Zuvor
Tyreese
An diesem Abend war Tyreese alleine mit seiner Mutter. Sie kochte leckeren Eintopf, den sie dann vor dem Fernseher verschlangen. Sie lachten und Tyreese versuchte, die blauen Flecken und mit Pflaster zugeklebten Wunden auf Armen und Beinen seiner Mutter zu ignorieren. Er hatte in den letzten Jahren gelernt, dass sein Vater daran schuld war. Es wiederholte sich immer öfter und inzwischen war es für die dreiköpfige Familie zur Gewohnheit geworden, dass Tasha immer verwundet und eingeschüchtert im Haus herumeilte, putzte und kochte. Wenn dann Tyreeses Vater Joseph nach Hause kam, brüllte er sie erst einmal an und vertilgte dann das ganze Essen. Tyreese versteckte sich immer hinter dem Sofa oder im Halbstock des Treppenhauses und beobachtete die unschönen Szenarien.
Er hatte mal ein Gespräch belauscht, bei dem es darum ging, dass sein Vater keinen Job mehr hat. Eigentlich war er immer ein guter Geschäftsmann gewesen und Tyreese konnte sich nicht vorstellen, wie so etwas derart schiefgehen konnte. Wenn der Junge dann ins Bett ging, konnte er seine Mutter und seinen Vater hören. Auch diese Nacht war es wieder so. Im Nebenzimmer schrie Tasha und er war sich sicher, sie musste schreckliche Schmerzen haben. Tyreese hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu, doch die Geräusche drangen trotzdem zu ihm durch. Tränen der Verzweiflung traten ihm in die Augen. Er hielt es nicht aus, seine Mutter so leiden zu hören. Als er wahrnahm, wie Joseph sie erneut schlug, sprang er aus dem Bett und schlich sich aus dem Zimmer. Das hatte er schon öfter gemacht und würde es auch heute wieder tun. Tasha weinte und bettelte, dass ihr Mann aufhören sollte. Tyreese wusste nicht genau, was sein Vater mit seiner Mutter machte, doch wahrscheinlich war das für ihn mit seinen zwölf Jahren auch besser so. Er eilte die Treppen hinunter ins Erdgeschoß und verließ das Haus durch die nicht abgeschlossene Hintertür. Sein Weg führte durch den Garten, über den Zaun und dann ein paar Häuser weiter in den Garten von Grace. Ihr Zimmer befand sich im ersten Stock auf der linken Seite des Gebäudes. Er suchte ein paar Kieselsteine und warf sie zielsicher hoch ans Fenster. Nach kurzer Zeit ging das Licht an und Grace' Gesicht erschien am Fenster. Tyreese winkte und sie bedeutete ihm mit einem Handzeichen, zur Garagentür zu kommen. Wenig später standen sie sich gegenüber und schlichen in Grace' Zimmer. »Dein Vater?«, fragte Grace sofort, als sie die Tür zu ihrem Zimmer geschlossen hatte. Tyreese nickte. »Meine Mum hat, glaube ich, sehr schlimme Schmerzen und ich möchte nicht wissen, wie viele neue Wunden sie morgen haben wird. Ich möchte ihr so gerne helfen, aber ich weiß nicht wie.«
Das Mädchen seufzte. »Ich denke, es ist das Beste, wenn du dich nicht einmischst, denn dann könnte es passieren, dass er dir das gleiche antut.« Eine kurze Schweigepause entstand.
»Haben es deine Eltern noch immer nicht bemerkt, dass ich manchmal zu dir komme in der Nacht?«, fragte Tyreese zur Sicherheit nach.
»Nein, sonst hättest du heute nicht kommen können.« Tyreese war einfach nur froh, wenn er von Zuhause flüchten konnte und er seine Eltern nicht hören und sehen musste. »Und was tut sich bei dir so?«, wollte er von seiner besten Freundin wissen. Diese zuckte lediglich mit den Schultern. »Ava hat mich im Badezimmer eingesperrt und Ms. Balton hat mir eine Fünf auf mein Bioreferat gegeben, aber sonst war heute mal nichts. Hast du Marlin heute gesehen in der Schule? Er hat in der Mittagspause damit angegeben, eine Freundin zu haben, die schon dreizehn ist! Glaubst du, das stimmt? Ich meine, hässlich ist er ja nicht...«
»Grace! Ich dachte, du magst ihn nicht?!« Seine Freundin schwieg und starrte mit rotem Gesicht zu Boden. »Du magst ihn!« Tyreese baute sich vor ihr auf. »Hey, gib's zu, du magst Marlin, diesen Macho.« Grace schüttelte den Kopf und beobachtete ihre Füße. »Wie kommst du darauf? Er ist doof und kümmert mich kein bisschen.«
»Und warum fragst du dich dann, ob er eine Freundin hat?«
»Na, weil darüber gerade alle Mädchen reden und diese Freundin älter ist und somit reifer... ach, ich weiß auch nicht.« Tyreese schnaubte und setzte sich auf die Bettkante. »Bitte verliebe dich nicht in den Jungen. Ich kann riechen, dass mit dem was faul ist. Er würde dich nur verletzen.«
»Für dich sind doch alle Menschen scheiße«, erwiderte Grace trotzig, woraufhin Tyreese verwundert aufsah.
»Was? Aber das hast du doch auch schon gesagt!« Grace zuckte erneut mit den Schultern und seufzte. »Na ja, eigentlich sind einige ganz okay.« Tyreese konnte es nicht fassen. Dabei hatten seine Freundin und er doch damals, als sie beste Freunde wurden, geschworen, dass sie für immer füreinander da sein würden und alle anderen hassten, weil die sowieso niemanden wie Tyreese oder Grace mochten. Er fühlte sich hintergangen.
»Ich frage mich, warum ich heute hergekommen bin, schließlich hast du auch nur schlechte Nachrichten für mich.« Tränen traten in seine Augen und er ging zur Tür, um abzuhauen, doch Grace hielt ihn mit einer Hand an seiner Schulter zurück. »Warte...« Er blieb stehen, überlegte kurz und drehte sich dann zu ihr um. »Was?«
»Entschuldigung. Ich will doch nur, dass wir nicht immer Außenseiter sind«, gab sie kleinlaut zu. Tyreese betrachtete seine Freundin und seine Wut verflog allmählich. »Wir brauchen die anderen aber nicht, oder denkst du etwa anders? Ich will dir natürlich nicht im Weg stehen, aber du kennst doch die Leute in unserer Klasse...«
»Ich weiß und du hast Recht. Womöglich sollte ich Marlin einfach vergessen und netter zu dir sein.« Tyreese lächelte und umarmte seine beste Freundin. Die ganze restliche Nacht verbrachten sie mit quatschen, über andere Kinder – außer Marlin – zu reden und aus dem Fenster in den Himmel zu schauen, um die leuchtenden Sterne zu beobachten.
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