Kapitel 34
Laura:
Als Phil so überstürzt den Raum verlassen hatte, war ich ziemlich überrascht gewesen. Aber ich war ihm auch so dankbar, dass er noch mal mit meinem Vater reden wollte. Auch wenn ich nicht glaubte, dass er ihn umstimmen würde. Kurz darauf hatte sich auch Alex verabschiedet, weil er morgen arbeiten musste. Jetzt war ich wieder alleine, alleine mit meinen Gedanken. Meinen Erinnerungen. Meinen Ängsten. Entschlossen starrte ich aus dem Fenster. Ich würde mich nicht wieder von meinen Erinnerungen überwältigen lassen. Durfte mich nicht davon überwältigen lassen. Denn dann würde ich wieder diesen Drang verspüren, würde mich wieder ritzten wollen. Und jetzt war keiner mehr da, der mich davon abhalten könnte. Niemand, der mich zur Vernunft bringen konnte. Nur ich und meine Gedanken. Das Bild meines Vaters trat mir vor Augen, obwohl ich wusste, dass er mir nichts tun konnte, beschleunigte sich meine Atmung. Ich hatte Angst, obwohl er mehrere Flure entfernt von mir war. Diese Gewissheit hatte etwas beängstigendes. Er war hier, nur durch ein paar Gänge von mir getrennt. Ein paar Gänge in sterilem Weiß. Voller Ärzte, Krankenschwestern und anderem Personal... Der vernünftige Teil von mir wusste, dass er nicht zu mir kommen würde. Nicht zu mir kommen konnte. Erstens war er verletzt, zweitens durfte er das Bett nicht verlassen. Und drittens war ich mir noch nicht mal sicher, ob er überhaupt wusste, dass ich hier lag. Verletzt, mit einer ausgekugelten Schulter.
Er unterhielt sich gerade vermutlich mit Phil. Ob Phil es schaffen würde, mit ihm zu reden? Ich hatte starke Zweifel daran, aber trotz allem bildete sich ein kleiner Hoffnungsschimmer in mir. Irgendwie ärgerte es mich, dass ich mir immer noch Hoffnungen machte. Trotz allem, was er mir angetan hatte. Vielleicht sollte ich es langsam akzeptieren, er war nun mal keiner dieser Bilderbuchväter, die sich gut kümmerten, immer für ihre Kinder da waren. Ich interessierte ihn nicht, nicht wirklich. Und ich bedeutete ihm nichts, konnte ihm nichts bedeuten. Nicht wirklich. Denn wenn ich ihm etwas bedeuten würde, warum sollte er mich dann schlagen? Die ganzen negativen Gedanken waren mit einem Schlag wieder da. Und mit ihnen auch diese Verzweiflung, dieser Drang. Oder eher Zwang, ich wollte mich von den negativen Gedanken befreien. Wenigstens für einen Moment, selbst wenn ich wusste, dass es auf Dauer keine Lösung war. Im Endeffekt nichts brachte.
Meine Erinnerungen brachen wieder über mich herein. Wie er auf mich zu kam, mir seinen stinkenden Alkoholatem ins Gesicht blies. Seine Faust hob und begann, auf mich einzuschlagen. Mich zu treten. Tränen liefen mir jetzt wieder übers Gesicht und ich wurde von unterdrückten Schluchzern geschüttelt. Wie ich mich aufrappelte und versuchte, wegzulaufen. Wie ich stolperte und wieder auf dem Boden landete, mich mit meinen Armen gerade noch abfangen konnte. Der Zwang wurde jetzt noch stärker, überdeckte alle anderen Gefühle und Empfindungen. Einen kurzen Moment lang versuchte ich mich noch dagegen zu wehren, aber es wurde nicht umsonst als Zwang bezeichnet. Es hieß so, weil es einen zwang es zu tun, weil es einem keine Wahl ließ. Jedenfalls hatte ich in diesem Moment nicht das Gefühl, eine Wahl zu haben. Ich konnte und wollte nicht mehr warten. Schnell schlug ich die Bettdecke zurück und setzte mich ruckartig auf. Mein Kreislauf war nicht ganz so begeistert davon, einen Moment lang tanzten schwarze Flecken vor meinen Augen. Aber das war mir egal, ich musste ins Bad, musste mich endlich von diesen Gedanken befreien!
Obwohl meine Schulter bei jedem Schritt heftig protestierte, machte ich mich auf den Weg ins Bad, hoffte einfach nur, dass niemand hineinkommen würde. Dann hätte ich einiges zu erklären. Einen Augenblick später hatte ich das Bad erreicht, ich tastete nach dem Lichtschalter und schloss die Tür ab. Für alle Fälle. Ohne zu zögern griff ich nach dem Rasierer, brach die Klingen heraus. Nahm eine in die Hand und ließ mich an der Wand hinunter auf den Boden sinken. Die höllisch scharfe Klinge schnitt mir in die Hand, Blut quoll daraus hervor und tropte auf den Boden. Ungeduldig riss ich mir den Verband vom Arm und warf ihn achtlos davon. Phils Ansage kam mir wieder in den Sinn. "Wenn ich das nächste Mal komme, will ich den Verband immer noch an deinem Arm sehen. Verstanden?" Naja, jetzt war es zu spät. Der Verband lag zerissen in den Ecke. Also konnte ich genauso gut weiter machen, jetzt wo ich schonmal angefangen hatte. Außerdem drohten mich meine Erinnerungen schon wieder zu überwältigen. Entschlossen plazierte ich die Klinge auf meinem Unterarm auf den weißlichen Narben alter Schnitte. Wieder quälten sie mich. Diese verfluchten Erinnerungen. Ich baute Druck auf, erst wenig, dann immer mehr. Zog durch. Einmal, Zweimal, fünfmal. Erst dann legte ich eine kleine Pause ein, beobachtete abwesend, wie das Blut an meinem Arm herunterlief. Die Schmerzen kamen sofort, stark und klar. Vertrieben die Gedanken und Erinnerungen wenigstens für einen Moment aus meinem Kopf.
Doch ich wusste, dass es nicht für lange sein würde. Wusste, dass dieses befreiende Gefühl der Lehre nicht lange anhalten würde. Also warum es nicht beenden? Hier und jetzt. Für immer. Ich setzte die Klinge wieder auf meinen Unterarm auf, bewegte sie fast spielerisch darüber, so dass sie mehrere oberflächliche Schnitte verursachte. Es wäre so leicht. Würde so schnell gehen. So befreiend sein. Vielleicht würde es nicht mal weh tun, ich konnte es nicht wissen. Aber selbst wenn, wäre mir dass gerade ziemlich egal. Wie ich hier so auf den kalten Fliesen kniete, die Klinge in der Hand, Blut an meinem Arm herunter laufen und Tränenspuren in meinem Gesicht, überkam mich plötzlich eine starke Erschöpfung. Ich konnte einfach nicht mehr. Konnte nicht mehr kämpfen. Hatte keine Kraft mehr, um mir weiter Sorgen zu machen. Und ich wollte nicht mehr. Wollte mir keine Vorträge mehr anhören müssen, von wegen ich müsste damit aufhören. Wollte nicht mehr einfach nur in meinem Bett liegen und Löcher in die Luft starren. Wollte mir keine Sorgen mehr machen müssen. Wollte endlich frei sein. Wollte nicht länger warten, wollte es beenden. Jetzt. Hier. Sofort.
992 Wörter
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