Zuvor
Tyreese
Der Anruf kam unerwartet. Als Tyreese ihn annahm, hatte er im selben Moment das Gefühl, er hätte ihn einfach ignorieren sollen.
»Hallo Tyreese, hier ist Ava.« Er bemerkte sofort den seltsamen Unterton in ihrer Stimme, jedoch konnte er ihn noch nicht richtig zuordnen.
»Hey Ava. Was gibt's?«
»Ich ähm...«
»Ist etwas mit Grace passiert? Sie meldet sich schon seit Stunden nicht.«
»Nicht Grace...«
»Sondern? Av, rede mit mir«, bringe ich schwermütig hervor.
»John, unser Vater–« Ihre Stimme bricht ab. Ich würde am liebsten einfach auf das rote Beenden-Symbol auf meinem Handy klicken.
»Wo seid ihr?«
»S-Saint Louis Hospital.«
Tyreese war noch nie zuvor so schnell in ein Auto gesprungen und losgebraust. Bis zum Krankenhaus waren es nur zehn Minuten und als er einen Parkplatz in der Kurzparkzone ergatterte, vergaß er in seiner Eile, ein Ticket zu ziehen, weshalb er nochmal umdrehte und fluchend eines holte. Er hatte eine Wut auf die Stadt mit ihren unzähligen, kostenpflichtigen Parkzonen, auf das Schicksal und sein gesamtes Leben.
Es dauerte eine Weile, bis er sich in dem großen Krankenhaus zurechtfand. Vor allem, weil er keine Ahnung hatte, auf welcher Station John überhaupt war. Nach ein paar hilflosen Versuchen, mit logischem Denken herauszufinden, wo sein Schwiegervater liegen könnte, wandte er sich schließlich an den jungen Typen hinter der Glasscheibe des Infopoints. Dieser sortierte gerade irgendwelche Akten und als er Tyreese bemerkte, sah er ihn gelangweilt an. In seiner Nase steckte ein großer, schwarzer Ring und seine Haare hatten die Farbe blau – oder war es doch eher grün?
»Hi, ähm... Ich suche John Carter. Weißt du, auf welcher Station er sich befindet?« In seiner Hast vergaß er komplett, den Typen zu siezen, aber eigentlich war es ihm auch egal, da er sich ziemlich sicher war, dass der Junge jünger war und er nur der Praktikant sein konnte.
»Carter?«
»Ja, Carter. John Carter. Er dürfte noch nicht lange hier sein. Bitte sag' mir einfach die Station.«
»Sind Sie ein Familienmitglied?«
»Ja, ich bin mit seiner Tochter verlobt.«
»Das zählt leider nicht. Nur engste Verwandte dürfen auf die Station.«
»Verfickte Scheiße!« Der Typ warf Tyreese einen missbilligenden Blick zu, den er ignorierte. Wütend drehte er sich ohne ein weiteres Wort um und suchte erneut sein Handy.
Dank Avas Wegbeschreibung kam er einige Minuten nach seiner Ankunft endlich bei seiner Schwiegerfamilie an. Als erstes erblickte er Ava, die bereits Ausschau nach ihm hielt.
»Hi«, begrüßte er sie. »Danke für die Beschreibung, der Typ unten wollte mir keine Auskunft geben. Wo ist Grace?«
Sie nahm Tyreese bei der Hand und zog ihn weiter, bis sie um eine Ecke in einen anderen Flur gelangten. Da erspähte er seine Freundin und ihre Mutter Suzanne, die gerade in ein Gespräch mit einem weiß gekleideten Mann vertieft waren. Grace nahm Geräusche hinter sich wahr und sie drehte sich um, bis sie in Tyreeses Augen schaute. Sie ließ ihre Mutter mit dem Arzt stehen und kam auf ihn zu, während sich Ava zu Suzanne gesellte.
»Hey mein Schatz.«
»Hallo. Danke, dass du da bist und tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe«, erwiderte Grace leise.
»Mach dir keine Gedanken, alles gut. Was ist mit John?« Grace' Augen füllten sich mit Tränen. Ihr Freund legte seine Arme um sie und drückte sie sanft an sich.
»Er... Du weißt, dass er eine Tour in den Bergen hatte, oder?« Ja, das wusste Tyreese. Der Mann machte sowieso nichts anderes, als in den Bergen herumzuklettern. »Wir wissen nicht genau, was passiert ist, aber er ist irgendwie abgestürzt. Er war mit einer Gruppe Touristen unterwegs und etwas ist passiert. Er wurde mit dem Hubschrauber der Bergrettung hierhergebracht und sein Zustand ist nicht gut.«
Grace' Vater war ausgebildeter Bergführer und machte seinen Job eigentlich sehr gut. Von Erzählungen wusste man, dass die Touristen, die mit ihm eine Tour hinter sich hatten, allesamt begeistert waren.
»Das tut mir leid.« Tyreese wusste beim besten Willen nicht, was er sagen sollte. Er fühlte sich wie der größte Vollidiot des ganzen Universums.
»Meine Mutter und Av sprechen gerade mit dem Chefarzt, danach wissen wir hoffentlich mehr.« Er nickte zur Antwort, drückte Grace einen Kuss auf die Stirn und danach gingen sie zu den anderen. Das Gespräch mit dem Doktor schien bereits geendet zu haben, da Suzanne und Ava auf einer der Bänke saßen und sich leise unterhielten. Als das Paar zu ihnen traf, beendeten sie die Unterhaltung und Suzanne begrüßte ihren Schwiegersohn. Diesem fiel sofort auf, wie müde sie aussah. Unter ihren Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet und sie wirkte plötzlich um zehn Jahre älter. »Die Gruppe kam in eine Lawine und wurde mitgerissen«, sagte sie mit schwacher Stimme. »John ist zurzeit nicht bei Bewusstsein und einige Mitglieder sind sogar noch abgängig.«
»Scheinbar kam ein Sturm auf, der die Lawine schlussendlich ausgelöst hat«, setzte Ava fort. Das alles war zu viel Info auf einmal. Tyreese realisierte die gesamte Situation nicht wirklich und er war sich sicher, dass es nicht nur ihm so ging.
Einige Tage später erfuhr er, dass John tot war. Er war irgendwann spät in der Nacht gestorben, während seine Frau bei ihm am Krankenbett saß. Er hatte zu viele innere Verletzungen erlitten und keiner der Ärzte konnte ihn mehr retten. Für seine Familie brach eine Welt zusammen. Suzanne war plötzlich Witwe, Ava hatte ihren Vater verloren und Grace ihren Adoptiv-Vater. Und Tyreese seinen Schwiegervater.
In den Tagen darauf fand das Begräbnis statt und Grace' Freund erkannte sein Mädchen nicht wieder. Sie und Ava waren sich auf einmal so ähnlich, was eigentlich nichts Schlimmes bedeutete, da er ihre Schwester gut leiden konnte. Er hatte jedoch das Gefühl, dass sie eine unsichtbare Mauer aufgebaut hatten, die niemand durchbrechen konnte. Seit dem Tag im Krankenhaus hatte Tyreese seine Freundin nicht mehr gesehen, obwohl er sie mehrmals angerufen hatte, doch es kam keine Antwort. Er musste zugeben, dass er plötzlich Angst hatte, sie zu verlieren. Aus diesem durchaus seltsamen Grund verpasste er die Beerdigung und ließ Grace mit ihrer Familie allein. Vielleicht war es sowieso besser, wenn er nicht dabei war.
Und dies war – wie Tyreese leider erst im Nachhinein lernte – der Beginn des größten Fehlers in seinem ganzen Leben.
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