Kapitel 6
Das Lehrerzimmer ist für die Außenwelt der wohl sagenumwobenste Raum einer Schule.
Der Zutritt ist den Schülern strengstens verboten. Will ein Schüler etwas von einem Lehrer, schließt dieser schnellstmöglich die Tür hinter sich oder lässt sie nur einen Spalt weit offen, damit der Unbefugte auch ja keinen Blick erhaschen kann. Was dort geschieht und getan wird, ist eines der bestgehütetsten Geheimnisse der Schulgeschichte. Und genau deshalb ranken sich so viele Mythen darum.
Verlieren Lehrer, nachdem sie die Tür zum Lehrerzimmer durchschritten haben, ihre menschliche Gestalt und werden zu schlitzäugigen Reptilienwesen? Hängen dort Hängematten und gibt es eine Cocktailbar? Feiern die da drinnen Orgien? Drogenpartys? Okkulte Riten und Opferzeremonien?
(Alles übrigens Schülertheorien)
Tatsache ist: Wir lassen da niemanden rein, weil es der einzige Rückzugsort ist, an dem man seine Ruhe hat. Keine Verantwortung, keinen der deinen Namen kreischt. Nur literweise Kaffee und himmlische Ruhe.
Viele Klischees über Lehrerzimmer entsprechen aber auch der Wahrheit. Hier wird gnadenlos über Schüler hergezogen, und zwar mit einem Vokabular, das manchen Ghettogangster vor Neid erblassen ließe. Über Kollegen, und besonders beliebt: die Schulleitung, natürlich genauso. Es wird sich beschwert, aufgeregt, gejammert. Manche tun sogar, als würden sie arbeiten, aber die kann eh keiner leiden (Dazu gehöre ich.). Letztendlich sind wir tatsächlich auch nur Menschen. (Obwohl ich mir bei manchen Kollegen noch nicht hundertprozentig sicher bin, ob sie nicht doch verkappte Reptiloide sind).
"Zeitverschwendung!", brummt Ms Boettger, die halbherzig an ihrer Unterrichtsvorbereitung sitzt, "Diese Vollidioten raffen's doch eh nicht."
"Zum Glück sind's nur noch zwei Jahre bis zur Rente.", seufzt Mr Kowalski. Ms Can und Mr Yenn nicken zustimmend. Andächtig schlürfen sie ihren Kaffee.
"Wollte Jones nicht diesen dämlichen Ball streichen? Verdient haben die's nicht, dass wir uns hier noch den Arsch aufreißen. Gestern erst hat einer dieser Taugenichtse die gesamten Toiletten auf dem zweiten Flur verstopft. War ne elende Schweinerei.", wirft Mr Wright in die Runde. Kopfschütteln und resigniertes Seufzen bei den anderen.
Ach ja. Diesen Freitag findet der Ball zum Auftakt des neuen Schuljahres statt. Eigentlich kann man den gar nicht vergessen, schließlich erinnern an jeder Ecke knallige Plakate an dieses Ereignis.
Ich schaue kurz von meinen Korrekturen auf, in die ich so vertieft war, dass ich die Gespräche nur am Rande mitbekommen habe. Meine 10. hat tatsächlich erstaunlich gute modernisierte 'Romeo und Julia'-Monologe verfasst. Einige würden sogar Eminem Konkurrenz machen- und ich halte viel von Eminem und seinem poetischen Talent.
"Gibt es eigentlich eine Theater-AG bei uns?", frage ich in die Runde.
Alle fünf Kollegen starren mich an, als hätte ich mir den Kopf gestoßen und würde jetzt alle Worte rückwärts aussprechen.
"Theater?", wiederholt Boettger zynisch, "Die wissen doch nicht mal, was das ist."
"Früher...früher hatten wir eine. Aber heutzutage kannst du sowas nicht mehr machen.", erläutert Kowalski milde lächelnd.
"Hm.", mache ich und klopfe mir mit dem Kuli nachdenklich ans Kinn.
Warum eigentlich nicht? Warum nicht mal was machen, was Spaß macht?
Ich schlage meinen Planer auf und begebe mich mit Feuereifer an die Projektplanung, die ich Jones vorlegen kann.
Da mehrere Kollegen krank sind, wurde ich für die große Pause zur Aufsicht verdonnert. Wie ein Luchs schleiche ich über den Hof und beziehe letztendlich Stellung bei den Tischtennisplatten, um einen guten Überblick zu haben.
Ehrlich gesagt, hasse ich Pausenaufsichten. Man muss die Augen überall haben und trotzdem ist es schier unmöglich, hunderte durcheinander wuselnde Halbwüchsige, die nur auf die Gelegenheit zu warten scheinen, dass man mal kurz wegsieht, im Blick zu behalten. Ungeachtet dessen, muss man für jeden Mist, der unter dieser Verantwortung passiert, gerade stehen.
Ich eile zu einer brüllenden Gruppe Schüler, die sich gerade in die Wolle kriegen. Seit meinem letzten Schlägereierlebnis bin ich ein ein wenig vorsichtiger geworden. Zum Glück lassen sich die Schüler schnell auseinander treiben und das Knäuel löst sich auf.
Genervt brumme ich vor mich hin und streiche mir ein paar Haarsträhnen aus der Stirn, auf der sich bereits Schweißperlen gesammelt haben. Ein bisschen Hilfe wäre nett. Laut Plan, müsste ich auch nicht allein hier stehen. Aber Mr Pausenaufsichten-sind-unter-meiner-Würde Walker ist weit und breit nicht in Sicht. Habe ich schon erwähnt, dass ich Unzuverlässigkeit hasse wie die Pest?
Mürrisch kehre ich zu meinem Tischtennis-Aussichtsposten zurück, als ich Negans hochgewachsene Gestalt auf mich zu schlendern sehe. Oh, hat er sich doch noch entschieden, seinen Job zu machen? Das ist aber auch zu freundlich.
Vorwurfsvoll blicke ich ihm entgegen, während er mich unbeirrt angrinst, so, als wäre er aus Zufall vorbei gekommen.
Er wedelt mit der Hand, um ein paar jüngere Schüler von der Tischtennisplatte zu vertreiben. Murrend räumen die Kinder ihren Spielplatz und Negan macht es sich prompt auf der Platte gemütlich.
"Du bist zu spät", ermahne ich ihn und kommentiere sein Treiben mit einem missbilligenden Kopfschütteln.
"Meine Lieblingskollegin, pünktlich, besserwisserisch und streberhaft wie immer."
Er schlägt die Beine übereinander und wippt leichthin mit den Füßen. Offensichtlich hat er eine etwas andere Auffassung von seinen Verpflichtungen, als ich.
Täusche ich mich, oder sind die Schüler seit Negan den Pausenhof betreten hat, leiser geworden? Dabei scheint er sich nicht im Geringsten für das Treiben der Schüler zu interessieren. Stattdessen gebührt mir die Ehre seiner ungeteilten Aufmerksamkeit. Seine dunklen Augen haben mich ins Visier genommen, um seinem Mund spielt das mir bereits bestens bekannte leichte Lächeln.
Ich werde das Gefühl nicht los, dass er sich innerlich über mich totlacht.
Sein Interesse wird einen Moment von Schülern, die breite Banner am Schulzaun befestigen, abgelenkt. In schnörkeliger Schrift wird hier erneut für den Schulball geworben. Ich verstehe nicht, warum die Kids so scharf darauf sind, hab ich schon als Schülerin nicht verstanden. Der einzige Ball, auf dem ich war, ist mein Abschlussball gewesen und der war grässlich. Wenn ich schon allein an das pinke Tüllkleid denke, das ich damals getragen habe, schüttelt es mich.
"Kommst du eigentlich zum Schulball?", fragt er beiläufig und deutet mit dem Daumen auf das Plakat.
"Ganz bestimmt nicht!"
"Och, nicht doch. Dieser Schulball ist deinen Schülern verdammt wichtig. Und du betonst doch immer, wie sehr dir diese Plagen am Herz liegen. Also wenn sie dir wichtig sind, muss dir auch der Ball wichtig sein."
Dass diese Argumentation gewaltig hinkt, ist ihm wohl selbst bewusst, so wie es in seinen Augen blitzt. Trotzdem hat er mich am Haken. Eine Sekunde lang, denke ich tatsächlich darüber nach, dass es die Schüler freuen würde, wenn ein paar Lehrer kommen...
"Sehr schön, dann ist das abgemachte Sache. Und ich hole dich ab. Wenn du in deiner Schrottkiste vorfährst, ist das ja peinlich.", beschließt er fröhlich.
"Moment mal", rufe ich entrüstet dazwischen, "Ich hab noch nicht mal zugesagt!"
Negan quittiert meinen Einwurf mit einem unschuldigen Blinzeln.
"Nicht? Mir war so, als würdest du deinen Schülern zuliebe kommen."
Ich seufze ergebens. Mein Blick fällt wieder auf das Plakat am Zaun. Eigentlich ist es eine gute Gelegenheit, Kollegen und Schüler näher kennen zu lernen. Zur Not kann ich ja beizeiten wieder gehen. Ich seufze erneut.
"Also schön.", brumme ich.
Ein triumphierendes Lächeln zieht über sein Gesicht.
"Geht doch.", er beugt sich leicht zu mir, erneut blitzt es in seinen Augen, "Es ist übrigens bei Strafe verboten, mit diesen züchtigen, langweiligen Fetzen, die du immer trägst, dort aufzukreuzen.", er zupft kurz an meiner dunklen, hochgeschlossenen Bluse, eines meiner Lieblingskleidungsstücke, "Ich persönlich hab ja nichts dagegen, wenn Frauen sich so kleiden, dass man seine Fantasie ein wenig spielen lassen muss, aber ich hab diese Regeln ja nicht gemacht..."
Ich mustere ihn aus zusammengekniffenen Augen. Jetzt erdreistet er sich auch noch, meinen Kleidungsstil zu kritisieren, verpackt in eine ebenso dreisten Anmache. Also wirklich. Dass ich mir das überhaupt anhöre.
"Ich werde bestimmt nicht in einem Hauch von Nichts auf einem Schulball auftauchen.", gebe ich bissig zurück.
Negan tut, als wäre er die Unschuld in Person. Er hat eine harmlose, fast jungenhafte Miene aufgesetzt.
"Ach, hast du sowas in deinem Kleiderschrank?", fragt er hoffnungsvoll, "Es heißt ja immer, dass die, die sich nach außen immer als prüde und korrekt geben, am meisten die Sau rauslassen können. Dass in ihnen ein kleines Luder schlummert- ist das bei dir so?"
"Keine Sorge.", entgegne ich trocken und zerplatze seine Illusion hoffentlich wie eine Seifenblase, "Ich bin immer prüde und korrekt."
Negan schüttelt grinsend den Kopf. Seine Seifenblase besteht offenbar aus resistentem Gummi.
"Aaah, nein, das glaub ich dir nicht. Da ist doch bestimmt etwas, was du versuchst zu verheimlichen, was Schmutziges... Was ist es nur, was ist es nur?", überlegt er laut,
"SM? Bondage? Swinger? Gangbang? Ich tippe ja auf..."
Ich starre ihn entrüstet an. Jetzt sind wir also bei meinen sexuellen Vorlieben angelangt. Genau die Themen, die man während einer Pausenaufsicht bespricht, wenn man sich gerade mal eine Woche kennt. Was kommt wohl als nächstes? Und will ich das wissen?
"Hör auf, mir wird noch schlecht.", fahre ich dazwischen, bevor seine Fantasie noch mehr mit ihm durchgeht, "Und ich wüsste auch nicht, was dich das anginge."
"Leute, die so etwas sagen, haben definitiv etwas zu verheimlichen.", kichert er und sieht mich wissend an, "Aber um zum Wesentlichen zurück zu kommen: Wenn du nichts Anständiges zum Anziehen hast, besorg ich dir was. Man sagt mir nach, ich hätte einen ausgeprägten Sinn für Stil."
Mir fällt auch so einiges ein, was man ihm nachsagen könnte. Stil gehört nicht dazu. Dieser Kerl ist unmöglich. Noch nie hatte ich mit jemanden zutun, der so schamlos und vollkommen unbeeindruckt eine Grenze nach der anderen überschritten hat. Ist an ihm sämtliches Taktgefühl, sämtlicher Anstand, jegliche Sensibilität vorbei gegangen? Stil. Das ich nicht lache. Für ihn beschreibt dieses Wort wahrscheinlich das Ende eines Besens.
Ich winke ab.
"Lass mal. Ich habe keine Lust auszusehen, wie die strenge Lehrerin in einschlägigen Erwachsenenfilmen."
"Einschlägige Erwachsenenfilme?", wiederholt er mit hochgezogenen Brauen, "Bist du wirklich so verklemmt, dass du nicht mal das Wort 'Porno' in den Mund nimmst?"
"Man muss nicht alles in den Mund nehmen."
"Aber bei mir darfst du alles in den Mund nehmen."
Also jetzt kann ich mir ein Stöhnen nicht mehr verkneifen. Negan lacht sich mittlerweile nicht mehr nur innerlich tot.
"Negan, wir befinden uns gerade auf einer Kommunikationsebene, die weder unserem Berufsstand angemessen noch..."
Er hebt abwehrend die Hände.
"Rede gar nicht weiter.", sagt er noch immer kichernd, "Ich hab's kapiert. Du bist nicht in Flirty-Dirty-Stimmung. Ich hoffe, am Freitag ist das anders.", er zwinkert mir zu und rutscht von der Tischtennisplatte, um kurz vor mir zum Stehen zu kommen und grinsend auf mich herab zu blicken.
Sein Aftershave steigt mir in die Nase. Herb und irgendwie doch süß. Der Geruch erinnert mich unwillkürlich an meinen Großvater. Er wohnte an der malerischen Küste Maines, wo ich viele Ferientage meiner Kindheit verbrachte.
Ich habe es als Kind geliebt, auf dem Badewannenrand zu sitzen und ihm bei der Rasur zuzusehen. Er rasierte sich sein Leben lang mit dem Messer, welches eine besondere Faszination auf mich ausübte. Es war so scharf, dass man Papier damit zerschneiden konnte und glitt dennoch sanft über die zarten Hautstellen. Mein Großvater hat sich nie damit geschnitten. Wenn ich an meinen Grandpa denke, denke ich automatisch an seine kleine Bibliothek, in der es immer nach Leder und altem Papier gerochen hat. Dort saß ich bereits, bevor ich überhaupt lesen konnte, stundenlang, blätterte ehrfüchtig in den alten Büchern, ließ die rauen, vergilbten Papierseiten durch meine Finger gleiten und fragte mich, welche Welten sich wohl hinter all den schwarzen Punkten und Strichen darauf verbergen mochten.
Und ich denke an das, was vor der Haustür seines Häuschens lag:
Zerklüftete Klippen und reißende Windböen. Salzige Meeresluft und spitze Kieselsteine unter den Schuhen. Verwitterte, algenbedeckte Holzpfähle und sengende Sonnenstrahlen.
Wie ich darauf komme, ist mir unerklärlich, aber diese Assoziationen sind die schönsten, die je durch den Geruch eines Menschen bei mir ausgelöst wurden.
Verwirrt sehe ich zu ihm auf, versuche mich auf das, was er sagt, zu konzentrieren.
"Denn, wenn du es wagst, in so einer Omatracht anzutanzen, zieh ich dir das höchstpersönlich wieder aus...", fährt er ernster, fast drohend, fort, "und dann kleide ich dich ein."
Sein Blick bohrt sich in mich und plötzlich beginnt es, zu knistert. Als würde Strom zwischen uns fließen. Da ist eine undefinierbare Spannung, keine von der unangenehmen Sorte, sondern viel mehr... Anziehung. Ja, sein Blick, sein Geruch, sein Lächeln, all das kommt mir auf einmal reizvoll und aufregend vor. Trotz seiner Nähe, kommt es mir vor, als wäre er zu weit weg. In mir steigt der Wunsch auf, diese Distanz zu überbrücken, ihn zu berühren...
Ich schlucke schwer.
Stop. Allein für diese Gedanken sollte ich mich ohrfeigen.
"Vielleicht.", fügt er mit rauer Stimme hinzu. Dann ist das Lächeln wieder da, das Knistern ist verschwunden, als wäre es nie dagewesen. Nur mein trommelndes Herz erinnert mich noch daran.
"Ich muss jetzt in die Turnhalle flitzen. Denk dran, mir ein Zettelchen mit deiner Adresse ins Fach zu legen- mal einfach ein Herzchen drauf, damit ich weiß, dass es von dir ist. Und vergiss es nicht- sonst muss ich zu Jones und ihn danach fragen, was ich ungern tun würde. Ich versuche die Interaktion mit diesem Frettchen auf ein Minimum zu reduzieren."
Er joggt davon und winkt mir noch mal kurz zu.
Die Pause ist erst in zehn Minuten vorbei. Kommt zuletzt und geht zuerst. Und hat mich so um den Finger gewickelt, dass es mir viel zu spät aufgefallen ist.
Dieser ausgebuffte Arsch.
Unschlüssig stehe ich vor den Fächerablagen im Lehrerzimmer, in der einen Hand meine Grobplanung der Theater-AG, in der anderen ein kleiner Notizzettel mit meiner Adresse. Beide Blätter wiegen schwer in meinen Händen. Seufzend lege ich Jones das Blatt ins Fach. Mehr als ablehnen kann er's ja nicht.
Mein Blick fällt auf den Notizzettel. Ist das wirklich klug? Nach allem, was bisher, was heute war? Will ich wirklich mit Negan auf diesen Ball gehen?
Es ist ein blöder Schulball, schelte ich mich, er wird schon nicht auf der Tanzfläche über dich herfallen.
Und wenn doch?
Und wenn nicht?, fragt die leise, böse Stimme in mir.
Gott, was ist nur mir mir los? Das ist alles vollkommen harmlos und ich bin eine riesige Idiotin, wenn ich da mehr hinein interpretiere. Negan ist ein Spieler und ich bin sein neues Spielzeug. Das war's.
Stefanies Rat kommt mir wieder in den Sinn: Hab Spaß, spiel ein bisschen mit.
Schnell lege ich das Zettelchen in die Ablage, die mit dem Schildchen 'Walker' beschriftet ist und flüchte aus den Zimmer, als hätte ich dort nicht meine Adresse, sondern eine Bombe, zurückgelassen.
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