Kapitel 4

Mit einem mulmigen Gefühl betrete ich am nächsten Morgen das Schulgebäude. Es ist ja nicht so, als hätte mich gestern einer von meinen Schülern zu Boden geschlagen.
Es ist ein seltsames Gefühl. Ich bin noch nie mit Angst in ein Klassenzimmer gegangen. Mit Nervosität, Unsicherheit, Sorge- ja. Aber nie hatte ich Angst vor meinen Schülern oder vor dem, was kommt. Immer war klar, dass ich die Erwachsene, die Lehrerin, wenn man es so will, die Autorität, bin. Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Es scheint, als wäre mein Weltbild in seinen Grundfesten erschüttert. Gestern wurde eine Grenze überschritten. Eine Grenze, die in meiner bisherigen Berufslaufbahn so weit entfernt war, dass ich gar nicht wusste, dass sie existiert.
Mir ist bewusst, dass ich eigentlich dafür sorgen müsste, dass zumindest Keve der Schule verwiesen wird. Tadel, Schulverweis, Anzeige- dies wären angemessene Strafen. Trotzdem habe ich bisher nichts dergleichen getan- warum, weiß ich selbst nicht.

Gestern Nachmittag habe ich sofort meine Kündigung verfasst. Abgeschickt habe ich sie zwar noch nicht, aber die Zweifel wachsen. Ich will keine Angst haben, wenn ich die Schule betrete. Ich will bei meinen Kollegen und Schülern nicht auf eine Mauer der Ignoranz stoßen. Die Boushall ist, wie es scheint, eine Nummer zu groß für mich. Ich stehe kurz vor der Kapitulation.
Es ist nur so verdammt schwer, sich eine Niederlage einzugestehen.

Als ich das Klassenzimmer meiner 10. betrete, ist irgendetwas anders.
Es dauert eine ganze Weile, bis ich begreife, was es ist: Es sitzen tatsächlich alle Schüler an ihren Plätzen. Obwohl es noch nicht mal geklingelt hat! Und es ist muchsmäuschenstill.
Iritiert starre ich die Jugendlichen vor mir an. Keiner von ihnen hat ein Handy in der Hand. Oder sonst etwas. Der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schießt, ist, welche Teufelei sie jetzt wohl wieder aushecken. Dieser plötzliche Gehorsam weckt in mir absolutes Misstrauen. Und allein das bestätigt mich in meinem Gedanken, die Boushall wieder zu verlassen. Man sollte nicht misstrauisch werden, wenn Schüler sich so verhalten, wie sie eigentlich sollen.

Das Klingeln reißt mich unsanft aus meinen resignierten Gedanken, ich zucke sogar zusammen.
"Äh...Guten Morgen.", stammle ich in die ungewohnte Stille hinein.
"Guten Morgen, Ms Manning.", schallt es im Chor zurück. Beinahe wäre mir die Kinnlade runter geklappt. Wollen die heute wirklich Unterricht machen? Oder mich verarschen?
Die beste Möglichkeit, das herauszufinden, ist wohl einfach weiter zu machen.
Ich räuspere mich und parke eine meiner Pobacken auf dem Lehrerpult. Dann klatsche ich den Mädchen vor mir ein Heftchen vor die Nase.
"William Shakespeare. Einer der größten Autoren des Viktorianischen Zeitalters, vielleicht sogar aller Zeiten.", erkläre ich, "Seine Werke sind voller Witz, Wortspielereien, sie sind aber auch blutig, tragisch, grausam- müsste also genau euer Ding sein."
Einige Schüler lachen sogar.
"Wir werden uns in den nächsten Stunden seinem Werk 'Romeo und Julia' widmen. Romeo und Julia haben die Zeiten bis heute überdauert- jeder kennt sie. Warum? Weil sie sich ineinander verliebten, obwohl es nicht sein durfte. Ihre Elternhäuser waren verfeindet, was eine Beziehung der beiden unmöglich machte. Bereits als sie sich ineinander verliebten, wussten sie daher, dass das ihren Tod bedeuten würde.
Tiffany- liest du bitte mal den Prolog vor?"

"Zwei Häuser waren - gleich an Würdigkeit -
Hier in Verona, wo die Handlung steckt,
Durch alten Groll zu neuem Kampf bereit,
Wo Bürgerblut die Bürgerhand befleckt.
Aus dieser Feinde unheilvollem Schoß
Das Leben zweier Liebender entsprang,
Die durch ihr unglückselges Ende bloß
Im Tod begraben elterlichen Zank.
Der Hergang ihrer todgeweihten Lieb
Und der Verlauf der elterlichen Wut,
Die nur der Kinder Tod von dannen trieb,
Ist nun zwei Stunden lang der Bühne Gut;
Was dran noch fehlt, hört mit geduldgem Ohr,
Bringt hoffentlich nun unsre Müh hervor."

Die Kinder lauschen gebannt den Worten. Ich kann es immer noch nicht fassen. Wir machen tatsächlich Unterricht! Beinahe hätte ich einen Freudensprung vollführt.
"Bevor wir uns den Worten Shakespeares mit 'geduldgem Ohr' widmen-", fahre ich fort, "Glaubt ihr, dass verbotene Liebe auch heute noch ein Thema ist?"
Keves Hand schnellt in die Höhe. Ich blinzle ihn erstaunt an und bin so geplättet, dass ich ihm nur schwach zunicken kann.
"Ja. Ich hab's selbst erlebt.",erzählt er, "Ich hab mich in ein Mädchen verliebt. Ihr Vater ist Anwalt und ich glaub, ihre Mutter auch. Die wollten nicht, dass wir zusammen sind. Meinten, ich wär nicht gut für sie. Schlechter Einfluss und so."
Er seufzt und lässt die Schultern hängen.
"Und wie ist es ausgegangen?", frage ich leise.
"Wir haben uns heimlich getroffen. Irgendwann hat's ihr Vater rausbekommen. Er hat die Bullen auf mich gehetzt. Ich hab immer mal ein bisschen gedealt, wissen Sie, daher haben sie mich drangekriegt. Ich wäre wirklich fast in den Knast gegangen, wegen diesem Arschloch. Ich hab sie seitdem nicht mehr gesehen."

Nachdem Keve fertig ist, herrscht absolute Stille im Klassenzimmer. Einige nicken betreten, ein paar Mädchen seufzen gerührt. Dann gehen weitere Hände in die Höhe.
Es ist nicht nur, dass die Kids heute lernwillig und interessiert sind. Es ist, als würden 'Romeo und Julia' in diesem Moment wieder aufleben. Die Geschichte wird so real und aktuell wie eh und je. Ihre bittersüße Tragik, den Schmerz, scheint jeder in diesem Raum zu kennen, schon gefühlt zu haben.
Es ist todtraurig und wunderschön zugleich.

Den ganzen Tag bin ich von meinem Unterrichtserlebnis absolut geflasht. Anders kann man es nicht sagen. Ich bin schlichtweg platt.
Die restlichen Stunden rauschen an mir vorbei wie im Flug und ich könnte jetzt nicht mehr genau sagen, was ich da überhaupt gemacht habe. Plötzlich ist Feierabend.
Unschlüssig stehe ich im Klassenzimmer und schaue den Schülern hinterher. Was für ein Tag! Heute morgen wollte ich aufgeben und jetzt habe ich das Gefühl, die ganze Welt umarmen zu können. So wie es aussieht, liegen Niederlage und Sieg an der Boushall nah beieinander.

Auf meinem Weg zum Parkplatz, komme ich an der Turnhalle vorbei. Na gut, ich geb's zu- ich bin einen kleinen Umweg gelaufen. Schließlich müsste jetzt 'Nachsitzen' sein und mich interessiert, wie Walker das macht. Schon von Weitem riecht man das typische Schweiß-Gummi-Staub-Gemisch von Turnhallen. Schuhe quietschen über den Boden, es hat also bereits begonnen.
Ich bleibe am Türrahmen stehen und werfe einen Blick in die Halle.

Negan steht breitbeinig vor den fünf Jungs, die sich mit gesenkten Köpfen vor ihm aufgereiht haben. Er mustert sie streng.
"Ich werde euch jetzt ne kleine Rede halten.", beginnt er leise, "Und ihr werdet ganz sorgfältig lauschen. Währenddessen Sit-ups! LOS!"
Die Jungs lassen sich augenblicklich auf den Boden fallen und tun wie geheißen.
"Keve, schneller. Mitzählen. Fünf! Sechs! Ja, nicht schwächeln. Das hier ist erst der Anfang!"
Er beginnt, die bereits keuchenden Jungen mit auf dem Rücken gekreuzten Armen zu umkreisen, wie ein lauerndes Raubtier.

"Schade, dass ihr hier seid. Wir hätten wohl alle gerade besseres zu tun, als hier unsere Zeit zu verplempern.", seine Stimme ist jetzt laut und schneidend, "Ich auf jeden Fall. Ihr könnt mir also glauben, dass ich gewaltig angepisst bin. Stellt euch auf ne verdammt harte Zeit ein."
Er drückt Keve, der schummeln wollte, zurück auf den Boden.
"Diese Scheiße kannst du gleich stecken lassen. Du fängst jetzt wieder von vorne an. Eins! Zwei! Drei!"

"Ich nehme diese ganze Scheiße persönlich. Euch prügeln, eine Lehrerin ausknocken- ist das euer Scheißernst?
Ihr wisst, dass ihr jederzeit zu mir kommen könnt. Ihr wisst, wo ich wohne. Dass ich noch nie einen von euch weg geschickt habe. Dass ich euch gerne im Tischtennis abzocke und mir dabei eure Scheißprobleme anhöre. Dass ich mir den Arsch für euch aufreiße."
Er macht eine kurze Pause, starrt unnachgiebig auf die Teenager herab, die sich vor ihm quälen.
"Wer 50 hat, macht kurz Pause. Dann 30 Liegestütze."
Alle, außer Keve, lassen sich seufzend auf den Boden fallen und bleiben reglos liegen.

"Für dich, Keve,", fährt Negan fort, "Hab ich vor Gericht ausgesagt und damit deinen jämmerlichen Arsch vor dem Knast bewahrt.
Für dich, Tyson, hab ich die Sache mit deinem Dad geklärt.
- Nur um ein paar Beispiele zu nennen. Ich könnte noch etliche weitere aufzählen.
Ihr seid mir also verdammt noch mal schuldig, euch zusammenzureißen! Dafür zu sorgen, nicht von dieser Schule zu fliegen! Euch nicht ständig Ärger einzubrocken, den ich dann ausbaden darf!
Aber nein, ihr verhaltet euch, als hättet ihr euch nun auch die letzten Hirnzellen weggekifft! Da könnt ihr mich auch gleich in den Arsch ficken- die Message ist nämlich dieselbe."

Die Jungen sehen schuldbewusst zu Negan auf.
"Es tut mir leid, Sir.", gibt Keve, der auch endlich fertig geworden ist, schließlich schuldbewusst zu.
"Mir auch, Sir.", schließt Tyson sich ihm an. Die anderen drei folgen.

Beeindruckt beobachte ich, was in der Turnhalle vonstatten geht.
Verdammt! Wie konnte ich mich so dermaßen in Negan täuschen?
Die Schüler sind ihm nicht egal. Ganz und gar nicht. Wenn nur die Hälfte davon, was er gerade gesagt hat, stimmt, geht sein Engagement weit über seine schulischen Verpflichtungen hinaus. Und so, wie die Schüler sich verhalten, zweifle ich nicht daran, dass sie ihn dafür schätzen. Statt ihnen mit Schulverweisen zu drohen, sorgt er dafür, dass sie ihre Fehler einsehen. Das was er hier tut, ist unorthodox, aber genial.

"Liegestütze!", befiehlt Negan, während meine Gedanken weiter kreisen und ohne auf die Entschuldigungen weiter einzugehen. Wieder gehorchen die Jungs aufs Wort.
"Und jetzt zu Ms Manning.", ich zucke kurz zusammen, als er meinen Namen erwähnt, "Ich mag sie. Und ihr solltet sie verdammt noch mal vergöttern!
Nicht schwächeln, Tyson!"

"Wusstet ihr, dass Ms Manning gestern bei mir auf der Matte stand und sich dafür eingesetzt hat, dass ich euch besser behandle? Sie kannte euch noch nicht, wusste nicht, was für elende Schwachköpfe ihr seid und trotzdem hat sie gedacht, ihr wärt's wert.
Wie viele Lehrer hier haben sich jemals für euch eingesetzt, hm? -Abgesehen von mir natürlich."

Keiner der Teenager reagiert, mit mittlerweile hochroten Köpfen arbeiten sie ihre Liegestütze ab. Negan bleibt vor Kent stehen und drückt ihm zusätzliches Gewicht auf die Schultern. Der Junge ächzt auf.
"Das war ne verdammte Frage! Also- wie viele?", knurrt Walker.
"Keiner.", stößt Kent zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
"Ding, Ding, Ding!", ruft Negan und lässt von ihm ab, "Verfickt richtig. Keine Sau. Wenn ihr jemanden wie Ms Manning vergrauelt, seid ihr noch blöder, als ich immer dachte. Sie hätte dich verklagen können, Keve. Dafür sorgen können, dass du fliegst. Hat sie alles nicht getan.
Ihr solltet also verdammt froh sein, dass sie hier ist und ihr verdammt noch mal den Arsch küssen.
Also- was werdet ihr ab sofort tun? Keve?"

"Ms Manning den Arsch küssen?", presst dieser stöhnend hervor.
"Genau das! Und der ist, wie ich bisher sehen konnte, ziemlich knackig, also wird's euch nicht umbringen."

Die Jungs schaffen es sogar, zu kichern. Die meisten haben ihre Liegestütze geschafft und liegen schwer atmend auf dem Boden. Negan klatscht in die Hände.
"Das war's, was ich euch sagen wollte. Für heute reicht's. Morgen selbe Zeit, selber Ort. Macht euch jetzt raus hier!"

Ich muss eine ganze Weile warten, bis Negan aus der Schule kommt, um ihn abzufangen.
Er steckt sich eine Zigarette an und schlendert zu seinem Wagen.
"Negan?"
Er dreht sich zu mir um, sofort huscht das altbekannte Grinsen über sein Gesicht.
"Hazel! Was machst du denn noch hier?"
Verlegen kratze ich mich am Kinn.
"Ich...ich muss zugeben, dass ich dein Nachsitzen beobachtet habe...ich wollte wissen...eh..."
Ich hatte mir alles, was ich sagen wollte, so sorgfältig zurecht gelegt. Jetzt, als ich vor ihm stehe, habe ich alles vergessen.
"Oh.", macht er, sein Grinsen wird noch breiter, "Dann hast du auch mein Kompliment über deinen tollen Arsch gehört?"
"Eh...ja. Danke."

Gerade wollte ich ihm noch ein Loblied singen, jetzt könnte ich ihm wieder eine reinwürgen. So ein Idiot.
"Was ich eigentlich sagen wollte...", fahre ich schnell fort, bevor er weiteren Müll quatscht, "Ich wollte mich entschuldigen. Ich habe vorschnell über dich geurteilt. Ich lag falsch. Du..."
"Jaja, unter meiner harten Schale, liegt ein ganz weicher Kern. Obwohl ich normalerweise sehr hart bin..."
Gott, ist der plump. Beinahe hätte ich wieder vergessen, dass ich ihn jetzt weniger verachten will.

Er tritt seine Zigarette aus und beugt sich zu mir, blickt mir dabei tief in die Augen. Sein Gesicht ist meinem jetzt ganz nahe. Ich rieche die Zigarette in seinem Atem, spüre, wie er über meine Haut streicht. Nervosität steigt in mir auf, ein Kribbeln breitet sich in meinem Magen aus.
"Dann hast du das Kriegsbeil also wieder begraben?", fragt er leise.
Ich schlucke und nicke.
"Und du wirst nicht kündigen?"
Ich schüttle mit dem Kopf.
Er richtet sich wieder auf und klatscht in die Hände.
"Großartig! Darauf sollten wir trinken- oder was meinst du?"
"Ich...äh...nein, heute nicht. Ich muss noch...ein andernmal vielleicht.", weiche ich stammelnd seiner Einladung aus.
Um ehrlich zu sein, halte ich es für keine gute Idee, mehr Zeit als nötig mit ihm zu verbringen. Diese seltsame Nervosität in seiner Nähe irritiert mich.
"Schade.", sagt er seufzend, "Ich hätte dir gerne noch ein wenig mehr von meiner sanften Seite gezeigt. Falls du natürlich auf die harte Seite stehst..."
"Jaja.", unterbreche ich seine taktlose Anmache, "Nur weil wir Frieden geschlossen haben, heißt das nicht, dass du mich jetzt anbaggern musst."
Das Lächeln auf seinem Gesicht ist pure Unverschämtheit.
"Verstehe, Missy Manning. Keine harte Schale, sondern ein Panzer.", er beugt sich wieder zu mir, streicht eine Strähne, die sich aus meinem Dutt gelöst hat, hinters Ohr. Seine Lippen kommen näher, wandern nur wenige Milimeter über meinen Kiefer schwebend, zur Seite. Mein Herz setzt einen Schlag aus und beginnt dann in meiner Brust zu trommeln wie verrückt.
"Aber den werde ich auch noch knacken.", flüstert er mir ins Ohr, "Das darfst du gerne als Versprechen nehmen."

Negan schiebt sich eine weiter Zigarette zwischen die Lippen, tippt sich kurz an die Stirn und lässt mich dann einfach stehen.

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