Kapitel 19
"Hast du gehört, dass sie Nein gesagt hat?"
Es ging alles so wahnsinnig schnell.
Gerade noch stand Freddie direkt hinter mir, seine Hand auf meiner Schulter, bat um einen Kuss und von einer Sekunde auf die andere hat sich die ganze Situation komplett verändert.
Was passiert ist?
Negan ist passiert.
Natürlich.
Er scheint seine Rolle als Held, der mir in brenzligen Situationen zur Hilfe eilt, sehr ernst zu nehmen. Zu ernst.
Denn diese Situation war alles andere als brenzlig. Freddie mag nicht das hellste Licht im Leuchter sein, aber er ist sicherlich nicht der Typ, der Frauen bedrängt oder schlimmeres im Schilde führt. Jetzt hängt er mit schmerzverzerrtem Gesicht in Negans Armen, der ihm mithilfe irgendeines Kampfsportgriffs den Arm auf den Rücken gezerrt hat und ihn im Schwitzkasten hält.
Das darf doch jetzt alles nicht wahr sein!
"Lass mich los!", jammert Freddie und zappelt hilflos in Negans Klammergriff.
"Ich will erst von dir wissen...", zischt Negan mit seiner gefährlich leisen Stimme, die, so gut kenne ich ihn mittlerweile, nichts Gutes verheißt, "Ob du gehört hast, dass sie Nein gesagt hat?"
Nun gesellen sich auch noch Ashton...und wie hieß gleich noch der andere?...hinzu und bauen sich drohend vor ihm auf. Dieser könnte nicht unbeeindruckter aussehen.
"Lass ihn los.", fordert der, dessen Namen ich vergessen habe, Negan auf und lässt dabei demonstrativ seine Oberarmmuskeln zucken, "Er hat ihr nichts getan, er hat dir nichts getan. Also hör auf..."
"Hallo?", fährt Negan dazwischen und zieht an Freddies Arm, was diesen aufheulen lässt, "Ich hab ne' verdammte Frage gestellt - krieg' ich darauf endlich mal ne beschissene Antwort?"
Was zum Teufel tut er da?
Lässt mich den ganzen Abend links liegen und verteidigt jetzt meine Ehre? Ich bemerke, dass ich die Hände zu Fäusten geballt habe und mir in diesem Moment nichts lieber wünsche, als dass der namenlose Muskelprotz ihm eine gehörige Backpfeife verpasst. Verdient hätte er's. Vielleicht bringt ihn das wieder zur Vernunft.
Die Schockstarre, in die ich verfallen bin seit Negan wie aus dem Nichts aufgetaucht ist, fällt durch die aufbrodelnde Wut endlich von mir ab.
Hilfesuchend sehe ich mich um, schließlich habe ich meine Lektion, was Schlägereien angeht, gelernt. Jedoch ist da niemand außer Mandy, die etwas abseits stets und seelenruhig raucht.
In ihrem Blick liegt eine seltsame Faszination, ich weiß nicht, ob diese dem Männlichkeitsgehabe, was diese Idioten hier an den Tag legen, oder der bevorstehenden Schlägerei gilt. Sie scheint die Show zu genießen, das heißt im Klartext, von ihr brauche ich keine Unterstützung zu erwarten.
Mir reicht's jetzt auf jeden Fall. Dann ist es also doch wieder an mir, dazwischen zu gehen. Ich straffe die Schultern und dränge mich an den beiden Männern vorbei.
"Lass ihn los.", fordere ich Negan auf, "Es ist nichts-"
"Ich hab noch immer keine Antwort!", blafft er. Er sieht mich überhaupt nicht an. Sein Blick ist starr und unerbittlich auf Freddie gerichtet.
"Ich hab's gehört.", stöhnt dieser endlich.
"Du hast es gehört?", wiederholt Negan lachend, "Echt? Dann frag ich mich doch..." Er zerrt Freddies Kopf nach oben, damit sein Mund direkt an seinem Ohr ist. "...warum du's ignorierst?"
"Negan...", beginne ich und greife nach seinem Arm.
In diesem Augenblick eskaliert die Situation: Ashton und der andere Typ beschließen, ihrem Freund zur Hilfe zu eilen. Sie stürmen nach vorne und stürzen sich auf Negan. Ich werde dabei zur Seite gestoßen, verliere das Gleichgewicht und lande auf den Knien. Zischend atme ich aus. Scheiße. Willkommen im Déjà-vu. Ich sollte wirklich die Finger von Schlägereien lassen. Und wer war das überhaupt? Negan? Oder einer der anderen?
Als ich aufsehe, bilden die Männer ein Knäuel wie in einem Comicfilm. Man hört dumpfe Schläge, Gestöhne, Gebrüll. Die Fäuste fliegen wild durcheinander, man kann nicht sagen, wo der eine aufhört und der andere anfängt.
Scheiße, scheiße, scheiße.
"Aufhören!", schreie ich und rapple mich wieder auf, "Hört verdammt noch mal endlich auf."
Ich könnte genauso gut die Sonne bitten, heller zu strahlen oder den Himmel, blauer zu sein.
Diese Dummköpfe! Testosteronschleudern! Vollidioten!
Hilflos tänzle ich hin und her und weiß nicht, was ich tun soll.
Hazel, komm schon, lass dir was einfallen!
Ich könnte dazwischen gehen, aber meine schmerzenden Knie raten mir, dass ich das jetzt lieber lassen sollte. Und was könnte ich schon ausrichten?
Ich könnte ihnen Steine an den Kopf schmeißen, aber selbst das würden sie wohl nicht merken.
Ich könnte jemanden holen, der dazwischen geht...
Diese Option klärt sich von allein, als drei weitere Kerle aus der Halle gelaufen kommen, sich mutig zwischen die Kampfhähne werfen und sie auseinanderzerren. Endlich. Oh mein Gott, endlich!
Einer packt Negan am Kragen und zieht ihn nach hinten. Freddie nutzt seine Chance. Er lässt seine Faust in Negans Gesicht krachen, rammt ihm das Knie in den Magen, bevor auch er wieder weggezerrt wird.
Ich kann mir einen spitzen Schrei nicht verkneifen. Gerade noch habe ich mir zwar gewünscht, dass Negan eine Abreibung erhält, aber neben all der Wut, ist da auch Angst. Verdammt, ich will nicht, dass dieser Blödmann ernsthaft verletzt wird!
Negan sieht eher verwundert aus, als dass er wirklich Schmerzen zu haben scheint. Er wischt sich mit der Hand über den Mund, schaut verdutzt auf das Blut, welches daraufhin daran klebt.
"Ach, sind dir jetzt plötzlich Eier gewachsen? Musst du jetzt nicht mehr deine Kumpels vorschieben?", höhnt er. Freddie hätte sich um ein Haar losgerissen und wäre wieder auf ihn losgegangen. Wütend brüllen alle durcheinander, werfen sich unflätige Beleidigungen an den Kopf.
Wie eine Horde Affen.
Ich wollte zu Negan laufen, sehen, ob es ihm gut geht, doch jetzt halte ich mitten in der Bewegung inne.
Ihm scheint es hervorragend zu gehen, viel zu gut, wenn er noch provozieren kann.
Und ich habe jetzt wirklich die Nase voll.
Survival of the Fittest. Sollen sie sich doch gegenseitig ihre dämlichen Schwachköpfe einschlagen. Mir reicht's.
Ich drehe mich um und gehe.
In meinem Kopf dreht sich das Gedankenkarusell, angeschoben durch die Wut, durch die Sorge, durch die Enttäuschung.
Negan.
Er ist besitzergreifend, arrogant, schamlos, ungehobelt, kopflos, vielleicht nicht mal treu. Alles Eigenschaften, mit denen ich nie viel anfangen konnte.
Warum habe ich mich in so einen verliebt? Es ist mir unerklärlich. Das alles hier ist mir unerklärlich.
Er ist mir unerklärlich.
Er ist wie tiefes Wasser, je tiefer man taucht, je mehr seiner Schichten man durchdringt, umso dunkler wird es. Es gibt seichte, sanfte Strömungen in ihm, aber auch wirbelnde Strudel, die dich nach unten ziehen, dir die Luft zum Atmen nehmen.
Er kann tosen, wie die wütende Brandung, die Wellen über dich zusammenschlagen lässt.
Er kann warm wie die Südsee sein und dann aber auch so kalt, wie ein zugefrorener See, der, springt man hinein, einem für einen Moment den Atem raubt.
Er ist so endlos, so gefährlich, so schön und anmutig wie das Meer und ich treibe darin und kann weit und breit kein Ufer sehen.
"Hey, jetzt renn doch nicht weg! Ich hab jemanden für nen Dreier klar gemacht!", ruft Negan mir hinterher und reißt mich damit aus meiner Grübelei.
Ich ignoriere ihn geflissentlich und stampfe zügig die Straße entlang. Plötzlich platscht mir ein dicker Wassertropfen auf die Nase, was mich zusammenzucken lässt.
Natürlich. Mit der rauen See kommt der Regen.
Scheißtag! Scheißparty! Scheißtypen! Scheißnegan!
Verdammt seien sie alle!
"- Sie heißt Carrie und ist Mathematikstudentin. Zumindest noch. Sie hat ihre letzte Prüfung versemmelt und ist dementsprechend betrunken und..."
Ich könnte explodieren! Ist er wirklich noch gedanklich beim Dreier? In welcher Welt lebt dieser Depp eigentlich? In einer, in der er nach dieser Aktion auch noch mit Sex belohnt wird?
Träum' weiter, Arschloch, nicht mit mir!
Ich drehe ich mich zu ihm um und wende mich dann gleich wieder angeekelt ab.
Sein Anblick ist abstoßend: Das Blut, durch den mittlerweile stärkeren Regen verdünnt, läuft ihm über Kinn und Hals, lässt sein Grinsen zu einer hässlichen, blutroten Fratze werden. Wäre heute Halloween, würde er bestimmt kräftig absahnen.
Ich fische ein paar Taschentücher aus meiner Handtasche und reiche sie ihm.
"Mach dich sauber.", sage ich knapp und gehe weiter.
"Sag mal, bist du gerade sauer auf mich?"
Oh, da ist er aber schnell darauf gekommen.
Er hat aufgeholt und läuft neben mir her. Ich spiele mit dem Gedanken, ihn einfach zu ignorieren, aber schließlich werde ich heute Nacht noch wohl oder übel mit ihm in diesen Hotelzimmer verbringen müssen.
"Natürlich bin ich sauer!", platzt es aus mir heraus, ich bleibe erneut stehen und stemme die Hände in die Seiten, "Was sollte der Mist?"
Negan sieht tatsächlich komplett verwirrt aus. Er runzelt die Stirn und schüttelt den Kopf, als versuche er gerade eine komplizierte mathematische Gleichung lösen. Offensichtlich ist Benehmen für ihn ja auch eine Gleichung mit vielen Unbekannten.
"Der Typ hat dich angemacht, du hast ihn abgewiesen, er hat's ignoriert...", geht er die Ereignisse, wie sie aus seiner Sicht abgelaufen sind, durch. Man sieht, wie es förmlich hinter seiner Stirn rattert. Während sich rote Schlieren ungehindert über seine Haut ziehen und auf sein Hemd tropfen.
"Verdammt, wisch dir doch endlich mal das Blut aus dem Gesicht!", fahre ich ihn an.
Pflichtbewusst drückt er sich das Taschentuch auf die blutende Lippe. Der Regen ist nun so stark, dass unsere Kleidung durchweicht und unsere Haare am Kopf kleben.
Er ist noch immer ratlos.
"Du willst wissen, warum ich sauer bin? Weil ich es leid bin, dass du dich aufführst wie ein durchgeknallter Ziegenbock!", helfe ich ihm auf die Sprünge, "Den ganzen Abend hängst du zwischen den Titten dieser Carrie fest und wenn ich mich mit jemanden unterhalte, kommst du an, machst einen auf dicke Hose und zettelst eine dämliche Schlägerei an? Findest du das geil? Oder cool? Ich sag dir, wie ich das finde: Lächerlich! Peinlich!"
Sein blutiges Grinsen ist wieder da. Oh, wie mich dieses Grinsen aufregt!
"Tzztzz, Hazel, Hazel.", sagt er kopfschüttelnd, als hätte er überhaupt nicht gehört, was ich gesagt habe, oder, nein, als fände er lustig, was ich gesagt habe, "Wenn du wütend bist, hast du ja ein richtig loses Mundwerk. Das gefällt mir!"
"Fick dich!", brülle ich und mache auf dem Absatz kehrt.
In mir kocht es. Am liebsten würde ich ihm gehörig in die Eier treten. Oder ihn aussperren. Ja, der Gedanke gefällt mir. Negan über Nacht hier draußen im Regen. Vielleicht sollte ich vorher noch einen kleinen Flirt mit dem Rezeptionisten anzetteln. Oder besser noch...
"Ich will nur mal anmerken, dass die mich zuerst geschlagen haben."
Er hat mich wieder eingeholt.
"Ja, nachdem du sie vollkommen grundlos provoziert hast. Und einem von ihnen den Arm verdreht hast.", gebe ich zurück, meinen Blick starr auf das Hotel, welches immer näher rückt, gerichtet.
"Der hat dich gottverdammt nochmal bedrängt!"
"Und du musst mich verteidigen, oder was?"
"Ja, das muss ich."
Ich bleibe erneut stehen und blitze ihn wütend an. Der Regen prasselt auf uns herab, als wolle er die vorherrschende Stimmung tatkräftig unterstützen.
"Dann lebst du im falschen Jahrhundert!", stelle ich bissig fest.
"Ach ja?", knurrt er und macht einen Schritt auf mich zu. Er sieht beinahe bedrohlich aus, mittlerweile ebenso wütend wie ich.
" - Solange Typen wie dieser Ficker ein Nein ignorieren, sehe ich es als meine verdammt Pflicht, dafür zu sorgen, dass sie das nicht noch mal tun!"
Noch ein Schritt.
"Negan, der hatte nicht vor, mich zu vergewaltigen.", sage ich seufzend, weiche instinktiv einen Schritt zurück.
"Vielleicht nicht, vielleicht doch. Wäre er ein anständiger Kerl, hätte er dich einfach in Ruhe gelassen."
Ich schüttle entnervt mit dem Kopf.
"Du bist unmöglich!", rufe ich, "Du biegst dir alles so zurecht, wie es dir passt! Du..."
"Ich biege mir verfickt noch mal nichts zurecht! Du bist mir verdammt noch mal wichtig, kapierst du das nicht?"
Für einen Moment verschlägt es mir die Sprache. Das ist also seine Art, Zuneigung zu zeigen? Wieso kann er das nicht wie jeder andere, normale Mensch tun?
Mit Blumen und Schokolade zum Beispiel.
Ich seufze erneut.
"Du mir doch auch.", murmle ich, "Was glaubst du, warum ich mich so aufrege? Du allein gegen drei. Dir hätte sonst was passieren können."
"Ach, Hazel.", er lächelt, wirft das vollgesogenen Taschentuch weg und deutet auf seine Lippe, "Schau mal, blutet schon gar nicht mehr. Das war, als hätte ein Sechsjähriger auf mich eingeschlagen."
Er zieht mich an sich, wischt mir die Regentropfen von Stirn und Wangen. Widerwillig lasse ich es geschehen.
"Pfff.", grunze ich verächtlich.
Seine Arroganz ist wirklich kaum zu fassen.
"Trotzdem. Ich will nicht, dass du dich wegen mir prügelst. Dass du das überhaupt tust.", sage ich.
"Verstehe. In Zukunft werde ich mich mit den Arschlöchern bei nem Bier zusammensetzen und wir reden darüber.", er legt seinen Arm um mich und blickt sehnsüchtig zum Hotel, "Wollen wir nicht endlich reingehen? Bei mir schrumpelt langsam alles zusammen..."
Ich nicke. Auch ich bin nunmehr nass bis auf die Knochen und wünsche mir nichts sehnlicher, als trockene, warme Kleidung anzuziehen.
Nach einer warmen Dusche und einem längst überfälligen Kleidungswechsel, schlüpfen wir unter die Decke.
Das Gedankenkarusell ist noch nicht zum Stehen gekommen.
Ich bin, trotz der besseren Stimmung, die nun zwischen uns herrscht, noch verunsichert.
Ich weiß nicht, ob ich mit seiner Unberechenbarkeit umgehen kann. Sie wird immer wieder zu Konflikten zwischen uns führen. Und wenn ich jetzt schon Zweifel habe - ist es dann nicht besser, es gleich zu beenden, bevor es zu spät ist? Jedenfalls wäre das vernünftig.
"Alles in Ordnung? Bist du noch sauer?", höre ich ihn fragen. Er hat den Kopf auf den Arm gestützt und mustert mich prüfend.
"Nein", lüge ich.
"Dann vielleicht ein bisschen kuscheln?"
Er rückt ein Stück näher zu mir, seine Fingerspitzen streichen über die Innenseite meines Unterarmes.
"Ich bin müde.", entgegne ich ausweichend.
Überraschenderweise akzeptiert er das diskussionslos.
"Okay", flüstert er, er zieht mich an seinen warmen Körper. Erst jetzt wird mit bewusst, dass meine Haut eiskalt ist.
"Tut mir leid, dass ich dir den Tag versaut habe.", fährt er fort und es klingt aufrichtig, "Das war dämlich. Denn...ich fand, dass die letzten zwei Tage mit dir einfach..."
Erstaunt blicke ich zu ihm auf, mein Herz trommelt schneller und schneller.
"Sie waren einfach perfekt.", murmelt er in meine noch feuchten Haare hinein.
Er platziert sanfte Küsse auf meinem Scheitel, auf meiner Stirn, auf meiner Nasenspitze, meinen Lippen. Dann schmiegt er sich an mich, reibt vorsichtig über meine Haut, damit sie warm wird.
Da sind sie wieder, die sanften Wogen. Die herrlich warme Südsee, in der ich den Rest meines Lebens baden könnte.
Es wäre vernünftig, es zu beenden. Aber ich kann nicht.
Ich kann einfach nicht.
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