Kapitel 24

Dubstep.
Ich weiß nicht, wieso, aber diese Art von Musik lässt jede Zelle meines Körpers vibrieren.
Auf sehr unangenehme Weise. Es ist nicht die Musik an sich, die mich stört, sondern viel mehr das, was sie mit mir macht.
Partys.
Zwanghaft gute Laune und eine perfekte Entschuldigung dafür, sich maßlos zu besaufen und die Kontrolle zu verlieren.
Was feiern wir hier eigentlich? Ich glaube, der Gastgeber hatte Geburtstag. Irgendwann vor drei Wochen. Ich kenne diese Person nicht einmal richtig, weiß eigentlich nur, dass er Tommy heißt und einer der Asiaten ist, der aufgedreht neben dem "DJ" herum hüpft.
Alkohol.
Der Ursprung und die Lösung aller Probleme. Obwohl mein Chemielehrer stets zu sagen pflegte, dass es sich bei Alkohol nicht um eine Lösung, sondern um ein Destillat handle. Er war, wenn ich mich recht erinnere, der einzige, der sich selbst saukomisch fand.

Okay, ich habe schlechte Laune, mir kann man heute nichts recht machen, dafür können die Leute, die hier ausgelassen feiern, nichts.
Ich seufze und betrachte das undefinierbare Gesöff in meinem roten Plastikbecher. Die flackernde Partybeleuchtung zuckt über die Oberfläche der Flüssigkeit, die ein bisschen nach Cola und vor allem scharf nach Alkohol schmeckt.
Ich zucke die Schultern und stürze das Gebräu in einem Schluck runter.
Zeit für einen neuen Drink.

Die Tanzfläche in Tommys Wohnzimmer füllt sich zunehmend. Ein paar Frauen in knappen Tops tanzen Ringelrei, Tommy selbst bounced über die Tanzfläche wie ein Gummiball, eine Gruppe junger Männer präsentiert den weiblichen Gästen die neusten Tanzmoves.
Unter den Tanzenden sind auch Steff und James.
Sie hat sich regelrecht um ihn gewickelt, ihre Hand liegt in seinem Nacken, immer wieder wirft sie den Kopf in den Nacken und lacht lauthals.

Ich habe James heute das erste Mal richtig kennengelernt und bin mir jetzt schon sicher, dass er das Gesamtpaket mitbringt. Er ist nicht nur gut gebaut und unheimlich attraktiv, sondern auch einfühlsam, humorvoll und sozial engagiert. Soweit ich bisher weiß, arbeitet er in einer Einrichtung für behinderte Jugendliche und bietet Sportkurse für sozial benachteiligte Kids an. Seine Stimme ist sanft und beruhigend.
Ich mag ihn.

Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich Steffs Kennenlernen mit James und ihre Verliebtheit nur am Rande mitbekommen habe.
Ich war so sehr mit mir selbst und Negan beschäftigt, dass ich darauf gar nicht geachtet habe. Irgendwo in meinem Hinterkopf regt sich das schlechte Gewissen.
Steff würde mir das niemals vorwerfen, das weiß ich. Und wir wissen beide auch, dass Verlieben für sie keine große Sache ist. Sie hatte noch nie Probleme, Männer zu finden und diese dann auch wieder loszuwerden. Sie spielt gerne ein bisschen, wenn auch auf eine sehr harmlose Art und Weise.
Aber dieses Mal ist es anders, das spüre ich. Sie ist wirklich verliebt und James scheint es ebenso zu gehen.
Das schlechte Gewissen wird durch die Wärme, die sich in mir ausbreitet ein wenig zurückgedrängt.
Aber da ist auch noch ein anderes Gefühl... ich will es nicht fühlen, jedoch kann ich mich der Hyäne, die gackernd durch meine Gedanken streift, nicht erwehren.

Neid.
Ja, ich beneide Steff, dass sie sich so einfach und sorglos verlieben kann. Dass ihr mit James höchstwahrscheinlich keine bösen Überraschungen bevorstehen. Dass sie einfach so glücklich sein darf, während meine Welt mal wieder wankt und in Schieflage gerät.
Ich wünschte, ich könnte jetzt auch lachend auf dieser Tanzfläche stehen. Hanebüchene Zukunftspläne spinnen. Verliebt sein.
Einfach nur Sein.

Ich sehne mich so sehr danach, dass es weh tut.
Dieses Gefühl ist neu. Nach Aarons Tod bin ich diesem Bedürfnis so vehement aus dem Weg gegangen, dass ich am Ende selbst glaubte, ich bräuchte das nicht.
Und dann kam Negan und plötzlich war alles anders. Und jetzt ist es schon wieder vorbei und zurück bleibt nur Leere, eine Leere die die ganze Zeit da war, ohne dass ich mir dessen bewusst gewesen wäre.
Dafür fühle ich sie jetzt umso deutlicher.

Ich hasse ihn dafür, obwohl er nicht wirklich etwas dafür kann.
Ich hasse ihn dafür, dass er es in so kurzer Zeit geschafft hat, diese Leere auszufüllen, dass er das Puzzleteil, von dem ich glaubte, es sei endgültig verloren gegangen, zurück an seinen Platz gesetzt und es mir dann wieder gewaltsam herausgerissen hat und mich plötzlich spüren lässt, dass da etwas fehlt.
Ich hasse ihn dafür, dass er mich alle Zweifel und Vorsicht über Bord werfen ließ, alle Mauern des Selbstschutzes eingerissen hat und jetzt stehe ich hier, nackt und hilflos und muss wieder von ganz vorne anfangen.
Ich hasse ihn für jeden Moment, für jeden Höhenflug, die jetzt nur noch Bitterkeit und Verzweiflung hinterlassen.
Ich hasse ihn für alles, was in den letzten Wochen passiert ist, dafür, dass er bewirkt hat, dass ich mich Hals über Kopf in ihn verliebt habe und ich hasse mich dafür, dass ich ihn für das alles hasse.

"Noch einen Drink?"
Ich sollte ablehnen.
Noch bessser: Ich sollte nach Hause gehen, denn von der Party bekomme ich ohnehin nicht viel mit. Ja, das wäre vernünftig. Zuhause kann ich dann weiter Trübsal blasen und verderbe dabei wenigstens niemanden die Stimmung. Meine Rechnung, dass die Party die düsteren Gedanken und Gefühle ein wenig zerstreuen würde, ist sowieso überhaupt nicht aufgegangen.  Stattdessen bin ich betrunken.

Verflucht, wirklich so richtig betrunken!
Erst jetzt, als ich aus meinen Gedanken gerissen wurde und aus meiner Schmollecke herausgekrochen komme, wird mir das bewusst. Aber mein schwirrender, schwerer Kopf, die Musik, die immer dumpfer wird, dass ich zweimal blinzeln muss, damit das Bild vor meinen Augen scharf wird und die Tatsache, dass sich das Wohnzimmer mittlerweile langsam um mich herum dreht, sind recht eindeutige Indizien.
Und ist es tatsächlich schon nach ein Uhr? Habe ich wirklich gerade fünf Stunden dagesessen und einen Drink nach dem anderen gekippt?
Ich sollte wirklich sofort damit aufhören, denke ich und bekomme prompt einen neuen Becher in die Hand gedrückt.
Ich blinzle kurz, denn derjenige, der mir den Becher gerade gegeben hat, kommt mir vage bekannt vor...

"Ryan?", stoße ich erstaunt hervor.
Er grinst breit. Bei ihm scheint immer alles mitzulächeln, vor allem seine Augen, die lächeln besonders strahlend. Wenn ich an ihn gedacht habe, habe ich immer an dieses Lachen in seinen dunkelblauen Augen gedacht, die wie der sternenbehangene Nachthimmel  leuchten.

"Na, Hazel, ich dachte schon, du erkennst mich gar nicht mehr."

Er drückt mich an sich und ich atme seinen vertrauten Geruch ein. Sein "Vancouvergeruch". Der Geruch von Regen und hohen, alten Kiefern, von Bergen die sich an das Meer schmiegen. Der Geruch von Musik, die den Puls dieser Stadt vorgibt und rotem Kopfsteinpflaster. Von holländischen Schiffen, die an der English Bay vorbeiziehen, als wolle die Alte Welt nach dem Rechten sehen...
Oh Gott, wie lange ist das her?
Was hat er damals alles bei mir ausgelöst?
Nach Vancouver habe ich den Kontakt zu ihm abgebrochen, ihn seitdem nicht mehr gesehen. Und jetzt steht er einfach so hier, vor mir, sieht noch genauso aus wie damals.
Gerade jetzt...

"Doch, dich würde ich immer erkennen", entgegne ich und füge dann entschuldigend hinzu: "Ich bin nur ein wenig...betrunken."

Ryan zuckt nur mit den Schultern. Auch wenn das Lachen nicht mehr um seine Mundwinkel spielt, glitzern in seinen Augen noch die Sterne. Wie damals, als wir nächtelang auf seiner Terrasse saßen, über Musik und Literatur und Gott und Dämonen geredet haben.
Es waren diese Momente, die mich an der Beziehung mit Aaron zweifeln ließen. In diesem Momenten habe ich mich Ryan näher gefühlt, als ich Aaron jemals gewesen war, obwohl ich ihn noch gar nicht richtig kannte.

"Ich muss wohl nicht fragen, wie es dir geht.", sagt er und mustert mich prüfend, "Um ehrlich zu sein - Tarek hat mich angerufen, weil er sich Sorgen macht. Wäre er nicht gerade in London, wäre er selbst hergekommen. Aber da ich eh für ein paar Wochen hier bin, dachte ich, ich könnte mal nach dir sehen..."
Mir gefällt die Vorstellung, dass Tarek ihn schickt, um auf mich aufzupassen, ganz und gar nicht. Allerdings wird mit auch das Herz weit, bei dem Gedanken, dass er sich so sehr um mich sorgt, dass er sogar von London aus versucht, mir zu helfen.

"Lieb von dir, aber du musst nicht 'nach mir sehen'. Ich komm' schon zurecht."
Ryan runzelt kurz die Stirn, dann taucht das Lächeln wieder auf.
"Das tun wir ja alle. Und trotzdem ist es doch ab und an ganz nett, nicht allein zu sein, oder?"
Dem kann ich nichts entgegensetzen. Ich leere den Becher, den er mir gebracht hat.
"Tanzen?", fragt er und nickt zur Tanzfläche hin. Die Frage stellt sich als eine rhetorische heraus, denn er hat bereits meine Hand gegriffen und zieht mich, trotz meiner Proteste, Richtung Tanzfläche.

Mit Ryan zu tanzen, seine Hände auf meinen zu spüren, von ihm über die Tanzfläche gewirbelt zu werden, ist schön, auch wenn es die düsteren Gedanken nicht vertreiben kann. Unwillkürlich muss ich an den Ballabend mit Negan denken.
Hat es an diesem Abend begonnen? Habe ich mich da in ihn verliebt?
In dem Moment, in dem wir auf dieser Tanzfläche standen und alles um uns herum nichtig wurde?
Wurde da aus dem Schwelbrand ein loderndes Feuer?
Und fühle ich mich deswegen jetzt so ausgebrannt, leergefegt, verkohlt?

Plötzlich wird die Musik langsamer, sehnsüchtiger, zarter. Prompt rücken die Tanzenden näher zusammen, wiegen sich langsam im Rhythmus der Melodie.
Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass Steff und James zum Küssen übergegangen sind.
Ryan steht vor mir, wirkt jetzt beinahe ein wenig schüchtern. Ich muss angesichts seines unsicheren Gesichtsausdrucks sogar lachen.
Optisch konnte er nicht mit Aaron mithalten und mit Negan kann er es schon gar nicht. Aber er ist einer dieser Menschen, der umso attraktiver wird, je mehr und näher man ihn kennenlernt.
Attraktivität ist eben nicht nur eine Frage des Aussehens.

"Ich werde jetzt gehen", beschließe ich, damit die Situation nicht noch peinlich wird. Meine Zunge ist bereits schwerfällig und die Worte kommen nur schleppend über meine Lippen. Es ist wirklich höchste Zeit.
Ohne Widerworte folgt Ryan mir. Steff und James sind mittlerweile verschwunden, sodass ich mich nicht verabschieden kann und muss, was  in meinem Zustand wohl gar nicht so schlecht ist. Ich will James ja nicht vergraulen, indem ich ihm rotzbesoffen etwas vorlalle.

Eiskalte Luft schlägt uns entgegen, als wir Tommys Haus verlassen. Hier, am Stadtrand, ist es stockfinster, eine vereinzelte, schwache Straßenlaterne kämpft mit letzter Kraft gegen die Dunkelheit an, aber dieser Kampf ist hoffnungslos. Die Dunkelheit lässt sich nicht so einfach vertreiben, sie bleibt, auch wenn man die Augen schließt. Sie umhüllt alles und kriecht in jeden Winkel, mit langen Fingern greift sie nach den Gedanken und Gefühlen, macht alles schwarz.
Ich ziehe meine Jacke enger um mich und suche mir einen Baum als Fixpunkt. Alles dreht sich rasend schnell um mich herum.
Scheiß Alkohol. Teufelszeug.
"Ich bestelle uns ein Taxi", schlägt Ryan vor und auch dagegen habe ich nichts einzuwenden. Wenige Minuten später hält der schwarze Wagen vor uns.
Ich lasse mich in das weiche Polster des Rücksitzes sinken und schließe für einen Moment die Augen. Das Taxi schaukelt, als würde es auf Wasser treiben und nicht auf Asphalt stehen.

"...Hazel?", höre ich Ryan fragen und spüre seine Hand an meinem Arm.
Als ich die Augen öffne, bemerke ich, dass er mich ansieht. Genauso wie der Taxifahrer.
"Hm?"
"Wo musst du hin? Wir können ja zuerst zu dir fahren und dann zum Hampton Inn."
"Wohnst du da?", frage ich dümmlich.
"Ja."
Das Hampton Inn befindet sich, soweit ich weiß, sprichwörtlich anderem Ende der Stadt.
"Du kannst gerne bei uns übernachten, für die Strecke würdest du doch ein Vermögen zahlen", schlage ich vor und wünschte im gleichen Moment, ich hätte das nie gesagt.
Der Taxifahrer scheint meinen Vorschlag auch nicht so toll zu finden, er beginnt, ungeduldig auf dem Lenkrad zu klopfen.
"3015 Hastings Street", lalle ich nach vorne, damit er endlich losfahren kann.

Schweigend fahren wir durch die Nacht, der Taxifahrer verübt seine Rache für die verlorene Strecke an mir, indem er nicht heizt. Der Innenraum verwandelt sich zunehmend in einen Kühlschrank und ich muss mich sehr zusammenreißen, damit meine Zähne nicht zu klappern beginnen.
"Was denkst du gerade?", fragt Ryan neben mir. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass er mich die ganze Zeit ansieht. Seine Augen. Die Sterne in der Dunkelheit.
Plötzlich ist alles an ihm anziehend, plötzlich sehne ich mich nach seiner Wärme, will wissen, wie er schmeckt, ob ich diesen Geschmack richtig in Erinnerung behalten habe...

"Hm...dass ich viel zu besoffen bin...", flüstere ich, meine Stimme ist rau und der Alkohol lähmt noch immer meine Zunge, "Und dass es scheißekalt ist..."
Ryan lacht leise und zieht mich an sich, breitwillig schmiege ich mich an ihn.
"Wir sind bestimmt gleich da", murmelt er und vertreibt die Kälte um mich herum, indem er sanft über meinen Arm streicht. Es fühlt sich gut an. Richtig. Gut und richtig, ganz anders als mit Negan.
Negan, Negan, Negan...
"Ich denke daran, dass ich dich lieber nicht mitnehmen hätte sollen...", fährt mein Mund ohne die Zustimmung meines Verstandes fort, "...weil ich dich gerade gerne küssen würde..."
Ryans Hand hält mitten in der Bewegung inne. Ich spüre, wie er sich für einen Moment versteift. Wie er zögert. Aber ich höre auch, dass sein Herz schneller klopft und immer schneller wird und ich weiß, dass er es auch will.

Ich hebe den Kopf und sehe ihm in die Augen. Lege meine Hand an seine Wange und...
"Da.", brummt der Taxifahrer und wir fahren auseinander wie ertappte Teenager.
Herrgott, dieser Mann hat ein Timing!

"Willst du bei uns übernachten?", frage ich und es liegt so viel mehr in diesen Worten als diese simple Frage. Ich will heute nicht alleine sein, ich will nicht mehr an einen Mann denken, den ich nie haben kann und an seine Frau, die schon genug erlitten hat. Und ich will egoistisch sein dürfen und mir nehmen dürfen, was ich will, wenigstens heute.
Ryan zögert dieses Mal keine Sekunde. Er nickt.
"Ja, ich bleibe heute Nacht hier."

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