Kapitel 26: Erinnerungen und Erkenntnisse
Warnung:
Dieses Kapitel thematisiert in geringem Umfang Trauma, sexuellen Missbrauch, Kindesmisshandlung usw. Bitte nur mit Vorsicht lesen.
--- dein P. O. V. ---
„Edward...?"
Du sahst den Fullmetal Alchemist perplex an. Seine Worte hatten dich vollkommen aus dem Konzept gebracht und für einen Moment die Ernsthaftigkeit der Situation vergessen lassen.
Er wollte dich retten? Dich? Und nennt dich dann auch noch Prinzessin?
Verlegen wichst du seinem Blick aus, während deine Wangen einen auffälligen Rotton annahmen. Oh man, das hatte fast etwas von den Märchen, die du als Kind gelesen hattest. Der Ritter in strahlender Rüstung auf dem weißen Schimmel überwindet alle Gefahren, besiegt jedes Monster und rettet die im Turm eingesperrte Prinzessin aus den Fängen des bösen Drachen...
Ein trauriges Lächeln schlich sich auf deine Lippen. Sahen dich die beiden Brüder wirklich so? Warst du für sie nichts weiter als ein hilfloses kleines Mädchen, welches sich nicht mal gegen ihren eigenen Onkel wehren konnte? Der Gedanke, wie sie tatsächlich über dich denken könnten, betrübte dich umso mehr und versaute die Vorstellung einer bilderbuchhaften Märchen-Rettung.
„Ich... Also..."
Edwards Stottern riss dich wieder aus deinen betrübter werdenden Überlegungen. Du hobst den Kopf und sahst zu ihm. Auch seine Wangen waren etwas rot geworden.
„Das heißt... Also, wir wollen dir jedenfalls helfen. Selbst ein Blinder sieht, dass dein Onkel ein Arschloch ist, und deshalb wollen wir dir helfen!", meinte er lauter als zuvor.
„Und... wie wollt ihr mir helfen?", fragtest du nach, nun etwas ruhiger als zuvor.
„Also so ganz genau wissen wir das auch noch nicht... Wir-Wir wissen ja auch nicht, warum du eben hier bist...! Aber egal wie, wir helfen dir und unterstützen dich!", kam die entschlossene Antwort Edwards.
Du seufztest leicht, ehe dein Blick zu Alphonse glitt. Die große Rüstung stand verlegen hinter seinem Bruder und fuhr sich immer wieder durch seinen langen „Zopf", wenn man die paar Pferdehaare, die an seinem Helm befestigt waren, denn so nennen konnte.
Als Al deinen Blick bemerkte, zuckte er leicht zusammen. „Ja! Wir-Wir helfen!" Er nickte heftig.
Ein erneutes Seufzen entwich deinen Lippen, ehe du leicht kichern musstest, auch um deine innere traurige Stimmung vollkommen zu überspielen. „Ihr seid wirklich niedlich, ihr zwei."
„N-Niedlich?!", quietschte Edward lauter. „Was ist denn bitte an uns niedlich!?"
„Naja, ihr kommt hier hergestürmt, ohne Plan und Idee, aber stiftet erstmal Chaos und verscherzt es euch mit meinem Onkel!", erwidertest du lachend. „Ihr seid wie zwei kleine Kinder, die zur Mutter in die Küche rennen und schreien, dass sie helfen wollen, obwohl sie keine Ahnung vom Kochen haben!"
„Aber wir... also...!" Der kleine Blonde begann sichtbar zu Schmollen. „Ach man, ist's nicht der Gedanke der zählt?!"
Du lachtest weiter, ehe du Ed sanft die Schulter tätscheltest. „Schon gut, schon gut. Ich weiß ja wie ihr's meint.", beruhigtest du die Alchemisten. „Aber ganz durchdacht habt ihr die Sache trotzdem nicht, oder?"
Der ältere Elric verdrehte die Augen. „Jaaha, haben wir nicht."
„Kannst du's uns denn erzählen, (V/N)?", fragte Alphonse schüchtern. „Also was du hier machst und warum dein Onkel so böse ist...?"
Bei der unschuldigen Frage setzte sich ein kleiner Kloß in deinem Hals fest, der es dir schwer machte zu schlucken. So gern du die Hilfe der beiden auch annehmen wolltest, so sehr zögertest du auch, sie in die Sache mit reinzuziehen – besonders da du selbst nicht alles wusstest.
„Also... es ist kompliziert...", fingst du an, doch Edward unterbrach dich, indem er dein Handgelenk ergriff und dich näher zog.
„Erstmal gehen wir von hier weg! Nicht dass dein Onkel noch kommt und lauscht. Al, auf zum Gasthaus!", rief der ältere Bruder.
„Was- Aber Edward-!" Du wolltest protestieren, doch der Griff des Elrics wurde nicht lockerer, sondern eher fester. Bestimmt lief er los, ehe er schließlich begann zu rennen, dich dabei gegen deinen Willen mitziehend.
Wobei du zugeben musstest, dass du dem Haus und der Gegenwart deines Onkels aktuell nicht nachtrauertest...
--- am nächsten Morgen ---
Nach einer für dich eher unruhigen Nacht im Gästezimmer der Dorfherberge wurdest du recht schnell durch den ersten Sonnenstrahl wach, der durch die löchrigen Vorhänge ins Zimmer schien. Die Augen zusammenkneifend und dir eine Hand vors Gesicht haltend, setztest du dich murrend auf.
Ein Schnarchen ertönte neben dir, sodass du blinzelnd in die Richtung sahst.
Edward lag im zweiten Bett neben dir, vielleicht anderthalb Meter entfernt. Auf dem Rücken liegend mit von sich gestreckten Gliedmaßen hatte er den Mund weit offen, dabei laut atmend. Sein Schlafoberteil war etwas hochgerutscht und entblößte seinen Bauch, während seine blonden Haare offen und wirr auf dem Kopfkissen verteilt lagen.
Bei dem Anblick musstest du ein wenig schmunzeln. Auch wenn es nicht das erste Mal war, dass du den Knirps schlafen sahst – schließlich hattet ihr euch sowohl in Liore, als auch bei Doktor Magi im selben Zimmer geschlafen. Doch im Schlaf erst sahst du so wirklich, dass Edward trotz allem noch ein Kind war.
Ihr wart euch beide wirklich ähnlich. Geniale Alchemisten, die im jungen Alter zu Staatsalchemisten ernannt wurden und Amestris nach dem Stein der Weisen absuchten. Ihr wart klein, stur und hitzköpfig, auch wenn der kleine Knirps doch manchmal etwas mehr ausrastete, wie du fandest. Aber ihr wart wirklich sehr gleich.
Und vielleicht war es genau das, was dich so an ihm faszinierte. Und ihn nun so zu sehen – schlafend, ruhig und, ja einfach kindlich – war ganz anders als sonst. Es erinnerte dich daran, dass auch du noch ein Kind warst. Trotz allem, was sowohl du, als auch Fullmetal erlebt hatten, wart ihr Kinder, die im Schlaf die Bettdecke von sich strampelten oder das Kopfkissen umarmten.
„Bist du schon wach?", ertönte auf einmal Alphonse's Stimme. Nun den Kopf in die andere Richtung drehend, blicktest du zu der großen Rüstung, die scheinbar etwas unbequem und deplatziert auf dem Sessel an der gegenüberliegenden Wand saß.
Du lächeltest ihn wach an. „Gut geschlafen?", fragtest du leise, extra flüsternd, um Edward nicht zu wecken.
Alphonse nickte, obgleich euch beiden klar war, dass er nicht geschlafen hatte. „Du?", fragte er höflich zurück, woraufhin du ebenso nicktest.
Langsam schobst du die Bettdecke ganz von dir, ehe du die Beine aus dem Bett schwangst und so vorsichtig wie möglich aufstandest, darauf bedacht, möglichst kein Geräusch zu erzeugen. Einmal seufzte Edward im Schlaf auf, was dich schnell stillhalten ließ, ehe sich der Junge doch wieder leicht wegdrehte und weiterdöste. Alphonse kicherte darauf hin leicht, und auch deine Lippen zierte ein kleines Lächeln.
Barfuß tapptest du über den Holzboden und verschwandest für einige Momente ins Bad. Nachdem du dich dort erleichtert und kurz frisch gemacht hattest, sahst du prüfend in den Spiegel. Mit deinen Fingern fuhrst du durch deine (H/F)en Haare, im Versuch sie trotz mangelndem Kamm zu entwirren.
„Was mach ich hier nur...", murmeltest du leise zu dir selbst. „Onkel ist sicher wütend. Er wird mich anschreien, sobald ich wieder im Haus bin... und ewig wegbleiben kann ich von da nicht... Scheiße, wo hab ich mich da nur hineingeritten..." Du seufztest einmal schwer.
Du solltest dich vermutlich beeilen, nach Hause zurückzukommen. Der Schaden, der durch dein Wegbleiben verursacht wurde, sollte lieber nicht noch größer werden. Also würdest du die Elrics erstmal ruhig stellen müssen, um eine neue Konfrontation mit deinem Onkel vermeiden zu können.
Das Bad wieder verlassend, sahst du zu Alphonse. Es war günstig für dich, dass nur er wach war – schließlich könntest du ihn einfacher überzeugen oder nötigenfalls einschüchtern.
„Alphonse.", flüstertest du ernst. „Ich geh jetzt nach Hause. Ihr bleibt hier. Verstanden?"
„Hm? W-Was, aber (V/N)-", begann der Junge in der Rüstung bereits zu protestieren, doch du schütteltest bestimmt den Kopf um ihn zu unterbrechen.
„Ich muss in Ruhe mit meinem Onkel reden. Wir treffen uns heute Nachmittag, 16 Uhr auf dem Marktplatz, ja? Da sehen wir weiter." Du versuchtest es mit einem beschwichtigenden Lächeln.
Dieses fand bei Al nur teilweise Anklang. Er wollte sichtbar weiter diskutieren, zumindest gaben seine erhobenen und leicht wackelnden Hände den Anschein, doch zu seinem Glück gab er sich geschlagen. „Na gut, 16 Uhr. Aber bitte pass auf dich auf, nicht dass du wieder verletzt wirst!"
„Ja, ich pass auf. Dann bis später." Du gingst kurz zu ihm und tätscheltest freundschaftlich seine Schulter, ehe du nach einem kurzen Blick auf Edward das Zimmer verließt. Dich knapp an der Rezeptionsdame unten vorbeischleichend, fandest du den Weg nach draußen und liefst schnell die Straße zu deinem Familienhaus entlang.
Dort angekommen, öffnetest du die Tür, welche Helmut am gestrigen Abend zu deinem Glück nicht mehr abgeschlossen hatte – vielleicht hatte er es in seinem Alkoholkonsum auch vergessen.
Dass er jedoch die Beinahe-Schlägerei mit Edward vergessen hatte, wagtest du nicht zu hoffen.
Leise zogst du deine Straßenschuhe im Flur aus, ehe du auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer schlichst. Helmut lag auf dem Sofa, quer mit um sich herumliegenden Flaschen. Er schien das Haus gestern nicht mehr verlassen, aber trotzdem den Weg zu seinen hier gelagerten Alkoholflaschen gefunden zu haben.
Der Umgang mit deinem alkoholisierten oder verkaterten Onkel war dir vertraut, ließ dich aber dennoch immer wieder vor Angst unruhig werden.
Du schlichst weiter in die Küche und bereitest sowohl ein leichtes Frühstück als auch ein Wasserglas mit danebenliegenden Schmerzmitteln gegen den Kater vor. Danach wagtest du dich erneut ins Wohnzimmer und sammeltest so geräuschlos wie möglich die Flaschen auf, die du danach in einen gesonderten Korb für den Glasmüll brachtest.
Als du jedoch die vorletzte Flasche ergriffst, zucktest du erschrocken zusammen, als sich Helmuts Hand auf einmal um dein anderes Handgelenk schlang. Unwirsch zog er daran, sodass du vom gehockten Stehen auf die Knie fielst.
„Da biste ja...", knurrte er und sah finster auf dich herab. Ein kleines Zittern durchfuhr dich, ehe du den Kopf unsicher etwas abwandtest.
„Ja, ich-ich bin zurück. Tut mir leid, dass ich gestern nicht wiedergekommen bin."
„Das wirste wieder gutmachen müssen." Seine Stimme war überraschend fest. In dem Zustand – durch Alkohol schlecht drauf, aber bei klarem Verstand – wirkte er noch gefährlicher als eh schon.
„Onkel, bitte-"
„Genug, halt den Mund." Leicht wacklig stand er auf, ehe er dich grob auf die Füße zerrte. Ohne groß reagieren zu können, ging er sogleich aus dem Wohnzimmer und zog dich hinterher. Erst dachtest du, er würde in die Küche gehen zum Frühstücken, doch als er in den Flur zurückkehrte und sich auch nicht der Tür zum Gästezimmer zuwandte, wusstest du sofort, wo er hinwollte.
„Nein, Onkel, nicht! Bitte, ich machs wieder gut!!" Die Panik überschlug sich wie von selbst in deiner Stimme und ließ dich automatisch etwas höher sprechen. Du versuchtest hektisch dein Handgelenk zu befreien, doch der Griff deines Onkels wurde nur fester.
Ohne Probleme mit deiner geringen körperlichen Kraft zu haben, schliff er dich mit zur Treppe, die in den Keller führte. Die Kellertür mit einer schnellen Bewegung öffnend, riss er danach einmal kraftvoll an deinem Arm, sodass du vorstolpertest und auf dem Boden des Kellers landetest.
Die Augen deines Onkels sahen kalt und ohne jegliches Mitgefühl auf dich herab.
„Dort drin bleibst du, bis du gelernt hast, mir zu gehorchen.", sagte er emotionslos, ehe er die Kellertür direkt vor dir zuknallte und abschloss, dich dabei alleinlassend in der Dunkelheit.
Zitternd starrtest du die Tür einige Momente an, dein Kopf vor Angst und Schreck noch ganz leer ohne helfende Gedanken.
Erst langsam sickerte die Realität zu dir durch und sorgte dafür, dass sich kleine Tränen in deinen Augenwinkeln bildeten, während du immer hektischer atmetest.
Der Keller. Der Keller. Der Keller.
„Nein... Nicht der Keller...!"
Bilder, Erinnerungen vergangener Zeiten schossen dir durch den Kopf.
Du erinnertest dich gut an das erste Mal, als du eine Woche nach der Beerdigung deiner Eltern von deinem Onkel hier eingesperrt worden warst. Damals war er zumindest gütig genug gewesen, den außerhalb des Kellers gelegenen Lichtschalter zu betätigen, sodass du nicht vollständig im Dunkeln sahst.
„Onkel, Onkel, lass mich raus...!"
Damals hattest du als kleines Mädchen im zarten Alter von 7 Jahren laut geweint und gebettelt, endlich aus dem Keller herausgelassen zu werden. Doch dein Onkel hatte dich vom Mittag an bis zum nächsten Morgen im Keller eingesperrt gelassen, ohne Essen, Trinken oder eine würdevolle Möglichkeit zur Entrichtung deines Geschäfts. Es war auch die Nacht gewesen, als du zum ersten Mal den Alptraum von der blutigen Blumenwiese und deinen toten Eltern geträumt hattest.
Schnell schütteltest du den Kopf und versuchtest, dich aufs gleichmäßige Atmen zu konzentrieren, um die aufkommende Panikattacke niederzukämpfen. Doch neue Erinnerungen drängten sich auf und ließen dich noch stärker zittern.
„Nein, bitte..."
Einmal warst du freiwillig in den Keller gerannt, aus Angst und um dich vor Helmut zu verstecken. Dein Onkel hatte damals, kurz vor deinem 9. Geburtstag versucht, dir näher zu kommen. Das Gefühl seiner heißen, großen Hände auf deiner Taille hatte sich eingebrannt und ließ dich eben in der Gegenwart panisch über deinen Körper fallen.
„Ah! Ah-Ah, nein, bitte...!"
Eine neue Welle des Schluchzens überkam dich, sodass du dich schutzsuchend ganz klein zusammenrolltest und die Arme eng um deinen sich vor Angst schüttelnden Körper schlangst.
„Bitte, aufhören...! Lass mich raus, lass mich raus...!"
Doch dein Onkel erhörte dich nicht. Stattdessen bliebst du allein, umgeben von dem schwarzen, kalten Keller und deinen furchterfüllten Erinnerungen.
--- Edwards P.O.V. ---
„Wie jetzt, du hast sie gehen lassen?!", keifte ich Alphonse an, welcher mir soeben erzählt hatte, dass Air zurück zu ihrem Haus gegangen war.
„Sie-Sie meinte, wir treffen uns 16 Uhr am Marktplatz...!"
„Du hättest gar nicht erst zustimmen sollen, dass sie geht! Mensch Al!"
Aufgebracht sprang ich aus dem Bett, zog mich in Rekordgeschwindigkeit an und war drauf und dran, aus dem Zimmer zu stürmen, als Al's Griff um meine Schulter mich knapp zum Innehalten brachte.
„Bitte Bruderherz, beruhige dich. Frühstücke erst, ich hab dir extra was hochgebracht...", sagte Al etwas verschüchtert, da er wie immer etwas überfordert war mit meiner aufbrausenden, wütenden Art.
Ich knurrte laut, ehe ich aufseufzte und mich geschlagen gab. Mich dieses Mal an den Tisch setzend, mampfte ich unzufrieden das gebrachte Frühstück.
„Gib mir mal mein Reisetagebuch.", nuschelte ich mit Spiegelei im Mund. „Ich brauch die Telefonnummer auf der ersten Seite um Frau Hawkeye anzurufen."
Alphonse stand schnell auf und holte mein Buch aus dem Koffer, welches er mir vorsichtig entgegenhielt. „Warum willst du denn Frau Hawkeye anrufen? Etwa um dich wegen der Suche nach dem Oberst zu erkundigen?"
„Nein nein, der geht mir am Arsch vorbei.", grummelte ich, was trotz meiner mangelnden Loyalität und Freundschaft gegenüber meinem Vorgesetzten gelogen war. „Nein, ich will sie anrufen um sie wegen Airs Onkel zu fragen."
„Meinst du etwa, sie weiß was über ihn?"
„Naja, vielleicht ist er vorbestraft. Würde mich bei so nem agressiven Säufer nicht wundern.", gab ich als Antwort zurück. Mir schnell noch ein Brötchen reinschiebend, tapste ich danach zum Telefon des Zimmers, welches auf einem gesonderten kleinen Hocker stand.
„Da können wir echt froh sein, dass Papa und Onkel so nicht waren.", meinte Al leiser.
Ich verzog leicht das Gesicht bei dem Gedanken an die beiden. Mit Onkel war in dem Fall Winrys Vater, Yuriy Rockbell gemeint. Obwohl er mit Tante Sara öfter über sein Feierabendbier gezankt hatte, hatte ich ihn doch als eher gelegentlichen Trinker im Kopf. Als Arzt war er vermutlich automatisch bedachter mit Alkohol.
An Hohenheim wollte ich eigentlich gar nicht denken. Ich konnte mich erinnern, dass er mit Oma Pinako öfter einen über den Durst getrunken hatte und dabei einige Flaschen geleert wurden. Doch scheinbar war er äußerst trinkfest, jedenfalls konnte ich mich an nicht einen einzigen Moment entsinnen, in welchem er betrunken war.
Schnell schüttelte ich den Kopf, um die Gedanken an die beiden zu vertreiben. Stattdessen tippte ich schnell die Nummer des East-Hauptquartiers ein und ließ mich von der Telefondame weiterverbinden ins Büro von Oberst Mustang.
Eine Weile lauschte ich der kleinen Wartemelodie, ehe sich endlich wieder eine Stimme meldete.
„Büro von Oberst Mustang, Sie sprechen mit Oberleutnant Hawkeye.", kam es aus dem Telefonhörer zurück.
Ich seufzte erleichtert auf. „Oberleutnant, ich bins."
„Ah, Edward. Ist alles in Ordnung, seid ihr gut in Mistakor angekommen?", fragte die Frau sogleich.
„Ja, naja... Also uns geht's soweit gut, aber wir brauchen Ihre Hilfe. Es geht um Air's Familie."
Kurz war Stille am Telefon, ehe nun von Frau Hawkeye ein leises Seufzten zu hören war.
„Ihr habt ihren Onkel kennengelernt, oder?"
„... Ja. Ein freundlicher Zeitgenosse.", antwortete ich nach kurzem Zögern sarkastisch. Ich hatte erst überlegen müssen, woher Frau Hawkeye das wissen konnte, doch dann war mir eingefallen, dass sie ihn sicherlich selbst getroffen hatte, als sie mit dem Oberst (V/N) fürs Militär angeworben hatte.
„Nicht mein Fall, aber ja. Ich nehme an, du willst wissen, ob er sich strafrechtlich etwas zu schulden hat kommen lassen?", fragte der Oberleutnant ruhig.
Überrascht blinzelte ich. „Können Sie Gedanken lesen?"
„Nein, aber der Oberst hat damals das gleiche gefragt.", kam die ruhige Antwort. „Und ich muss dich leider enttäuschen. Bis auf kleinere, bereits verjährte Bagatelldelikte hat er eine weiße Weste."
Enttäuscht fummelte ich etwas an dem Kabel des Telefons herum. Frau Hawkeye schien meine Stille deuten zu können.
„Habt ihr denn mit (V/N) sprechen können?"
„Ja, aber nur kurz... Sie will die Stadt nicht wirklich mit uns verlassen, aber ich versteh echt nicht, warum! Sie hat Angst vor dem Typen, das merkt man, und er hat sie vor unseren Augen geschlagen!"
Hawkeyes Ton wurde sofort etwas schärfer. „Geschlagen? Ist sie verletzt?"
„Also bis auf die Ohrfeige haben wir nichts gesehen, aber ich trau dem Typen alles zu..."
„Edward, hör mir gut zu."
Ich horschte auf, mich instinktiv gerader hinstellend. „Ja?"
„Dieser Mann, Helmut (N/N) ist der Bruder von (V/N)s Vater. Ihm gehören mehrere Immobilien in Mistakor, deshalb hat er aus den Mieten einiges an Geld und wird im Dorf respektiert. Versucht dort also nichts gegen ihn, da habt ihr die schlechteren Karten.", begann sie ruhig und sachlich zu erklären, auch wenn ihr scharfer und eisiger Ton, der sich deutlich an (V/N)s Onkel richtete, geblieben war. „Dieses Dorf ist abergläubisch und durch seine Distanz zu Großstädten zurückgeblieben. Alchemie ist für sie Magie. Und nach der Katastrophe damals sind sie der Meinung, dass Alchemie die Magie des Teufels ist."
„Magie des Teufels? Es wird ja immer bescheuerter...", nuschelte ich, ehe mir etwas einfiel. „Aber die Dorfbewohner wollen scheinbar, dass Air mit ihrer Alchemie für sie arbeitet. Wie passt das denn dann zusammen?"
„Hat sie euch jemals erzählt, warum sie diese Alchemie hat oder was damals passiert ist? Warum sie den Stein der Weisen sucht?", gab mir Frau Hawkeye die Gegenfrage.
Ich schluckte leicht. Mir wurde erneut bewusst, wie wenig ich eigentlich über die junge Alchemistin wusste. „Nein...", gab ich kleinlaut zu.
„Ich weiß auch nicht alle Details, aber um es knapp zu sagen: (V/N) wurde als kleinem Kind viel zu zeitig Alchemie beigebracht. Dabei ging einmal etwas schief, und die Alchemiereaktion kostete einige wenige Dorfbewohner das Leben. Daher halten sie es jetzt für selbstverständlich, dass (V/N) ihre Schuld sühnt, indem sie die Alchemie für das Wohl des Dorfes einsetzt. Zumindest... nunja, das ist die offizielle Fassung. Der Oberst hatte damals deutliche Zweifel an dieser Geschichte, aber auf Wunsch von (V/N) hin haben wir die Sache nicht weiterverfolgt."
An sich klang die Geschichte für mich logisch, doch die letzten Worte der Erklärung ließen auch in mir Zweifel aufkommen. „Verstehe..."
„Soweit ich das beurteilen kann, hat (V/N) keine gute Beziehung zu ihrem Onkel. Er hat ihr offizielles Sorgerecht, hat aber zugestimmt, dass sie dem Militär beitritt und damit vor den meisten Gesetzen als Erwachsene zählt." Frau Hawkeye blätterte hörbar in einigen Papieren herum, vermutlich in Airs Akte. „Bezüglich (V/N)s aktuellem Besuch liegt mir leider nichts genaues vor. Wie ich euch schon letztens sagte, ist sie nach der Sache mit Scar schnellstmöglich abgereist. Ich habe nur erfahren, dass ihr Onkel ihr zuvor scheinbar einen Brief geschrieben hat. Ich vermute daher, er hat sie aus einem Grund zurückgerufen."
„Und was könnte das für ein Grund sein? Was wäre wichtig genug, um den Scheißkerl zu erdulden?", fragte ich zurück.
Oberleutnant Hawkeye seufzte erneut. „Das weiß ich leider nicht. Ich vermute eine Familienangelegenheit. Aber Edward... Geh nicht so streng mit ihr um. Sie steht in Bezug auf ihn bestimmt im inneren Konflikt."
„Konflikt? Was meinen Sie?" Nun war ich doch verwirrter.
„(V/N) mag ihren Onkel gewiss auch nicht. Doch manchmal gibt es Gründe, die einen trotzdem zum Kontakt zwingen. Und wenn es auch nur eine entfernte Familienbeziehung ist."
„Das... Nein, das versteh ich nicht.", gab ich offen zu.
„Okay, eine Gegenfrage. Wenn dein Vater wissen würde, wo du einen Stein der Weisen herbekommst oder er gar selbst einen hätte, würdest du mit ihm reden?"
Die erneute Erwähnung Hohenheims an diesem Tag brachte mich vollkommen aus dem Konzept. Musste er heute so oft Thema sein? Und was sollte die Frage? Würde ich mit ihm reden? Natürlich will ich nicht mit ihm reden, er ist ein riesiges Arschloch, auf das man sich nicht verlassen kann! Aber wenn er Infos zum Stein hätte, zu Al's Möglichkeit, seinen Körper wiederzubekommen...
Ich befand mich auf einmal selbst in Zweifeln. „Ich-Ich weiß nicht..."
„Und genauso ist es bei (V/N). Sie redet mit ihm, wegen einem bestimmten Grund, der sie dazu zwingt. Und vielleicht lassen vergangene Erinnerungen sie anders handeln als sonst. Wenn wir an Orten sind, die für uns vergangene Erfahrungen beherbergen, verhalten wir uns oft anders als sonst."
Matt gab ich ein zustimmendes Geräusch von mir. „Verstanden... Dann versuchen wir mal, den Grund rauszufinden, ihr schnellstmöglich zu helfen und dann von hier abzuhauen..."
„Ja, macht das." Ich konnte ein kleines Lächeln aus Frau Hawkeyes Stimme heraushören. „Passt gut auf euch auf, ihr drei. Und meldet mir danach bitte, wo ihr als nächstes hinreist."
„Geht klar. Vielen Dank, Frau Hawkeye." Ich lächelte ebenso. „Machen Sie's gut. Bis bald."
„Bis bald."
Damit auflegend, wandte ich mich vom Telefon ab und sah zu Al.
„Gut, ich weiß mehr. Also Zeit, jetzt herauszufinden, was Air hier will!"
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Seit langem ein neues Kapitel! Wuhu!
Zwischenzeitlich bin ich mit meinem Studium umgezogen und wohne in einer neuen Stadt – klar, alles wichtig irgendwo, aber ich bin doch etwas enttäuscht von mir, nicht eher weitergeschrieben zu haben.
Das Kapitel ist eher weniger voll von spannender Handlung, aber ich finde, ein gutes Gespräch und das Ergründen von Gefühlen und Verhalten ist auch mal wichtig.
Doch nun zu den üblichen Fragen:
1. Onkel Helmut und der Keller. Was denkt ihr, wird als nächstes passieren?
2. Frau Hawkeye geht ans Telefon? War sie nicht im letzten Kapitel mit dem Oberst zusammen eingesperrt? Was ist da nur los?
3. Welche Gründe hat Helmut wohl, um dich im Dorf zu haben?
Das wars heute erstmal von mir!
Habt noch einen schönen Tag und bis (hoffentlich) bald! :D
Lg Sterni
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