Kapitel 37

Laura:

Die nächsten Tage nahm ich wie durch einen Schleier wahr, es gab keinen Alltag mehr. Keinen geordneten Tagesablauf. Keine Regelmäßigkeit. Meine Tage bestanden nur aus zwei Dingen. Aufwachen und wieder wegdämmern. So ging das den ganzen Tag. Die meiste Zeit schlief ich, das glaubte ich zumindest. Jedenfalls verbrachte ich diese Zeit in einer befreiender Dunkelheit, die ich nur ungern wieder verließ. Wenn ich mal wach war, starrte ich nur an die verhasste Decke. Atmete den beklemmenden Klinikgeruch ein und zerrte an den Seilen, die mich am Bett festhielten. Fühlte mich mit jedem Aufwachen, mit jedem Öffnen der Augen eingesperrter. Der Wunsch hier herauszukommen, wieder frische Luft zu atmen wurde mit jedem Mal stärker. Und die Enttäuschung beim Aufwachen immer größer. Meistens ließ ich die Augen noch kurz geschlossen, blieb noch einen kleinen Moment in der befreienden Dunkelheit. Hoffte. Und kämpfte mit mir, bis ich meine Augen endlich einen Spalt breit geöffnet hatte. Hoffte wieder. Aber meine Hoffnungen wurden jedes Mal enttäuscht, wenn mein Blick auf die Deckenleuchte fiel. Auf die Deckenleuchte, in deren Umrandung ein kleines Stück fehlte. Immer noch, genau wie die letzten zehn Male, wenn ich aufgewacht war auch. Oder waren es zwanzig Mal gewesen? Dreißig? Ich hatte längst aufgehört sie zu zählen. Und mit jedem Mal hoffte ich weniger. Fühlte weniger. War weniger enttäuscht, wenn ich bemerkte, dass ich immer noch hier war. Hier. Jetzt. Das war das einzige, was für mich noch zählte. Aufwachen, allein sein, denken, einen Fluchtversuch starten, aufgeben, wieder einschlafen. Ich wusste nicht, wie lange das so ging. Es hätten zwei Tage aber auch zwei Wochen vergangen sein können, als ich das nächste Mal aufwachte.

Wie immer ließ ich meine Augen erst noch geschlossen. Und zuckte erschrocken zusammen, als ich Stimmen hörte. Stimmen! Das hieß, das jemand hier war. Bei mir. Vielleicht mit mir reden wollte. Angst. Das war es, was mir als nächstes durch den benebelten Kopf schoss, während ich immer noch mit geschlossenen Augen da lag. Reden. Was, wenn ich darüber reden müsste? Ich wollte nicht darüber reden, wollte nicht darüber nachdenken müssen. Nachdem ich mich wieder etwas beruhigt hatte, konzentrierte ich mich wieder auf die Stimmen. Irgendwie kamen sie mir bekannt vor, aber ich konnte sie in diesem Moment trotzdem nicht zuordnen. Vermutlich war ich noch zu müde, sonst hätte ich diese Stimmen sicher erkannt. Hätte sie eigentlich erkennen müssen. Aber ich erkannte sie nicht, also machte ich mich daran, mühsam die Augen zu öffnen. Die gewohnte, weiße, an einer Ecke kaputte Deckenleuchte empfing mich. Ernüchterte mich und enttäuschte mich zugleich.

Dann wurde ich auf die Quelle der Stimmen aufmerksam. Zwei Männer saßen vor meinem Bett und unterhielten sich. Sie kamen mir bekannt vor, sehr bekannt. Zu bekannt. Jetzt fragte ich mich auch, wie ich ihre Stimmen nicht hatte erkennen können, obwohl ich sie in der letzten Zeit doch so oft gehört hatte. Alex. Phil. Natürlich. Hätte ich mir eigentlich denken können. Mit dieser Erkenntnis kam auch die Angst zurück. Noch hatten sie anscheinend nicht bemerkt, dass ich wach war. Doch das konnte sich jeden Moment ändern. Sie waren schließlich beide Ärzte, und die schienen irgendwie einen sechsten Sinn dafür zu haben. Aber sie durften mich nicht bemerken! Unbewusst machte ich mich in meinem warmen, weichem und natürlich, wie könnte es anders sein, weißem Bett ganz klein. Ich wollte nicht diese Enttäuschung in ihrem Blick sehen müssen. Diese Enttäuschung, die ich schon kannte. Die jetzt vermutlich noch tausendmal stärker sein würde. Mir wieder ein schlechtes Gewissen machen würde, obwohl ich kein schlechtes Gewissen haben wollte. Mir ein schlechtes Gewissen machen würde, obwohl ich immer noch glaubte, dass es das Richtige gewesen war. Aber da musste ich jetzt wohl durch.

Kurz spielte ich mit dem Gedanken mich zu räuspern oder irgendetwas anderes zu tun, um sie auf mich aufmerksam zu machen. Aber ich ließ es. Früher oder später würden sie mich zwar eh bemerken, ich konnte den Moment aber wenigstens hinauszögern, nur noch ein bisschen. Ich lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf Alex und Phil, ihr Gespräch und ihre ernsten Mienen, ihre müden Gesichter und die ungeordneten Haare. Und was ich hörte ließ mich erstarren, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Verstzte mich wieder in Panik. Einige Fragmente ihres Gesprächs spukten immer und immer wieder in meinem Kopf herum, verdrängten alles andere. Therapie. Psychologische Hilfe. Heim. Geschlossene. Besser für sie. Wird uns später dankbar sein. Diese Wörter ließen mich nicht mehr los. Machten mir zum ersten Mal richtig klar, was es für Folgen haben würde. Was es für mich bedeuten würde, was unausweichlich passieren würde. Was ich mit meiner spontanen Entscheidung, mit meinem spontanen Versuch ausgelöst hatte. Es war wie eine Lawine, die einmal losgetreten kaum noch zu stoppen ist. Eigentlich gar nicht mehr aufzuhalten ist.

Immer noch hatte ich ihr Gespräch im Kopf, ihre Stimmen. Die Sätze, die sich in meinem Kopf immer wiederholten, mit immer schriller werdenden Stimmen, bis sie sich überlagerten. Bis sich in meinem Kopf ein regelrechter Chor dieser Stimmen gebildet hatte. Bis ich nur noch an eine Sache denken konnte. Ich wollte dort nicht hin. Wollte keine Hilfe bekommen. Wollte Ruhe haben, frei sein. Wollte es irgendwie immer noch beenden. Diese Worte wiederholte ich im Kopf, immer und immer wieder, wie ein fieberhaftes Mantra. Ich will nicht dort hin. Ich will keine Hife. Ich will in Ruhe gelassen werden, endlich wieder frei sein. Ich will es beenden. Die ständige Wiederholung machte es nicht besser, nicht leichter zu akzeptieren. Nur endgültiger. Wichtiger. Machte es zum Wichtigsten in dieser schwierigen Zeit. Und schuf eine Gewissheit: Ich hielt es hier nicht mehr aus, musste hier raus. So schnell wie möglich, wollte endlich wieder kühle, erleichternde, frische Luft atmen und nicht diese warme Krankenhausluft. Diese warme, unerträgliche Krankenhausluft, die ich schon jetzt mit Leid und Tod in Verbindung brachte. Die mit jeder Sekunde, die ich in ihr verbrachte unerträglicher wurde. Ich wollte endlich wieder etwas anderes sehen, als dieses sterile Krankenhausweiß, auf dem man jeden noch so kleinen Fleck bemerkte. Etwas anderes als diese kaputte Deckenlampe. Wollte etwas anderes hören, als dieses leise, undefinierbare Rauschen, das vermutlich von den medizinischen Geräten neben meinem Bett kam. Etwas anderes, als dieses Stimmengewirr, das je nach Uhrzeit mal lauter und mal leiser wurde, mal nah dran und mal weit entfernt schien. Wollte den Wind auf meiner Haut spüren, wollte ihn durch meine Haare wehen lassen. Und wollte endlich wieder rennen können, weit, weit weg. So weit wie ich wollte, und vielleicht, ganz vielleicht ein paar Probleme auf dem Weg verlieren und hinter mir zurücklassen. Ich war wie besessen von diesem starken, alles andere verdrängenden Wunsch nach Freiheit. Und ich würde die erstbeste Gelegenheit ihn zu erfüllen nutzen und die Flucht ergreifen. Am besten noch heute...

1114 Wörter

Eigentlich wie immer, wenn ihr noch Verbesserungsvorschläge, Wünsche oder so was habt schreibt mir, ich freue mich über jeden Kommentar! Bleibt gesund <3

Leandra

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