Kapitel 22

Wir sitzen mitten im Flur, denn da bin ich vorhin kollabiert.
Ich presse mein Gesicht an Steffs Schulter, ihr T-Shirt ist dort schon ganz nass. Schluchzer schütteln mich und drücken mir die Luft ab, die Tränen wollen einfach nicht versiegen.
Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, wie ich nach Hause gekommen bin. Die Fahrt ist komplett aus meiner Erinnerung verschwunden, immer wenn ich versuche, Bilder davon abzurufen, flimmert Negan mit seiner Ehefrau vor mir auf. Wie er mich angesehen hat. Die Ringe. Ihr Lachen. Wie er ihr Haar küsst.

Die Gedanken durchzucken mich wie Blitze. Wie Speere, die alle in die gleiche Stelle meines Körpers gestoßen werden.
Verdammt, tut das weh.
Warum tut es so weh?
Wie konnte ich zulassen, dass er mich so verletzen kann?
Ich kralle meine Hand in Stefanies Rücken und presse mich noch näher an sie.
Wortlos streicht sie mir über den Rücken, aber ich spüre, dass auch sie bebt. Vor Wut. Negan sollte ihr jetzt lieber nicht über den Weg laufen.
Oh Gott, wie soll ich das ertragen? Wie soll ich nach den Ferien wieder in die Schule gehen? Dort ist alles von ihm verseucht, er ist überall dort...

"Vielleicht hat er sich mit ihr getroffen, um die Scheidung zu besprechen...", gibt Stefanie zu bedenken, aber sie klingt selbst nicht besonders überzeugt davon.
Ich schüttle schniefend den Kopf.
"Sie haben beide ihre Eheringe getragen", flüstere ich erstickt, "Er trägt sonst nie seinen Ehering. Warum sollten sie..."
"Er ist Sportlehrer. Da lässt er den  Schmuck bestimmt weg."
"Er hat ihn nie getragen.", widerspreche ich, "Und sie sahen...vertraut aus. Nicht wie ein Paar, das sich gerade trennt."
Bei diesen Worten, sticht es in meiner Brust und ein erneuter Schwall Tränen fließt in Steffs Shirt.
Ja, sie sahen verliebt aus.
Er liebt sie.
Und mich...ich war nur...er hat mich nur...

Benutzt.
Be. Nutzt.
BENUTZT.
Das Wort blinkt in großen roten Buchstaben in meinem Kopf auf. Benutzt.
Er hat mich nur benutzt.
Für was? Wozu? Warum?
Spaß. Ficken. Ego. Oh, bei ihm dreht sich doch alles nur um sein Ego!
Vielleicht hat es ihn gereizt, dass ich immer so artig daherkomme. Vielleicht wollte er testen, wie weit ich gehe. Vielleicht hat es ihn aufgegeilt, dass ich dumme Nuss mich ihn ihn verknallt habe, nach allem, was mit Aaron...

"goddamn", he said, "i promised myself i'd never feel this fucking way again
this world has got me praying on my knees for one peaceful thought

Ja, ich bin die kleine Trophäe, die er sich auf sein Regal stellen kann. Er hat mich geknackt, wie er es am Anfang zu mir gesagt hat. Wie eine beschissene Nuss. Ein Nussknacker. Und er hat genascht, mich leergefressen und dann die Schalen beiseite geworfen, wie Müll. Zersplittert hat er mich. Und ich bin so leer...

Aber etwas passt nicht.
Warum hat er sich überhaupt Mühe gegeben, warum der Ausflug, warum die Gespräche? Was wollte er damit bezwecken? Dass ich mich in Sicherheit wähne? Damit Rotkäppchen nicht merkt, dass es mit dem Wolf tanzt?
Rotkäppchen, der Wolf frisst dich mit Haut und Haaren und du merkst es nicht einmal. Nichts habe ich gemerkt, nichts habe ich kapiert, nichts habe ich gesehen. Nichts. Nichts. NICHTS!
Es macht jetzt alles Sinn, der Wolf lag die ganze Zeit in deinem Bett, Nussköpfchen, und du hast ihn gefüttert, mit deinem Herzen, hast ihm jeden Tag ein größeres Stück von dir gegeben und warst glücklich dabei, hast es mit Freude getan und jetzt, und jetzt...

i gave you all my trust
in one night you've thrown everything away
i'm getting sick of asking myself
have you forgotten what we had?

"Hazel?"
Steff rüttelt mich leicht an der Schulter.
Mir ist, als würde ich aus einem Traum aufwachen und sie das erste Mal sehen. Der Flur, der Teppich auf dem Boden, der leichte Geruch nach Kirschen, der immer durch unsere Wohnung zieht, weil so das Reinigungsmittel riecht, welches wir immer benutzen und Stefanies geliebte Potpourri... - alles kommt mir für einen Moment fremd vor.
Ich starre Steff mit leicht geöffneten Mund an, unfähig zu denken, zu sprechen.
"Leg dich hin.", schlägt Stefanie sanft vor, "Ich mach dir einen Kakao mit Marshmallows. Es wird besser, das verspreche ich dir."
"Du wolltest dich doch mit James...", protestiere ich tonlos.
"Red' keinen Quatsch. Ich lass dich doch jetzt nicht alleine!"
Ich nicke nur. Stumm. Verstummt.
Sie bringt mich in mein Zimmer, breitet die Decke über mir aus. Bewegungslos. Gelähmt.

Während Steff in der Küche Kakao zubereitet, liege ich da und starre an die Decke.
Wie oft lag ich in den letzten Wochen mit ihm hier in diesem Bett unter dieser Decke? Ich bilde mir ein, sogar sein Aftershave an meinen Kissen zu riechen. Seine Atemzüge neben mir zu hören. Seinen Schatten an den Wänden zu sehen.
Nein, nein, nein!
Ich will schreien, einfach nur schreien, aber kein Ton kommt über meine Lippen.

Die Klingel schrillt.
Sie klingt ungeduldiger, fordernder als sonst.
Mach sofort auf!, scheint sie zu schreien.
Und sofort weiß ich, wer da klingelt und alles verkrampft sich und ich winde mich und würde mir am liebsten die Ohren vom Kopf reißen.

"Ja?", höre ich Steff in die Sprechanlage sprechen. Kühl und durch die Tür zwischen uns gedämpft.
...
"Du hast Nerven!", zischt sie und bestätigt somit meine Vermutung, "Ich weiß nicht, wie ich dir das jetzt höflich sagen soll, also sag ich's einfach so: Verpiss dich!"
Ach Steff, denke ich, du würdest jede meiner Schlachten schlagen, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern.
...
Sie zögert. Irgendetwas muss er gesagt haben, was sie innehalten lässt. Das kann er gut. Leute dazu bringen, etwas zu tun, was sie eigentlich gar nicht wollen.
...
"Schön."
Der Türöffner summt.

Zitternd liege ich in meinem Bett, halte mich an der Decke fest und lausche in den Flur.
Lausche, wie Steff die Tür öffnet, wie er ohne Gruß eintritt, die Tür wieder schließt. Seine Präsenz fühle ich durch die Wand, durch die Tür hindurch.
Ich sehe, wie sie sich ansehen, ohne sie zu sehen. Höre ihre Atemzüge.
"Ich muss mit ihr reden.", sagt er.
Es ist keine Bitte, sondern ein Befehl.
"Ich glaube nicht, dass sie im Moment mit dir reden will.", entgegnet Steff.
Ich spüre, wie sie beide auf meine Zimmertür blicken.

"Was du glaubst ist mir scheißegal, Stefanie. Das hier geht dich nichts an und ich will jetzt verfickt nochmal..."
"Und ob mich das was angeht! Kapierst du nicht, was du ihr angetan hast? Glaubst du, sie kann dich jetzt ertragen? Sag mir, was du zu sagen hast, ansonsten kannst du gleich wieder verschwinden."
Er holt tief Luft.
"- War die Frau, mit der Hazel dich gesehen hat deine Ex-Frau? Deine Noch-Ehefrau? Die Scheidung läuft?", fragt Steff kühl, bevor er etwas sagen kann.
"Das würde ich auch gerne wissen.", höre ich mich sagen.

Ich kann mich nicht erinnern, aufgestanden zu sein und die Tür geöffnet zu haben.
Negan fährt zu mir herum, die Härte schwindet augenblicklich aus seinem Gesicht. Ich hab ihn noch nie dermaßen schuldbewusst dreinblicken sehen.
Bei ihm Schuld, bei mir Schmerz. Jetzt kann ich nachvollziehen, wie es sich damals für Aaron angefühlt haben muss.
"Nein.", gibt er leise zu.
Ein einziges Wort.
Nein.
Keine Entschuldigungen, keine Ausflüchte, keine Erklärungen.
Nur dieses eine, kleine Wort. Mit der Schlagkraft einer Kanonenkugel. Die nackte Wahrheit. Und die tut furchtbar weh. Als hätte sich eine kalte Klaue um mein Herz gelegt und würde es zusammendrücken. Meine Knie beginnen zu zittern, meine Hände krallen sich am Türrahmen fest. Sonst wäre ich wohl einfach zusammengesackt.

"Hazel. Können wir einen Moment allein reden? Nur wir zwei?"
Er sieht fast nervös aus. Seine Hände sind fahrig, unruhig. Der Ring blitzt an seinem Finger. Ein Mahnmal.
"Ich wüsste nicht, worüber wir noch reden müssen.", erwidere ich leise. Plötzlich ist es anstrengend zu sprechen. Jedes Wort ist ein Kraftakt.
Seine Hände kneten einander. Drehen an dem Ring, es sieht für einen Moment so aus, als wolle er ihn sich vom Finger reißen.
"Hazel, bitte..."
"Weiß es deine Frau?", fahre ich ihm ins Wort.
"Sie hat eine Ahnung, denke ich."
"Denkst du", ein bitteres Lachen begleitet meine Worte, ich kann nur mit dem Kopf schütteln, "Wirklich, Negan, verschwinde einfach."

"Es tut mir wirklich unendlich leid.", stammelt er hastig, hilflos, "Hätte ich gewusst...dass es so schnell geht, dass es für uns so viel mehr wird...ich..."
Seine Stimme, seine wunderschöne, raue Samtstimme erzeugt bei mir Übelkeit. Und kalte Wut.
Ich hebe den Blick und sehe ihm in die Augen. Ich sehe, dass es ihm tatsächlich leid tut. Aber das macht mich nur noch wütender.

"Ich habe dich gefragt, mehrfach.", zische ich, "Du hast mir versichert, dass ich nicht deine Affäre bin - mehrfach. Du hast mir eiskalt, dreckig ins Gesicht gelogen. MEHRFACH!", meine Stimme schraubt sich in die Höhe, wird mit jedem Wort lauter, meine Hände ballen sich zu Fäusten, "Und jetzt willst du mir erzählen, dass du das nicht wolltest? Dass ich für dich mehr wahr? Dass es dir leid tut?"
Mir bleibt die Luft weg, denn der Kloß ist schon wieder da. Ich schlucke mühsam, unterdrücke die Tränen, die schon wieder in mir aufsteigen. Ich werde ihm jetzt nicht die Genugtuung bieten, um ihn zu weinen.

Er schluckt.
"Ich wollte dich nicht anlügen. Aber hättest du es gewusst, dann... wäre es doch nie..."
"Hättest du auch nur einen Funken Respekt vor mich gehabt, hättest du auch nur ein wenig für mich empfunden, dann hättest du mir verdammt nochmal eine Wahl gelassen!", spucke ich ihm entgegen.
Er ist erstarrt, blinzelt.
Und dann lacht er. Ja, er lacht. Ein bitteres, bösartiges Lachen, welches mir, wäre ich nicht so wütend, das Blut hätte in den Adern gefrieren lassen.
"Eine Wahl?", donnert er, "Glaubst du, ich habe eine Wahl? Glaubst du, ich habe mir diese ganze Scheiße hier ausgesucht? Dass ich dir begegnet bin, dass ich...", er verstummt, folgt meinem Blick zu dem Ring an seinen Finger, "Wenn ich könnte, hätte ich sie verlassen. Aber das geht nicht."

Ich atme langsam aus. Und tue dann das, was ich getan habe, nachdem ich meine Mum und auch nachdem ich Aaron verloren habe: Ich lege den Schalter um. Herz aus, Verstand an. Gefühl weicht kalter Rationalität. Ich bin noch nicht perfekt darin, aber werde mit jedem Schicksalsschlag besser.
"Hätte, wäre, könnte... Ich will mir das ich mehr anhören.", sage ich schneidend, "Geh nach Hause und klär das mit deiner Frau. Lass mich in Ruhe. Hörst du? Ich will, dass du aus meinem Leben verschwindest. Endgültig. Ich kündige zum Schulhalbjahr - bis dahin: Geh mir aus dem Weg!"

"Nein!", er macht einen Schritt auf mich zu, hält aber inne, als ich sofort zurück weiche, "Tu das nicht. Ich gehe."
"Für die Schüler ist es schlimmer, wenn sie dich verlieren."
"Das glaube ich nicht. Wenn du gehen willst - dann geh. Aber wenn du bleiben willst - geh nicht wegen mir."
Ich seufze.
"Ich denke darüber nach. Jetzt verschwinde."
Meine Stimme ist kalt und schneidend.
"Hazel..."
"Es ist alles geklärt, Negan. Wenn du noch eine Sekunde länger hier bleibst, kotz ich dir vor die Füße."
Er wirft einen hilfesuchenden Blick zu Steff, die aber mit verschränkten Armen und starrer Miene da steht und ihn mit schmalen Lippen anstarrt. Von ihr braucht er keinen Beistand erwarten.
Er gibt sich geschlagen, wendet sich mit hängenden Schultern zum Gehen, dreht sich dann doch noch mal zu mir um.
"Ich hab alles ernst gemeint. Aber ich kann sie nicht verlassen..."
"Verpiss dich!"
Jetzt brülle ich wieder. Deute auf die Tür. Und er tut, was ich von ihm verlange. Die Tür fällt ins Schloss.
Und meine Beine geben unter mir nach.

Stille.
Nachdem er gegangen ist, war da nur noch laute, schreiende Stille.
Und stumme Schreie.
Es bereits nach Mitternacht, doch ich liege hellwach. Immer wieder ziehen seine Worte durch meinen Kopf als würde jemand ständig auf "Repeat" drücken.
...tut mir leid, so viel mehr, hätte sie verlassen, ...aber kann nicht....
Die Decke meines Zimmers bewegt sich langsam auf mich zu. Die Wände rücken lautlos näher. Wenn ich noch eine Sekunde länger hier bleibe, ersticke ich.
Ich muss hier raus.
Hastig ziehe ich mir etwas über, werfe mir den Mantel über die Schultern und verlasse die Wohnung.

Die Stadt hat sich in ihr Nachtkleid gezwängt, sich ein paar zerfetzte Wolken und eine schwachleuchtende Mondsichel an die Stirn geklebt. Ihr kühler Atem streift über mein Gesicht und lässt mich schaudern.

Die Straße ist wie leergefegt, nur ab und an fliegen die Scheinwerfer der Taxen an mir vorbei, auf dem Weg zu den Nachtschwärmern im Zentrum, die Lebensader, die auch nachts pulsiert.
Laternen werfen diffuse Reflexionen und matte Lichtkegel auf die parkenden Autos, den Asphalt, die schwarzen Fenster.
Es ist so still, dass man meine Schritte hört. Mein Schatten schleicht neben mir her, wächst und schrumpft und verschwindet und taucht an der nächsten Laterne wieder auf, wie ein stiller Verfolger.
Leuchtereklamen mit ihrem grellen, bunten Flackern werfen lustlos Farbtupfer in die Schwärze.

Dunkelheit ist die Abwesenheit von Licht. Man kann die Sterne in Städten nicht sehen, weil es zu hell ist. Lichtverschmutzung nennt man das. Schmutz und Licht - nur in Städten gehört das zusammen.
Im Licht der Laternen sieht man jedenfalls den Schmutz der Straßen, die achtlos weggeworfenen Fastfood-Verpackungen, die Graffitis und gerade gehe ich an einer Matratze vorbei, die wohl jemand nicht mehr brauchte und auf den Bürgersteig befördert hat.
Vielleicht hat jemand darauf keine Liebe mehr gefunden. Er hat sie zerfickt und dann weggeworfen.
Der Stoff ist aufgerissen und Schaumstoff quilt daraus hervor wie Eiter. 
Es stinkt.
Es stinkt nach Abgasen, nach modrigem Laub, nach Menschen.
Vor allem nach denen. Nach ihren Lügen, ihrer Wut, ihrem Egoismus. Dieser Gestank durchzieht jeden Winkel dieser Stadt, jede ihrer Straßen, jedes Gebäude. Als würde sie in ihrem Inneren verrotten.
Die Menschen, die Maden in diesem siechenden Organismus, haben sich hinter den mattschwarzen Scheiben verschanzt. Ab und an brennt noch Licht in einem Zimmer. Oder die flackernden Lichter eines Fernsehers zucken über die Glasscheiben.
Sonst ist alles still und tot.

Ich habe eine Brücke erreicht, schaue auf den Fluss, der wie zäher, schwarzer Teer dahinfließt. Ein paar einzelne Boote, kleine Flammen im Teer, sind noch unterwegs.

Früher, als ich ein Teenager war, da wollte ich immer hier leben, in dieser Stadt. Die Kleinstadt, die eigentlich ein großes Dorf ist, in der ich mit Dad gewohnt habe, war mir viel zu langweilig. Hier war das Leben, so kam es mir vor. Hier war immer was los. Alles möglich. Hier war man niemals allein, hier waren immer Menschen.

Erst jetzt erkenne ich, dass es egal ist, wo man lebt, dass es egal ist, wie viele Menschen man um sich herum hat. Man kann immer allein sein.
Sich immer verlassen fühlen.

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