Kapitel 27
Laura:
Diese Tatsache hatte ich noch nie so richtig realisiert. Hatte nie gedacht, dass es wichtig für mich wäre, dass einmal der Moment kommen würde, in dem ich am liebsten vor mir selbst weglaufen würde. Aber jetzt wurde mir klar, dass es durchaus wichtig für mich war. Sehr wichtig. Denn im Moment bestand genau darin mein Problem. Ich war in meinem Körper gefangen, schlimmer noch, in meinem Kopf. Meinen Gedanken. Meinen Gefühlen. Meinen Erinnerungen. Sie alle waren ein Teil von mir, ein wichtiger Teil. Allerdings auch ein Teil, auf den ich manchmal gut verzichten könnte. Der sich leider nur sehr schwer ignorieren ließ. Der nun mal ein Teil von mir war und auch bleiben würde. Für immer. Ob ich nun wollte oder nicht. In Gedanken zog ich einen Schlussstrich unter diesem Thema, ich wollte jetzt nicht mehr darüber nachdenken, mir nicht mehr den Kopf darüber zerbrechen. Denn ich konnte es eh nicht ändern, je mehr ich darüber nachdenken würde, desto mehr würde mir die Aussichtslosigkeit dieser Situation bewusst werde. Noch bewusster, als sie mir eh schon war.
Plötzlich sah ich eine Hand vor meinem Gesicht herumwedeln. Blinzelnd kam ich langsam wieder in die Realität zurück und verließ die Welt meiner Gedanken. Die Hand wedelte immer noch vor meinem Gesicht herum, schnell sah ich auf. Sah Phil genau ins Gesicht. Der ließ die Hand jetzt sinken und musterte mich mit einem leicht belustigten Gesichtsausdruck. Alex starrte mich ebenfalls an. Wahrscheinlich war mir eine Frage gestellt worden, nur leider war ich viel zu sehr in Gedanken versunken gewesen um das zu bemerken. "Ähm, was?", fragte ich in die peinliche Stille hinein. Alex und Phil tauschten noch einen belustigten Blick miteinander. Dann wurde Phil plötzlich wieder ernst. "Ich hab dich gefragt, ob wir dir irgendwie helfen können. Du musst damit aufhören, das ist dir klar, oder?" Ja. Eigentlich war mir das klar. Dass es so nicht weiter gehen konnte. Aber ich wusste auch, dass ich es brauchte. Um mit den Erinnerungen klar zu kommen. Also tat ich erstmal nichts, blieb einfach so sitzten. Die beiden starrten mich immer noch an, jetzt wurde mir klar, dass ich die eigentliche Frage vielleicht mal beantworten sollte.
"Nein", sagte ich mit leiser Stimme. "Nein?", fragte Phil mit einem leichten Stirnrunzeln. Ich ließ mir seine Frage noch mal durch den Kopf gehen, meine Antwort konnte er durchaus missverstanden haben. Ich glaube ich musste da mal was klarstellen, hastig setzte ich zu einer Ergänzung an. "Nein, ihr könnt mir nicht helfen. Und ja, das ist mir klar". Phil schien erleichtert, allerdings nur kurzzeitig. Dann zeichnete sich wieder Sorge auf seinem Gesicht ab. "Ich denk schon, dass du Hilfe brauchst. Ich bin mir nämlich nicht sicher, ob du da alleine wieder rauskommst!" Als er meinen genervten Blick bemerkte, fügte er hinzu: "Du stürzt gerade immer tiefer in ein Loch. Ein sehr tiefes Loch. Es ist noch lange nicht vorbei. Das Ritzen ist nur der Anfang und wir wissen beide, wo das Loch endet. So weit werde ich es nicht kommen lassen!" Er schaute mich mit entschlossenem Blick an. Ich war mir nicht sicher, wie ich reagieren sollte. Vermutlich hatte er Recht. Die Frage war nur, ob ich Hilfe wollte. Ob ich nicht insgeheim hoffte, immer tiefer in das Loch zu stürzen. Irgendwann das Ende zu erreichen.
Meine Gedanken drehten sich im Kreis, immer und immer wieder. Bis ich mich mit Gewalt von ihnen losriss. Mich Phil zuwandte. Eine Entscheidung traf. Mechanisch nickte. Seinen verständnislosen Blick bemerkte. Ein geflüstertes "Hilf mir" von mir gab. Ein erleichtertes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Dieses Lächeln, dass ich in letzter Zeit viel zu selten bei ihm gesehen hatte. Das ich vermisst hatte. Er schien glücklich zu sein, erleichtert. Aber ich fühlte nichts. Fühlte kein Glück, keine Erleichterung, keine Wut. Nichts. Mein Kopf war wie leergefegt. Ich hätte eigentlich erleichtert sein müssen, weil ich Hilfe bekam. Oder wütend, weil ich mich für Phil und gegen mich, meine Gedanken entschieden hatte. Aber ich spürte absolut nichts. Saß einfach nur da, starrte Phil an, der mich immer noch anlächelte. Schaffte es noch nicht mal mehr, sein Lächeln zu erwiedern. Es war, als würde eine unsichtbare Mauer meine Gefühle aussperren. Sie nicht zu mir lassen.
Ich starrte weiter auf Phil, obwohl ich ihn nicht mal richtig sah. Hatte absolut keine Ahnung, was ich tun sollte. Versuchte etwas zu sagen, irgendetwas. Einfach um zu wissen, dass die Welt nicht stehengeblieben war. Ein heiserer Laut entwich meiner Kehle. Dann war der Zauber gebrochen, meine Gedanken, Gefühle und Erinnerungen prasselten alle gleichzeitig auf mich ein. Haltsuchend klammerte ich mich am Bett fest, starrte weiter auf Phil. Sah nicht mehr ihn sondern meinen Vater. Wie er neben meinem Bett saß und mir vorlaß, als ich noch ganz klein gewesen war. Als meine Welt noch in Ordnung gewesen war. Meine Mutter, wie sie sich zu uns setzte und sich ihre langen Haare aus dem Gesicht strich. Ich spürte Tränen in meine Augen treten. An diesen Moment erinnerte ich mich noch genau. Eigentlich war es eine glücklich Erinnerung, aber jetzt zeigte sie mir nur, was ich verloren hatte.
Die Erinnerung verblasste und eine andere trat an ihre Stelle. Mein Vater, betrunken in der Küche sitzend. Wie er mich anschrie. Wie er schwankend aufstand und langsam auf mich zu kam. Wie der erste Schlag mich traf, wie die ersten Schmerzen durch meinen Körper schossen. Jetzt hatte ich richtig angefangen zu weinen, Tränen liefen mir übers Gesicht. Wieder verblasste die Erinnerung. Ich ließ den Tränen jetzt freien Lauf, die Erinnerungen quälten mich. Aber es war noch nicht vorbei. Wieder hatte ich meinen Vater vor Augen. Wie er ohnmächtig auf dem Boden lag. Gerade versorgt wurde. So schnell wie sie gekommen war, verblasste die Erinnerung auch wieder und ließ nur ein schreckliches Gefühl der Leere in mir zurück. Machte mir klar, wie knapp es gewesen war. Das ich meinen Vater auch fast noch verloren hätte. Ich hasste mich dafür, ein kleiner Teil von mir war sich nicht sicher, ob es nicht besser gewesen wäre. Wenn er gestorben wäre. Ekel stieg in mir hoch, Ekel vor mir selbst. Ekel vor diesen Gedanken. Ich begann jetzt unkontroliert zu schluchzen, sah alles nur noch verschwommen. Ein neuer Gedanke bildete sich ganz hinten in meinem Kopf. Was, wenn ich es verdient hatte? Weil ich so etwas dachte? Meine Gedanken wanderten wieder zu meinem Gespräch mit Phil. Ich hatte ihn um Hilfe gebeten, hatte eine vernünftige Entscheidung treffen wollen. Immer noch war ich überzeugt, dass es die vernünftigste Entscheidung gewesen war. Aber was, wenn ich bei der Entscheidung alle meine Gefühle ignoriert hatte? Was, wenn ich gegen mein Gewissen gehandelt hatte? Was, wenn ich die Entscheidung später bereuen würde? ich wusste zwar, dass es die vernünftigste Entscheidung gewesen war. Aber ob es auch die richtige Entscheidung gewesen war, dass wusste ich nicht.
Ich hoffe euch geht es allen gut. Hier nochmal ein neues Kapitel, ich hoffe es gefällt euch. Ich bin heute jedenfalls wieder ganz zufrieden. Es sind 1159 Wörter geworden, mehr schaff ich nicht. Ist vielleicht auch besser, wenn ich für heute aufhöre mit dem Schreiben. Jedenfalls in Anbetracht der Tatsache, dass ich beim Schreiben fast losgeheult habe, keine Ahnung warum. Ist das jetzt gut oder schlecht? Naja, ich wünsche euch allen jedenfalls noch einen schönen Abend!
LG Leandra
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