Kapitel 27

Ich liebe die Nacht und zugleich verfluche ich sie manchmal.

Es ist, als würden, sobald es dunkel wird und sobald ich mir vornehme zu schlafen, alle meine Gedanken aus ihren Ecken gekrochen kommen und eine wilde Party feiern. Sie flüstern, streiten, singen, lachen, heulen (mindestens einer heult immer!), überbrüllen sich gegenseitig.
Heute rezitiert einer lautstark das, was Keve gesagt hat, ein paar halten Bilder mit Negans Lächeln hoch, während tatsächlich wieder einer in der Ecke hockt und herzzerreißend schluchzt.
"Wolltest du nicht Ryan anrufen?", brummt einer, "Das ist schon wieder drei Tage her!"
"Er kann ja auch mal anrufen!", erwidert ein anderer trotzig.
"Hey!", brüllt ein wieder anderer dazwischen, "Erinnerst du dich noch an den Song, den ihr in der fünften Klasse gelernt habt? Den, den Tarek immer singt, um dich zu nerven? Wie ging der noch? Dadadadaaaa...nein, dadadadaaaadada..."
"Wolltest du nicht spätestens mit 30 Kinder haben? Du wirst nächste Woche 29. Und hast noch nicht mal den passenden Vater...höhö", flüstert einer hämisch.
Jetzt beginnt ein besonders romantischer und naiver Gedanke, sich meine Hochzeit mit sämtlichen Männern, die mir in meinem Leben begegnet sind, auszumalen. Sogar mit dem Typen, der in der Bäckerei um die Ecke immer mal aushilft. Dabei finde ich den nicht mal besonders nett, geschweige denn attraktiv.

Jetzt reicht's aber!
"Könnt ihr mal aufhören?", hallt meine eigene Stimme in meinem Kopf wider, "Ich will schlafen!"
Toll, jetzt unterhalte ich mich schon mit den Stimmen in meinem Kopf. Was kommt als nächstes?
Nackt zur Arbeit fahren?
Prompt blitzt ein Bild in meinen Kopf auf, wie ich mit Jones vor dem Traualtar stehe - einem Traualtar in der Schulturnhalle!
Stöhnend drehe ich mich auf die Seite und vergraben mich unter meinem Kissen.
Die Gedankenparty geht trotzdem weiter. Musik wird jetzt aufgelegt und...
Klong Klack.

Urplötzlich verstummen alle Gedanken, ich fahre hoch wie eine Rakete, meine Sinne sind geschärft.
Was war das?
Und woher kenne ich dieses Geräusch?
Im nächsten Moment entlädt sich eine regelrechte Salve an meinem Fenster.
Klong Klack, Klong Klack, Klong Klack, Klong Klack.
Da schmeißt jemand wie ein Irrer mit Steinen! Und im Grunde fällt mir nur eine Person ein, die verrückt genug wäre, mich mitten in der Nacht unter Beschuss zu nehmen.

Ich knipse die Lampe an, die Uhr zeigt 0:35 Uhr, steige aus dem Bett und begebe mich mit gemischten Gefühlen zum Fenster. Wenn er das wirklich ist, dann kann er sich aber gleich was anhören! Was fällt ihm eigentlich ein?! Bei der Theateraufführung ist er regelrecht weggelaufen und jetzt...

Es ist tatsächlich Negan, der da unter meinem Fenster steht.
Mein Herz krampft sich bei seinem Anblick sofort zusammen.
Scheiße, warum muss das alles so verflucht weh tun?
Einen Moment lang ziehe ich es in Betracht, einfach das Licht wieder auszumachen und weiter zu schlafen. Das wäre das Vernünftigste.
Ich will ihn doch gar nicht mehr in meinem Leben haben. Schlimm genug, dass er das offensichtlich nicht akzeptiert und mitten in der Nacht Steine an mein Fenster wirft, wie ein liebestoller Teenager. Schlimmer ist aber noch, dass mein Herz noch lange nicht begriffen hat, was mein Verstand längst weiß. Und so sehr ich ihn vergessen, so sehr ich all die Gefühle verdrängen will - ich bin machtlos dagegen.

Ich öffne seufzend das Fenster und lehne mich leicht hinaus. Sofort breitet sich durch die kalte Nachtluft Gänsehaut auf meinem Körper aus. Vielleicht liegt es aber auch nicht an der Kälte.
"Was willst du?", frage ich nicht gerade freundlich, "Hast du mal auf die Uhr geschaut?!"
Er hebt den Kopf und ich wäre beinahe zusammengezuckt. Seine Augen wirken rot und geschwollen, als hätte er stundenlang geweint. Seine Haut ist fahl und seine Wangen sehen eingefallen aus. Er ist nur noch ein Schatten seiner selbst.
"Was ist passiert?", hauche ich tonlos.
"Hazel... Darf ich reinkommen?"
Seine Stimme klingt fast flehend, schneidet mir direkt ins Herz.
Ich kann nicht anders.
Ich nicke.

Innerlich wappne ich mich bereits auf dieses Aufeinandertreffen, doch weiß ich selbst nicht so recht, was mich erwartet und wie ich dem begegnen soll. Mit Anschuldigungen? Mit Sorge? Erklärungen verlangend?
Das Klopfen trifft mich dann trotz dieser Überlegungen vollkommen unvorbereitet. Mit klammen Fingern öffne ich die Tür und komme mir dabei vor, als würde ich das Monster aus dem Schrank lassen.

Er ist kaum zur Tür rein, als er sich auf mich stürzt, so schnell kann ich gar nicht reagieren.
Aber er küsst mich nicht, wie ich anfangs befürchtet habe. Nein, er schließt mich einfach in seine Arme, drückt mich an sich, so fest, dass es mir beinahe die Luft abdrückt.
Ich hänge schlaff in seinen Armen, versuche all der Gefühle die in diesem Moment auf mich einprasseln Herr zu werden. Seine Nähe, sein vertrauter Geruch, die wohlige Wärme, die er ausstrahlt, die Muskeln, die man ich durch seine Kleidung hindurch spüre... erst jetzt wird mir klar, wie sehr mir das gefehlt hat, wie sehr ich mich danach gesehnt habe. Und trotzdem, trotzdem verkrampft sich in mir alles, als würden sich glühende Schlangen durch meinen Körper winden.

Seine Nähe ist wunderschön und dennoch schmerzhaft. Erfüllung und Folter zugleich. Und ich frage mich, warum ich mir das antue, denn wenn ich das jetzt zulasse, dann fange ich morgen wieder von ganz vorne an. Ich merke jetzt schon, wie die Wunden, die noch nicht einmal zu heilen begonnen haben, aufreißen, wieder Blut spucken.

"Du fehlst mir so", flüstert er, ich spüre seine Lippen auf meinem Scheitel, seinen Atem in meinen Haaren. Der Impuls, die Augen zu schließen und mich diesem Moment einfach hinzugeben wächst und wächst in mir. Wen interessiert schon, was morgen ist? Zählt nicht das Heute, das Hier und Jetzt?
Ich habe diesen Gedanken noch nicht zuende gedacht, da breitet sich ein bitterer Geschmack auf meiner Zunge aus. Ja, vielleicht wäre ich heute Nacht glücklich. Aber was ist mit Lucille? Könnte ich es ertragen, glücklich zu sein, wenn ich doch weiß, dass sie...

Erneut versteife ich mich, winde mich aus seiner Umarmung. Mein ganzer Körper zittert vor lauter Anspannung.
"D-das geht nicht, Negan. Du bist verheiratet", stammle ich und vergrößere den Sicherheitsabstand zwischen uns noch ein wenig, "Ich hab dich nur reingelassen, weil du aussiehst als wärst du der Tod höchstpersönlich. Aber falls du...dafür gekommen bist - solltest du gleich wieder gehen."
Meine Stimme wird mit jedem Wort leiser, ist am Ende weniger als ein Flüstern.

Er sieht so verloren aus, wie er da mit hängenden Schultern in meinem Flur steht. Die ganze Spannung scheint aus ihm gewichen zu sein.
"Das bin ich nicht mehr lange", murmelt er nach einer Weile, "Hast du Alkohol da? Was hartes? Bourbon?"
"Was bist du nicht mehr lange?", hake ich nach, ignoriere seine letzte Frage. Ich habe den Alkohol in seinem Atem bereits gerochen.
"Verheiratet."
Mir klappt die Kinnlade herunter.
"Was - wieso?", stottert ich, "Willst du sie verlassen?"
"Nein, das könnte ich niemals."
"Dann verlässt sie dich? Weil du...fremdgegangen bist?"
Ein bitteres Lachen steigt in ihm auf. Es ist so kalt, so freudlos und voller Schmerz wie Eisregen. Und schneidet mir erneut direkt ins Herz.
"Sie weiß von all meinen Affären, sie wusste davon die ganze Zeit. Aber sie verlässt mich deswegen nicht. Sie...ist krank. Sie wird sterben."

Stille.
Die Stille zieht wie ein dunkler Nebel durch meine Wohnung, macht alles taub, blind, stumm. Betäubt. Ertränkt. Es ist diese Stille, in die sich der Tod hüllt, wie in ein Gewand. Diese Stille vor der jedes Wort versagt und jeder Gedanke vertrocknet, verwelkt, erstirbt. Wo diese Stille ist, gibt es weder Musik, noch Gefühl, noch Freude.

Der Tod ist mit Negan in meinen Flur getreten und da steht er, lächelt hämisch, grinst mich wissend und lauernd an.
Ich habe ihm schon zweimal ins Auge geblickt, doch er trug jedes Mal ein anderes Gesicht.
Damals, als er am Bett meiner Mutter saß und sie in seinen Armen gewiegt hat, fast liebevoll. Sie dann küsste. Dieser letzte Kuss, ich habe seinen eiskalten Hauch gespürt. Und war doch froh, als sie endlich mit ihm gehen durfte, von dem Gefängnis, dass ihr Leben und ihr betäubter Körper nur noch war, befreit wurde.

Aaron ging sein Leben lang Hand in Hand mit dem Tod, jedoch hasste er ihn, wie man einen Menschen hasst, der andere aussaugt, nur kommt, wenn er etwas braucht, hässliche, verletzende Dinge sagt. Trotzdem liebte er ihn, fühlte eine seltsame Sehnsucht und Anziehung, die ich nie ganz begreifen konnte.
Der Tod saß oftmals in unserer Mitte und ich hatte nicht selten das Gefühl, dass er sich zwischen uns drängte, wie eine eifersüchtige Geliebte. In diesen Momenten war Aaron mir fern und fremd.
Und der Tod? Er lachte mich aus, machte mich hilflos, ohnmächtig und wütend, denn im tiefsten Inneren wusste ich bereits, dass ich Aaron irgendwann an ihn verlieren würde.

"Wir haben uns gestritten", fährt Negan fort, seine Stimme klingt ungewöhnlich hohl, "Sie will...die Chemo einstellen. Aufgeben. Aber ich kann nicht..."
Er beginnt zu schwanken. Als hätte ihm einer einen heftigen Kinnhaken verpasst.
Ich kann ihn nur mit großen Augen anstarren. Kann das Leid, dass sie und er gerade durchleben, nur erahnen. Diese Entscheidung zu treffen. Auch den letzten Strohhalm an den man sich klammert, loszulassen. Er ist noch nicht bereit dafür, während Lucille ihr Schicksal akzeptiert hat. Während er die hässliche Fratze des Todes sieht, sieht sie sein sanftes, einladendes Lächeln.
Das alles ist so tieftraurig, so ungerecht. Es lässt mir die Tränen in die Augen steigen und in diesem Moment wünschte ich, dass ich Lucille niemals kennengelernt hätte, dass sie eine namenlose Fremde geblieben wäre, eine unliebsame Konkurrentin.

"Negan...das tut mir leid", flüstere ich, mache einen Schritt nach vorne und bleibe dann doch stehen, "So leid. A-aber...du solltest jetzt lieber bei ihr sein, als..."
Er wirft hilflos die Arme in die Luft, fährt sich durch die Haare. Er steht kurz vor dem Zusammenbruch, wird mir bewusst. Und jemanden so unverwüstliches wie Negan kollabieren zu sehen, ist das schrecklichste was ich mir vorstellen kann.
"Natürlich sollte ich das", blafft er und über sein Gesicht zuckt ein Gewitter aus Selbsthass, Zorn, Machtlosigkeit, Trauer, "Aber ich kann nicht mehr, ich ertrag das nicht mehr. Ich kann ihr nicht länger beim Sterben zusehen...Ich will und muss stark vor ihr sein. Aber ich kann das gerade nicht. Im Moment ist sie so viel stärker als ich." Fahrig fährt er sich über die Augen, als wolle er die Tränen dahin zurückstopfen, wo sie herkommen.
"- Und Hazel, es tut mir wirklich leid, dass ich dich da jetzt mit rein ziehe. Ich weiß, wie weh ich dir getan habe. Aber ich habe sonst niemanden. Ich weiß nicht, wo ich sonst hin soll...und...aaargh."
Er presst sich die Hände an die Schläfen, eine Geste ohnmächtiger, verzweifelter Hilflosigkeit.

Der Sturm, den ich die ganze Zeit in seinen Augen gesehen habe, steht kurz davor, entfesselt zu werden. Er wird sich entladen, wenn ich nicht sofort etwas tue. Er wird verwüsten und zerstören. Er wird ein Trümmerfeld zurücklassen und das darf ich nicht zulassen.
Ich tue, was ich tun muss. Werfe meine eigenen Gefühle und meinen eigenen Schmerz weit weg, gehe auf Negan zu und lege meine Hände auf seine Wangen, sehe ihm tief in die Augen, in diesen Sturm, spüre, wie er an mir zerrt, doch ich halte stand, halte uns beide fest und lasse nicht los.
"Dann bleib heute hier", sage ich mit fester Stimme, "Aber sag ihr, wo du bist. Ich mache inzwischen einen warmen Kakao für dich."

Während die Milch aufkocht,  telefoniert Negan im Wohnzimmer mit Lucille.
Mechanisch verrichte ich einen Handgriff nach dem anderen, unterdrücke mühsam das Zittern, dass meine Hände immer wieder erfasst. Mein Kopf ist leer und das ist so gewollt. Denn mit den Gedanken, kommen die Gefühle und mit dem Fühlen die Zweifel, der Schmerz. Ich habe ihm versprochen, für ihn da zu sein, jetzt, wo er mich braucht wie nie zuvor, und ich gedenke, dieses Versprechen zu halten. Das kann ich aber nur, wenn ich alles, was zwischen uns geschehen ist, ausblende. Im Moment bin ich selbst erstaunt darüber, wie gut mir das gelingt, wenn auch die Ahnung in mir wächst, dass es mich dafür früher oder später umso mehr überrollen wird.
Zu viele ungefragte Fragen stehen noch zwischen uns. Zu viele ungedachte Gedanken und nicht zuende gefühlte Gefühle.

"Ich tu's nie wieder, versprochen", höre ich ihn leise sagen. Die Art, wie er das sagt, lässt meine Hände erneut erzittern.
...
"Ich dich auch. Bis morgen."
Er legt auf und plötzlich ist es wieder totenstill. Sogar die Milch auf dem Herd verstummt. Bevor die Stille um sich greifen kann, springt er auf und flüchtet auf den Balkon.

Dort steht er, als ich, zwei Tassen Kakao in den Händen balancierend, hinaus trete, wie versteinert, in die Ferne starrend und im Sekundentakt an der Zigarette ziehend.
Die Nächte sind noch sehr kühl und ich bin dankbar für die Wärme, die von dem Porzellan ausgeht.
Für eine Weile bemerkt er mich gar nicht, ich stehe neben ihm, sehe ihm beim Rauchen zu, wie er sich, sobald er eine Kippe weggeschnippt hat, eine neue anzündet.
Ja, Krebs bekämpft man am besten mit Krebs, denke ich bitter.

"Ich sollte gehen", stößt er gehetzt hervor, "Ich sollte dich nicht noch damit belasten. Ich..."
"Negan", fahre ich ihm mahnend und beruhigend zugleich, ins Wort, "Bleib hier. Du bist im Moment zu labil, um allein da draußen herum zu wandern. Ich will nicht, dass dir etwas zustößt. Es ist in Ordnung."

Wortlos nehme ich ihm die Kippe aus der Hand und drücke ihm stattdessen die Kakaotasse hinein. Er blickt auf die dampfende Flüssigkeit, auf deren Oberfläche die Marshmallows wie kleine Eisberge schmelzen.

"Ich hasse Marshmallows", grunzt er missmutig.
"Ich auch", erwidere ich, "Aber Steff sagt immer, dass a) ein echter Amerikaner Marshmallows zu lieben hat und b) die Dinger glücklich machen. Und ich würde es niemals wagen, ihr zu widersprechen."
Negan schnaubt verächtlich, aber nimmt dann tapfer einen Schluck, verzieht angeekelt das Gesicht und nimmt noch einen weiteren. Wäre er nicht aus so beschissenen Gründen hier, hätte ich über seinen Gesichtsausdruck gelacht.
"Kakao...", murmelt er, "Wie im Kindergarten. Habt ihr wirklich keinen Schnaps?"
"Nein", ist meine unerbittliche Antwort.
"Hmpf."

Er sieht den Marshmallows weiter beim Zerfallen zu, beobachtet, wie sie in der braunen Lava versinken.
"Ich hatte nie einen richtigen Freund", erzählt er der Tasse nach einer Weile, "Weiß auch nicht genau, warum. Die Leute haben immer meine Nähe gesucht, ich war nie allein. Und trotzdem, wenn es hart auf hart kam, haben sie sich lieber an  jemanden anderen gewendet. Die einzige Person, bei der das nicht so war, habe ich geheiratet. Sie ist der einzige Mensch, der irgendwie immer mit mir klar kam. Der mich witzig fand. Mich verstanden hat..."

"Ich kann deine Freundin sein", höre ich mich sagen. So ein leerer Kopf hat auch seine Nachteile. Man plappert einfach drauflos.
"Ach, kannst du das?", fragt er bitter.
"Warum nicht?"
"Deine Selbstlosigkeit ist beinahe unmenschlich, Hazel", brummt er, ohne mich anzusehen, sein Blick liegt auf dem Mond, der uns mit seinem traurigen Gesicht anlächelt, "Willst du ne verfluchte Märtyrerin sein, oder so? Wie kannst du mir so etwas nach alldem anbieten?"
"Weil ich dich liebe", antworte ich schlicht.
Sein Kopf fährt zu mir herum, er blinzelt erstaunt, weiß nicht, was er sagen soll. So deutlich habe ich ihm nie gesagt, was ich für ihn empfinde und scheint ihn jetzt maßlos zu überfordern.
"Hazel..."
"Liebe hat viele Gesichter, Negan. Wir werden niemals ein Paar sein, wir werden niemals da weitermachen können, wo wir aufgehört haben. Und dennoch...", ich seufze, betrachte meine Hände, die die Tasse umklammern, "Ich habe mich nicht ohne Grund in dich verliebt. Du hast mir geholfen, aus diesem Loch, in dem ich die ganze Zeit feststeckte, herauszukommen. Zumindest hast du mir einen Weg gezeigt, wie ich mich befreien kann. Du hast mein Denken auf den Kopf gestellt und jetzt sehe ich einige Dinge anders.
Ja, du hast mir wehgetan. Furchtbar. Aber du hast mir auch gut getan. So gut, wie lange niemand mehr und auch wenn ich im Moment ganz unten bin, habe ich das Gefühl, dass ich stärker als je zuvor aus dieser Sache herausgehe."

Für eine ganze Weile sieht er mich einfach nur an.
"Du bist einfach unglaublich", sagt er schließlich kopfschüttelnd und dennoch spielt der Anflug eines Lächelns um seine Mundwinkel.
"Wieso?", frage ich provokant.
"Weil du so... gut bist."
Seine Augen werden dunkler. Jetzt ist es wieder deutlich zu spüren, dieses Knistern, welches von Anfang an zwischen uns war. Das Funken, das Feuerwerk.
Mein gedanklicher Schutzwall bekommt Risse und durch diese Risse kriechen die Gefühle, die ich für ihn empfinde. Mein Denken wird nur noch davon bestimmt, mich auf ihn zu stürzen, wie ein Raubtier auf seine Beute, ihn mit Haut und Haar zu verzehren.

Ich räuspere mich, bemüht, die Risse in meinem Wall wieder zu schließen.
"Freundschaft heißt, dass man...", ich muss mich erneut räuspern, damit die Worte über meine Lippen kommen, "Auf gewisse Dinge verzichtet."
Nein, das heißt es eigentlich nicht, flüstert eine der Stimmen, die meinen Schutzwall überwunden hat, Freundschaft bedeutet nicht verzichten. Freundschaft bedeutet lieben, aber eben auf eine andere Art. Aber kannst du das? Kannst du?

Diese Frage zu beantworten ist nicht schwer: Nein, ich kann nicht. Ich kann nicht mit Negan befreundet sein, denn ich werde immer mehr wollen. Ich muss ihn entweder ganz oder gar nicht haben. Diese Entscheidung muss ich treffen, im Grunde habe ich sie, nachdem ich mich mit Lucille unterhalten habe, bereits getroffen. Die Würfel sind längst gefallen und es gibt nichts dazwischen, keine Kompromisse.
Als mir das klar wird, ist es, als würde ich mir gerade selbst das Herz aus der Brust reißen. Der Schmerz durchzuckt mich, fährt in jede Ecke meines Körpers. Jener Teil meiner Seele, der schon so oft gebrochen und angeschlagen wurde, zersplittert nun wie eine fragile Glasperle.

"Vielleicht habe ich deswegen nie viel von Freundschaften gehalten", murmelt er.
Auch er scheint sich dieser Tatsache bewusst geworden zu sein. Aber im Moment muss er andere Entscheidungen treffen und alles was uns und mich angeht, rückt in den Hintergrund.

Also verschließe ich den Schutzwall wieder, schiebe erneut alles von mir. Wir kehren auf die Couch zurück, trinken unseren Kakao aus und lassen ein beliebiges Programm im Fernseher durchlaufen.
Wir schweigen, aber es kein unangenehmes Schweigen, denn für diesen Moment ist alles zwischen uns geklärt.
Jetzt versuche ich einfach nur da zu sein, weil er mich braucht. Einfach seine Freundin zu sein. Nicht mehr. Nicht die Geliebte, die ich mal war.

"Wurde Faust eigentlich für seine Vergehen bestraft? Dafür, dass er Gretchen ins Unglück gestürzt hat?", fragt er plötzlich leise.
Ich halte kurz inne. Unser Gespräch fällt mir wieder ein. Eine Ewigkeit scheint das her zu sein.
"Nein. Er badet in Lethes Flut, dem Fluss des Vergessens und wäscht sich damit von seinen Sünden und Schuldgefühlen rein.", erwidere ich ebenso leise.
"Und Gretchen musste sterben."
Ob das eine Frage oder Feststellung ist, weiß wohl nicht mal er selbst.
"Ja."
Er seufzt leise.
"Dieser Goethe hat scheinbar begriffen, wie's läuft. Und wo findet man diesen verdammten Fluss?"
Ich muss unwillkürlich grinsen, eine Art Galgenhumor, der einen wohl in solchen Situationen zwangsläufig überkommt.
"Nicht in meinem Wohnzimmer, das ist schon mal klar."
"Wär ja auch zu schön. Hm. Bis dahin muss ich wohl mit Bourbons Fluten Vorlieb nehmen."
"Scheint wohl so."
Er legt seine Hand über meine, streicht sanft mit dem Daumen darüber.
"Dass ich euch jetzt beide verliere, ist dann wohl meine Strafe.", seufzt er.

Der Cash-Song, den ich vor ein paar Tagen in meinem Büro gehört habe, fällt mir wieder ein.
Gibt es eine göttliche Gerechtigkeit, die den Frevler, den Lügner und Betrüger bestraft? Oder Karma?
Was ist dann mit Lucille? Was war ihr Vergehen? Womit hat mein Dad verdient, dass er meine Mom verloren hat und seine Tochter allein großziehen musste? Wofür werde ich bestraft, wenn ich mich in einen Mann verliebe, den ich niemals haben kann? Was ist mir diesem Virus, das mittlerweile sämtliche Nachrichten beherrscht, womit sich tagtäglich dutzende Menschen infizieren? Soll das gerecht sein? Soll das Strafe sein?
Haben wir das alle verdient, allein schon, weil wir Menschen sind und Fehler machen, Schwächen haben?
Nein, so läuft das nicht. Man sollte gar nicht erst damit anfangen, die Dinge, die einem passieren, als Strafe zu sehen, mögen sie noch so gerecht scheinen.
Kein Lebewesen hat Leid verdient, es geschieht einfach und gehört zum Leben dazu, wie auch das Geborenwerden und Sterben.
Das Leid macht das Glück erst so kostbar, genauso wie der Tod dem Leben seinen Wert verleiht und das Böse das Gute erst zu dem werden lässt, was es ist.

"Du bist nicht Schuld daran, dass sie krank ist", widerspreche ich ihm, "Sie ist nicht aus einem Grund oder wegen dir krank. Denk gar nicht erst an so etwas."
"Vielleicht hast du recht", entgegenet er, "Vielleicht aber auch nicht. Ich habe viele Fehler gemacht, habe die Menschen, die mir und denen ich am meisten bedeutet habe, am schlimmsten verletzt. Vielleicht waren es zu viele Fehler."
"Negan..."
"Lassen wir das", beendet er die Diskussion. Er dreht sich auf den Rücken, schaut zu mir hoch und die Liebe in seinem Blick überwältigt mich beinahe, sorgt fast dafür, dass wieder alles einstürzt.
"Danke, Hazel."
"Wofür?"
"Dass ich dich kennenlernen durfte."

Sein gleichmäßiger Atem verrät, dass er eingeschlafen ist. Ich ziehe meine Beine unter ihm hervor und schalte die Lampe und den Fernseher aus. Ich sollte in mein Bett gehen.
Aber ich tue es nicht, sondern kuschle mich an ihn, atme seinen Geruch ein und lausche seinem Atem.
Kurz darauf schlafe auch ich ein, gleite problemlos in einen traumlosen, tiefen Schlaf, so tief, wie schon lange nicht mehr.
Doch bevor ich die Augen schließe, scheint es mir für einen winzigen Augenblick, als stünde der Tod vor mir und würde mir kurz anerkennend zunicken, um danach aus meiner Wohnung zu verschwinden.

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