodieren; es fühlt sich an, als würden alle meine Nervenstränge auf einmal reißen und eine Stille umfängt mich. Der Schmerz löste sich in Nebel auf und ich verliere das Bewusstsein. Mein letzter Gedanke gilt nicht Jens oder seinen Freunden. Ich verliere mich in einem großen Wald voller Tiere, Gerüche und ganz viel Licht. Dann wird alles schwarz.

***

Hallöchen!

nach langer Pause wage ich mich an mein nächstes Projekt. Die Geschichte handelt von Mittelerde und alles was damit zusammenhängt. Ich habe keine Rechte an den Charakteren von Tolkien. Ich behalte mir nur die Rechte für meine Charaktere vor.

Falls ihr Anmerkungen, Fragen oder Kritik habt. Bitte immer raus damit. Ich freue mich über jedes Feedback.

Die Geschichte existiert bereits unter meinem Account in Fanfiktion.de. Dort ist sie unter dem Titel: Auf der Suche nach dem Glück zu finden.

Danke fürs Lesen und liebe Grüße!

Mia


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