Kapitel 11

"Austin. Da wären wir."
Wir stehen vor der Wohnungstür in einem der Blocks. Hier sieht es genauso trostlos aus, wie draußen. Der Flur wurde bestimmt seit Jahren nicht mehr geputzt, es stinkt nach ungepflegten Menschen, verschmierte Grafittis prangen an den Wänden und die altersschwache Neonröhre flackert ständig. Geschrei hallt durch die Flure. Die perfekte Kulisse für einen Horrorfilm, aber kein Zuhause.
"Und jetzt?", frage ich leise. Mein Unbehagen ist mittlerweile zu Sorge geworden. Am liebsten würde ich mich umdrehen und wieder gehen. Aber Negans Miene ist noch genauso entschlossen wie vorhin. Er wird keinen Rückzieher machen.

Statt einer Antwort hämmert Negan an die Tür. Oh man. Nicht zum ersten Mal frage ich mich, was wir hier eigentlich tun. Wir spielen uns auf, wie Cops. Nur das wie keine sind. Sondern verdammte High School Lehrer!
Nach stetigem beharrlichen Klopfen öffnet sich die Tür einen Spalt weit. Vor uns steht eine winzige Frau, mit krausem, braunen Haar und gehetztem Gesichtsausdruck. Alles an ihr erinnert an eine scheue Maus. Sie verbirgt sich halb hinter der Tür, trotzdem ist der mittlerweile verblassende Bluterguss über ihrem Auge zu erkennen.
"Was wollen Sie?"
Ihre Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern.
"Wir wollen mit Ihrem Mann sprechen.", entgegnet Negan jovial und beugt sich zu der Mausfrau hinab.
"Nich' da."
Sie will die Tür vor unserer Nase wieder zuschlagen, doch Negan ist schneller. Bevor sie- oder ich- reagieren können, hat er sich dazwischen geschoben, verhindert, dass die Tür schließen kann. Die Frau weicht sofort zurück, in ihrem Gesicht macht sich Angst breit.
"Danke.", sagt er grinsend und macht mir die Tür auf, damit ich auch eintreten kann, "Wo ist er?"
Die Frau scheint in eine Schockstarre verfallen zu sein. Mit bebenden Lippen starrt sie Negan an, als wäre er der Teufel höchstpersönlich. Allzu unrecht hätte sie damit im Moment auch nicht. Ich trete unbehaglich von einem Fuß auf den anderen- einfach in die Wohnung anderer Leute eindringen, ist nicht so mein Ding.
"Bitte...", haucht sie.
"Jolie! Wer verflucht noch mal war das?", brüllt eine Stimme aus dem hinteren Teil der Wohnung.
"Da ist er ja.", schlussfolgert Negan. Sein Lächeln erinnert an das einer Klapperschlange. Er flößt damit nicht nur Jolie eine ordentliche Menge Respekt ein.
"Ne-", setze ich an, aber er folgt schon mit langen Schritten der Stimme.

Die ganze Wohnung, aber insbesondere das Wohnzimmer, ist in einem erbärmlichen Zustand. Überall liegen leere Flaschen,  Zigarettenkippen, halbleere Fastfood-Verpackungen. Es ist nicht nur dreckig, es ist abstoßend. Als wir ins Wohnzimmer kommen, stelle ich mit Erschrecken fest, dass nicht nur ein betrunken aussehender Mann auf der Couch liegt, sondern auch ein Kleinkind, höchstens zwei Jahre alt, zwischen all diesem Müll haust. Es sitzt mit schmutzigem Gesicht auf dem Boden und kaut an der Ecke eines Pizzakartons herum. Ich laufe auf das Kind zu, aber Jolie, ich habe sie gar nicht kommen hören, schiebt sich bereits an mir vorbei und drückt das Kind schützend an ihre Brust.

Der Mann ist ausgemergelt und vom Alkohol gezeichnet. Obwohl er bestimmt erst Ende Dreißig ist, sieht er deutlich älter aus. Tiefe Falten haben sich in sein Gesicht gegraben, unter seinen glasigen Augen liegen dunkle Ringe, sein Haar ist stumpf und schütter.
Als der Mann uns, oder besser gesagt Negan, der auf ihn zugerauscht kommt, entdeckt, tritt Entsetzen in seinen Blick. Er richtet sich ruckartig auf und hebt die Hände.
"Ich werde bezahlen, ich..."
Negan packt ihn an seinem fleckigen Unterhemd und zieht ihn auf die Füße.
"Dafür bin ich nicht hier.", knurrt er und schüttelt den Mann, den er um mehr als einen Kopf überragt.
"Wofür dann? Wer verdammt noch mal bist du überhaupt?", keift der Mann und zieht geräuschvoll die Nase hoch. Bei ihm ist wahrscheinlich nicht nur Alkohol im Spiel.
Er versucht sich aus Negans Griff zu winden, was ihm jedoch nicht gelingt.
"Wegen deinem Jungen. Marek."
Die Angst weicht augenblicklich aus seinem Gesicht. Jetzt sieht er wütend aus.
"Warum sollte der mich kümmern? Der is' nich mal von mir. Lass mich los, du Wichser."
Negan lacht ein eiskaltes Lachen. Es hat nichts Freundliches an sich. Keine Belustigung ist darin. Als würde jemand Eis zerklirren.

"Ist mir scheißegal, mit welchem beschissenen Sperma der Junge gezeugt wurde.", donnert Negan, "Du vögelst seine Mutter, also bist du für ihn verantwortlich."
Der Mann zappelt wieder in seinem Griff.
"Verpiss dich!", kreischt er, "Du und deine dreckige Hure! RAUS AUS MEINER WOHNUNG!"
Ein Ruck geht durch Negans Körper. Plötzlich findet der Mann sich an die Wand gepresst wieder, ein Arm auf seiner Kehle, seine Füße einige Zentimeter über den Boden baumelnd.
"Wenn du sie nochmal als Hure bezeichnest...", droht Negan ihm, "Trete ich dir so lange in die Eier, bis du nicht mal mehr pissen kannst."
"I-ich krieg' keine Luft...", japst der Mann und versucht, sich aus Negans unerbittlichem Griff zu winden. Er scheitert erneut kläglich.
"Wie heißt du?"
"Luft..."
"ICH HAB GEFRAGT, WIE DU VERDAMMT NOCH MAL HEIßT!"
Der Mann zappelt und röchelt, doch Negan scheint seinen Würgegriff nur noch weiter zu verstärken. Mittlerweile hat er einen hochroten Kopf.
"Danny."

"Danny." Negans Stimme ist jetzt ein bedrohliches Flüstern
"- Du hörst mir jetzt genau zu: Du wirst ab heute aufhören zu saufen. Du wirst aufhören, sonstwelche Drogen zu nehmen und du wirst deine Kinder und deine Frau nie wieder schlagen! Denn sonst...werde ich wieder vor deiner Tür stehen."
Dannys Antwort ist ein Gurgeln.
"Ich werde wieder vor deiner Tür stehen und dann kommst du mir nicht davon. Hast du das verstanden?"
Negan beugt sich zu Danny, für einen Moment sieht es aus, als wolle er ihn küssen. Aber das tut er natürlich nicht. Er flüstert ihm irgendetwas ins Ohr. Danny reißt die Augen auf, beginnt unkontrolliert zu zucken. Plötzlich mischt sich der Geruch von Urin in den schon sonst in der Wohnung herrschenden Gestank. Auf Dannys Hose breitet sich ein dunkler Fleck aus.
"Hast du mich verstanden?", wiederholt Negan seine Frage. Auf seinem Gesicht liegt ein seltsam verzerrtes Lächeln. Jetzt macht er mir wirklich Angst.
"Negan...", sage ich leise und mache einen Schritt auf ihn zu. Das geht zu weit. Das ist...
"Halt dich da raus.", sagt er scharf und ich weiche wieder zurück. Er starrt Danny noch immer an, dem mittlerweile Tränen über die Wangen rollen. Röchelnd schnappt er nach Luft und nickt dann leicht.
"Ich hab's verstanden.", krächzt er.

Negan lässt ihn ruckartig los und er plumpst auf den Boden, als hätten Negans Worte sämtliche Knochen in seinem Körper aufgelöst. Wie er da so röchelnd, zitternd und schluchzend hockt, gibt er ein erbärmliches Bild ab. Trotzdem hält sich mein Mitleid in Grenzen.
"I-ich muss mich umziehen...", flüstert er, als er sich der Nässe gewahr wird, "I-ich..."
"Oh nein.", lacht Negan und stupst ihn mit der Schuhspitze an, "Du wirst dich jetzt verpissen. Du wirst jetzt raus gehen und darüber nachdenken, was für ein mieser Haufen Scheiße du bist. Und dann darfst du dich umziehen."
Danny starrt ungläubig zu Negan auf, doch sein Blick ist unerbittlich, lässt keine Zweifel daran, dass er das, was er sagt ernst meint. Und Danny gehorcht. Wie ein verprügelter Hund schleicht er aus der Wohnung.

Ich kann immer noch nicht fassen, was da gerade passiert ist. Und dass ich daneben stand und es geschehen lassen habe. Das ist alles wie in einem schlechten Film. Jolie geht es da wohl ähnlich, denn auch sie steht, das Kind noch immer an die Brust gepresst, mitten im Raum und rührt sich nicht. Tränen kullern unaufhörlich über ihr Gesicht. Es ist ein vollkommen lautloses, stummes Weinen.
"So und jetzt zu dir...Jolie."
Sie weicht zurück, als er auf sie zukommt, prallt an die Wand und erstarrt wieder.
"- Ich weiß von Marek, dass du immerhin versuchst ne gute Mom zu sein, also werde ich versuchen, so nett wie nur möglich zu sein.
Dieser Typ wird sich nie ändern. Er wird nie aufhören zu prügeln oder zu saufen. Er ist ein Arschloch und wird immer eins bleiben. Zu deinem Glück, wird er vorerst nicht zurückkommen. Er wird in den Knast gehen.
Das einzige, was du tun musst, ist, gegen ihn aussagen. Ja, er vertickt Drogen. Und tun wir beide nicht so, als müsstest du dabei lügen."
Er legt seine Hand unter ihr Kinn und hebt es leicht an, damit sie ihn ansieht.
"- Falls du das nicht tust, wird er in spätestens zwei Wochen wieder auf deiner Couch hocken wie ein Parasit und dich und deine Kinder verprügeln. Also wage es nicht, einen Rückzieher zu machen. Haben wir uns verstanden?
Jetzt hast du es in der Hand, Jolie. Ich erwarte von dir, dass du jetzt dein Kind wäscht, deine Wohnung von diesem Müll befreist und dass du, wenn Marek in zwei Stunden nach Hause kommt, ihn mit der freudigen Nachricht, dass dieser Haufen Scheiße endgültig aus eurem Leben verschwunden ist und einem verdammten Teller Spaghetti empfängst. Kriegst du das hin?"
Jolie starrt zu Negan auf, langsam versiegen die Tränen. Dann nickt sie.
"Ja, das kriege ich hin.", flüstert sie.

Wir verbringen die nächste gute Stunde damit, Jolie beim Aufräumen zu helfen. Mich wundert es bei all dem Dreck wahrlich, dass mir keine Ratten entgegengesprungen kommen. Kakerlaken begegne ich dagegen zu Hauf. Nach dem wir fertig sind, ist es noch lange nicht sauber, aber immerhin ist der ganze Müll schon mal raus.
"So.", macht Negan zufrieden, "Der Rest ist deine Sache. Ich würde mir ja ne neue Wohnung suchen, den Gestank von diesem Abschaum kriegst du nie wieder raus."
Jolie nickt, sie scheint in den letzten Minuten ein wenig gewachsen zu sein.
Als wir die Wohnung verlassen haucht sie uns ein "Danke" hinterher.

"Puh...wow.", stöhnt Negan, als wir wieder im Wagen sitzen, "Dieses Good-Cop/Bad-Cop- Ding sollten wir öfters machen."
Er wirft mir ein zufriedenes Lächeln zu. Erst jetzt merke ich, wie sehr meine Hände zittern. Das Gefühlchaos von heute morgen ist einem neuen Sturm gewichen. Alles in mir wirbelt durcheinander. Was zur Hölle war das? Was haben wir da getan? Und...
"Hazel?"
"Danke, nein.", stoße ich hervor, jeder Muskel meines Körpers scheint angespannt zu sein, "Das reicht erst mal für...den Rest meines Lebens. Das...du...warst beängstigend."
Negan wirft mir einen Seitenblick zu, er sieht tatsächlich für einen Moment ein wenig verlegen aus.
"Das wollte ich nicht. Dir Angst einjagen, meine ich. Die ganze Sache ist ein wenig...mit mir durchgegangen.", murmelt er.
Ich seufze und schüttle leicht den Kopf.
"Negan, das kann dir alles so viel Ärger einbringen. Du könntest dafür in den Knast gehen."
"Ich weiß. Aber ehrlich gesagt, ist mir das scheißegal. Traurig genug, dass ich mich um solche Dinge kümmern muss, weil's sonst keiner tut."

Ich atme tief ein und aus. Die Anspannung lässt langsam nach.
"Was macht dich so sicher, dass Danny verhaftet wird?", frage ich und starte den Wagen.
"Ich hab nen Kumpel bei der Polizei. Drogendezernat, um genau zu sein. Wir saßen mal zusammen in ner Bar. Er hat gejammert, weil seine Statistiken so schlecht sind. Und ich hatte Probleme mit einem anderen prügelnden Daddy. Also haben wir nen Deal gemacht: Ich sorge dafür, dass er jemanden verhaften kann- und er verhaftet denjenigen. Win-win, sozusagen."
"Und wofür wird Danny verhaftet?"
"Eh...er hat einen nicht mehr zulässige Menge Meth bei sich. Drogenbesitz ist keine große Sache, aber wenn Jolie brav ist und aussagt, kann's ihm ein, zwei Jahre einbringen. Das dürfte für sie reichen, um ihr Leben auf die Kette zu kriegen."
Entsetzt werfe ich ihm einen Blick zu.
"Oh...verdammt. Heißt das, du bist den ganzen Tag mit Crystal Meth in deiner Tasche rumgelaufen?", kreische ich.
"Danke, Hazel, dass du meinen Einfallsreichtum und meinen Sinn für Gerechtigkeit so überschwänglich lobst.", grinst er. Es scheint ihn nicht im geringsten zu jucken.
"Wo hattest du Zeug überhaupt her?", quietsche ich.
"Von Gabe."
"Gabe?", meine Stimme schnellt weitere zwei Oktaven in die Höhe, "Ist das nicht einer unserer Schüler?!"
Er zuckt ungerührt die Schultern.
"Hab ihm gesagt, es wäre für nen Chemieprojekt."
Er hatte DROGEN, die er bei einem SCHÜLER gekauft hat, bei sich! In der Schule! Ich kann gar nicht so viel nach Luft schnappen, wie ich gerade wöllte.
"Außerdem: Ich bin Lehrer.", fährt er gelassen fort, "Kein Mensch, kein Cop, würde mich nach Drogen durchsuchen."
Ich kann mir ein Schnauben nicht verkneifen.
"Ja, klar."
Negan kichert ausgelassen und knufft mich in die Seite. Er ist jetzt wieder bester Laune, von dem furchteinflößenden Psychopathen von vorhin ist nichts mehr zu spüren.
"Entspann dich. Das lief großartig! Wir sind wie Robin Hood! Ich bin gerade verdammt gut drauf- lass uns noch was trinken."
"Morgen ist Schule!"
"Ach, ich vergaß! Ich bin ja mit Ms Stock-im-Arsch unterwegs.", sagt er lachend, "Davon hab ich gestern nur gar nichts gemerkt, als du..."
"Hör auf!", warne ich. Augenblicklich werden meine Wangen heiß.
"Als du so richtig ungezogen warst. Als du mich angebettelt hast, dass ich dich ficke. Mitten in der Konferenz. In der Schule. In der Turnhalle..."
"Negan!", bettle ich. Gleich platze ich vor lauter Scham.
"Missy Manning", sagt er bedeutungsvoll und legt seinen Arm über meine Sitzlehne, "Du steckst voller Überraschungen. Du weißt es nur selbst noch nicht.
- Dort ist übrigens eine Bar!"

Also jetzt trinke ich schon mitten in der Woche, obwohl ich morgen arbeiten muss, denke ich muffig und schüttle gedanklich den Kopf über mich selbst, während ich an meinem Beer Shandy nippe.
Negan war gerade telefonieren und macht noch einen Abstecher an die Bar. Und nein, das ist nicht der erste Whiskey innerhalb der halben Stunde, die wir mittlerweile hier sind.
Mit einem breiten Grinsen kommt er zu unserem Tisch zurück.
"Und Little John, was machen wir am Wochenende?", fragt er.
Ich zerschmettere seine Hoffnungen mit einer gewissen Genugtuung.
"Mein Freund ist zu Besuch. Wir werden quatschen, sein Konzert besuchen...Vielleicht noch meinen Dad...", zähle ich unschuldig auf. Es hat seinen gewünschten Effekt. Negan runzelt kurz die Stirn, dass Lächeln verblasst.
"Du bist also das ganze Wochenende mit diesem Typen zusammen."
"Ja. Stört's dich?"
"Würde es dich stören, wenn's mich stört?", raunt er und blickt mir dabei tief in die Augen. Obwohl es sofort an gewissen Stellen meines Körpers zu prickeln beginnt, behalte ich einen kühlen Kopf. 
"Nö."
Gut gemacht, Hazel. Beinahe hätte ich mir selbst auf die Schulter geklopft.
"Autsch.", murmelt er. Negan sieht tatsächlich ein wenig zerknirscht aus. Er schüttelt verdutzt den Kopf, als hätte ich ihm eine Ohrfeige verpasst. Dann fängt er sich wieder.
"Dort an der Bar sitzt ein Typ, Warren, der Skat spielen will- Lust auf ne Runde?"

"Also- um was spielen wir?", fragt er grinsend und lehnt sich mit im Nacken gefalteten Händen zurück. Sein siegessicherer Gesichtsausdruck lässt keinen Zweifel daran, dass er fest damit rechnet, zu gewinnen.
"Muss man denn um was spielen?", frage ich unsicher. Er lacht.
"Natürlich. Ich mach dir nen Vorschlag: Wir spielen um das Wochenende. Wenn ich gewinne, lässt du den Typen sausen und gehörst zwei Tage nur mir allein."
Wie er das sagt, läuft mir ein erregender Schauer über den Rücken.
Dennoch: Sein Tonfall gefällt mir gar nicht. Und sein Vorschlag im Grunde auch nicht. Unbehaglich rutsche ich auf meinen Stuhl hin und her.
"Ich habe Tarek ein dreiviertel Jahr nicht gesehen!", protestiere ich halbherzig.
"Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.", meint er nur schulterzuckend und beginnt die Karten zu mischen. Ich seufze ergebens.
"Also gut. Falls ich gewinne...", ich durchforste mein Hirn nach den wenigen Dingen, die ich über Negan weiß, nach dem, was ihm wirklich weh tut, "...bekomme ich am Wochenende deine Corvette."
Er hält inne und starrt mich an.
"Was? Nein. Vergiss es!"
"Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.", wiederhole ich seine Worte.
Für einen Moment zeichnet sich deutlicher Widerwillen auf seinem Gesicht ab. Ich habe genau ins Schwarze getroffen. Dann zuckt er erneut die Schultern.
"Deal."
"Deal."
Wir schlagen ein und legen unsere Autoschlüssel als Pfand auf den Tisch.

"Trumpf ist die Seele des Spiels.", sage ich süffisant und lege meine Karte. Negan blickt verdrießlich von seinem Blatt auf, sein Mund ist mittlerweile ein schmaler Streifen. Er und Warren spielen die dritte, finale Runde gegen mich. Und man muss kein Skatprofi sein, um zu erkennen, dass diese Runde erneut an mich geht. Dabei hatten sie beide kein schlechtes Blatt. Mit den richtigen Kniffen, hätten sie locker gewinnen können. Aber Negan hat einen entscheidenden Fehler gemacht: Er hat mich unterschätzt.
Skat ist ein Altherrenspiel und mein Grandpa war ein Meister darin. An den vielen verregneten Sommertagen Maines saß ich bereits als kleines Kind stundenlang mit ihm auf der Terrasse und habe mit ihm Skat oder Schach gespielt.
Vielleicht hätte ich das mal erwähnen sollen.
"Hat deine Corvette eigentlich einen Namen?", frage ich unschuldig, um ihn noch ein wenig mehr zu reizen.
"Baby", presst er zwischen zusammengepressten Kiefern hervor, "Aber wenn sie mal wieder rumzickt, werde ich sie in Zukunft Hazel nennen."
Ich hole zum finalen Schlag aus und ziehe die beiden Männer komplett ab. Negan knallt seine Karten hin und kippt seinen Bourbon in einem Zug. Ein guter Verlierer ist er nicht.
Warren macht sich trotzdem die Mühe, die Karten zu zählen. Dann schüttelt er traurig den Kopf.
"Ich fürchte, Hazel hat uns eiskalt besiegt.", verkündet er schließlich.
"Ich weiß.", grunzt Negan und kippt schon den nächsten Whiskey. Ich greife grinsend nach seinem Autoschlüssel und lasse den Schlüsselring aufreizend um meinen Finger kreisen.
"Dann gehört dein Baby jetzt wohl mir."
Oh, wie ich das genieße!
"Teufelsweib!", knurrt er, "Sieht von außen aus, wie eine fluffige Zimtrolle, trägt im Inneren aber eine diabolische, verkommene Seele."
Jetzt muss sogar Warren grinsen. Er klopft Negan auf die Schulter und geht zur Bar, um sich ein Bier zu holen.
"Ach, Negan.", sage ich im gespielt tröstendem Tonfall, "Versuch gar nicht erst, mir ein schlechtes Gewissen einzureden. Je mehr du rummaulst, desto mehr Spaß hab ich an der ganzen Sache."
Diese Retourkutsche an unseren Ballabend konnte ich mir nicht verkneifen.
"- Ich erwarte dein Baby spätestens Samstagfrüh mit vollem Tank vor meiner Haustür. Okay?", setze ich noch einen drauf.
Er hebt den Blick und sieht aus, als würde er mir jeden Moment an die Kehle springen.

"Der Schulparkplatz ist schon längst abgeschlossen, ich werde heute wohl nicht mehr an mein Auto rankommen.", verkündet Negan lallend und klingt dabei nicht besonders traurig.
Ich habe ihn endlich aus dieser Bar rausbekommen und wir sind endlich auf dem Heimweg.
"Kein Problem, in dem Zustand lass ich dich eh nicht mehr fahren.", entgegne ich milde, "Wo muss ich hin?"
Er kramt umständlich in seiner Jackentasche und zerrt schließlich ein zusammengefaltetes Stück Papier hervor. Mühsam faltet er es auseinander. Gott, er ist wirklich mehr als betrunken.
"3015 Hastings Street.", nuschelt er. Da erst erkenne ich das Papier. Es ist meine Notiz, die ich ihm vor dem Ball hinterlassen habe.
"Blödmann.", kichere ich, "Also sag schon- wo wohnst du?"
"Du musst bedenken, du sparst 20 Minuten pro Strecke, wenn du gleich zu dir fährst. Plus die Fahrt morgen früh- wie du ja vorhin richtig angemerkt hast, ist morgen Schule." Beim letzten Satz stöhnt er und reibt sich die Schläfen.
Tja, da wird wohl morgen jemand mit nem Mordskater unterrichten müssen. Ein Tipp: Ich bin's nicht.
"Ich dachte, du willst's langsam angehen.", gebe ich zu bedenken.
"Jaaahaaa.", nörgelt er im kindlichen Tonfall, "Ich geh's doch langsam an."
Ich schüttle mit dem Kopf und fahre an die Kreuzung der Fünften Straße heran.
"Letzte Chance..."
"Hastings Street!"

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