Tag 9
Grace
Exakt zwei Minuten vor dem abgesprochenen Zeitpunkt des Treffens klingelt es. Er ist schon immer ein pünktlicher Mensch gewesen und damals habe ich das bewundert, da ich das komplette Gegenteil bin. Egal, wann ich mir vornehme, loszufahren, ich komme garantiert zu spät. Sei es ein langsamer LKW und ständiger Gegenverkehr, der das Überholen unmöglich macht oder ein ewig langer Stau – es kommt einfach nie so, wie ich es gerne hätte.
Ich streiche noch einmal meinen schwarzen Rock glatt und atme tief durch. Ich weiß nicht, was mich in der nächsten Stunde erwarten wird und das sorgt bei mir für Nervosität.
Als wir uns erneut gegenüberstehen, sehen wir uns für einen Moment einfach nur an. Die braunen Haare hängen Tyreese unordentlich in die Stirn und die Augen sind dunkler als sonst. Oder waren sie schon immer so und ich kann mich nicht mehr erinnern? Die verschiedensten Gedanken und Erinnerungen bahnen sich einen Weg in meinen Verstand. Sie kreisen wild in meinem Kopf herum, bis ich meinen Blick abwenden muss, weil mir schwindelig wird. Damit es nicht noch seltsamer wird, gehe ich einen Schritt zur Seite und bitte den Mann vor meiner Tür mit einer Handbewegung in meine Wohnung.
»Du kannst deine Jacke auf einen der Haken hier rechts hängen«, murmle ich. Als er fertig ist, gehe ich vor in die Küche. »Willst du etwas trinken? Ich kann dir auch Bier anbieten, wenn du möchtest.«
»Wasser reicht vollkommen, danke.« Ich nehme ein Glas aus dem Schrank über mir und prüfe, ob es auch wirklich sauber ist. Ich merke, dass sich Tyreese aufmerksam umsieht.
»Schön hast du es hier. Wie lange lebst du schon in dieser Gegend?«
Wir gehen ins Wohnzimmer und ich stelle sein Wasserglas auf dem kleinen Holztisch vor der Couch ab.
»Bitte nimm Platz«, sage ich und deute auf das Sofa. Ich selbst setze mich gegenüber von ihm auf den Plüschsessel und schlage meine Beine übereinander.
»Noch nicht lange, ungefähr drei Monate. Einige Umzugskartons haben leider noch immer nicht die Erfahrung gemacht, ausgeräumt zu werden.«
Tyreese lächelt leicht, woraufhin eine Erinnerung in meinem Gedächtnis aufblitzt.
»Weißt du noch, als wir damals Steve beim Umzug geholfen haben und er die Hälfte seiner Kartons verloren hat, weil die Transportfirma alles vermasselt hat?«, fragt er plötzlich. Seine Augen sind auf mich gerichtet; direkt in meine. Ich schlucke. Als ob wir jetzt ernsthaft an das Gleiche gedacht haben.
»Ja, ich musste gerade an dasselbe denken. Das war so anstrengend.«
»Und die ganzen Schachteln sind nie wieder aufgetaucht. Schon komisch, wie die Zeit vergeht. Ich könnte schwören, es wäre erst gestern gewesen.«
Ich nicke und ein Lächeln klammert sich an meine Lippen.
»Wie geht es Suzanne und deiner Schwester?« Meine Familie. Die Menschen, die mich als kleines Mädchen aus dem schrecklichen Waisenhaus gerettet haben.
»Ihnen geht es gut.« Mir fällt wieder ein, wie komisch es ist, mit meinem Ex-Freund Smalltalk zu führen, ohne überhaupt zu wissen, wieso er hier ist. »Sagst du mir jetzt, warum du zu mir gekommen bist?« Seine Miene verändert sich schlagartig. Ich kenne ihn gut und merke sofort, wenn ihm etwas unangenehm ist. Ich habe absolut keine Ahnung, was so Schlimmes passiert ist, dass er ausgerechnet mich braucht. »Ja, ähm. Okay, ich... Tut mir leid, ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«
Er lacht verlegen und kratzt sich am Hinterkopf. So kenne ich ihn gar nicht.
»Wo ist der Tyreese hin, in den ich mich damals verliebt habe?«, flüstere ich. Ich mache mir langsam Sorgen. Es muss etwas Gravierendes geschehen, damit eine Person derart verstört wird. Er presst seine Lippen aufeinander und fixiert einen Punkt hinter mir.
»Es ist nicht einfach. Ich dachte immer, dass mein Leben nun endlich normal wird.«
Mein Blick scheint zu verraten, dass ich seinen Worten absolut nicht folgen kann.
»Natürlich gab es schöne Momente, aber im Großen und Ganzen spielt das Schicksal einfach nur mit einem. Was ich eigentlich sagen will, ist, dass ich krank bin.«
Ich spüre, wie sich allmählich meine Kehle zuschnürt. Ich verschränke meine Arme vor der Brust und schaue auf den Kerzenhalter vor mir. Er gehörte einst meiner Großmutter.
»Also brauchst du doch Geld? Für eine Behandlung?« Er schüttelt den Kopf und senkt den Blick.
»Tyreese, bitte sprich mit mir.«
Meine Stimme fühlt sich seltsam dünn an. Irgendwo in meinem Unterbewusstsein wird ein einziger Gedanke präsent und er nistet sich in meinem Kopf ein, bis er immer klarer wird. In diesem Augenblick teilt mir auch Tyreese endlich mit, was nicht stimmt. »Ich habe Krebs. Krebs im Endstadium.«
Ich schließe meine Augen. Warum muss mein Bauchgefühl immer Recht haben?
»D-Das kann nicht sein«, flüstere ich. Doch als Antwort bekomme ich nur ein einfaches Nicken.
»Bei diesem Krebs treten die Symptome sehr langsam auf, sodass es in den meisten Fällen schon zu spät ist. So ist es auch bei mir.«
Ich bekomme kein Wort heraus. Das Einzige, das ich hinbekomme, ist, mir ins Gesicht zu fassen und meinen Schock so gut es geht zu verstecken.
»Welcher Krebs ist es?«
Nun fühlt sich meine Stimme so an, als würde sie auf sehr dünnem Eis Schlittschuhfahren und in der nächsten Sekunde in das kalte Wasser stürzen.
»Die Bauchspeicheldrüse, jedoch sind bereits andere Organe betroffen. Weitere Metastasen sind in der Leber und möglicherweise auch bald in der Lunge«, erwidert Tyreese. »Es fühlt sich nicht real an. Ich kann es einfach nicht verstehen, Gracy. Entschuldige, ich meinte Grace.«
Ich hole tief Luft und möchte ihm eine Frage stellen. Da ich vor einigen Jahren ein Praktikum in einem Krankenhaus gemacht habe, kenne ich mich ein bisschen aus.
»Wie viel Zeit geben sie dir noch?« Ich habe Angst vor der Antwort. Als er mich damals verlassen hat, entschied ich mich dazu, dass er mir egal sein konnte. Ich brauchte ihn nicht. Ich wollte nie von jemandem anhängig sein, doch wie es schien, gelang mir das nicht. Tyreese zögert kurz.
»Wenn ich Glück habe, ungefähr fünf Monate.«
Ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen schießen. »Oh Gott«, entfährt es mir und ich presse meine Lippen aufeinander, in der Hoffnung, das Weinen unterdrücken zu können.
»Es tut mir leid, dass ich dich mit dieser Nachricht so überfalle, doch ich bin aus einem weiteren Grund hier.«
Ich sehe ihn an. Was kommt jetzt noch?
»Da ich höchstwahrscheinlich bald nicht mehr... nun ja, unter euch weile, ich zwei Kinder, aber sonst niemanden, außer vielleicht meiner schwachen Mutter habe, brauche ich jemanden für die beiden. Ich will sie nicht in ein Heim stecken und zu ihrer Mum können sie auch nicht. Verstehst du mich?«
Es dauert eine Weile, bis ich überhaupt realisiere, dass er in den vergangenen sechs Jahren zweimal Vater wurde. Nach einer kurzen Pause und einem Blick in meine Richtung fährt er fort.
»Ich weiß, dass ich dir vertrauen kann. Du bist die einzige, die ich noch habe. Oder die ich einst hatte. Mir ist bewusst, dass es eine große Bitte ist, aber würdest du dich, nachdem ich nicht mehr hier bin, um meine beiden Kleinen kümmern? Ansonsten weiß ich echt nicht, was ich tun soll...«
Mein Mund ist vollkommen ausgetrocknet. Tyreese nimmt sein Glas Wasser und reicht es mir. Er hat es noch kein einziges Mal angerührt. Ich nehme es dankbar an und nehme ein paar Schlucke. Es fühlt sich an, als wäre jegliche Emotion aus meinem Körper gewichen. Ich bin einfach nur geschockt und überrascht. Und ich habe Angst.
»Gibt es denn wirklich keine Behandlungsmöglichkeit mehr?«, flüstere ich wieder; dieses Mal heiser. Tyreese schüttelt den Kopf.
»Sie können lediglich meine Lebensdauer verlängern, doch natürlich gibt es auch hier Grenzen.«
»Hast du denn Schmerzen?«
»Manchmal. Die Ärzte geben mir Schmerzmittel und Medikamente gegen die Probleme, die bei dieser Art von Krebs auftreten. Es ist einigermaßen auszuhalten.«
Ich kann es einfach nicht glauben. Erst, als ich schon mittendrin bin, merke ich, dass ich aufgestanden bin und meine Arme um Tyreese geschlungen habe. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit, als ich mich wieder von ihm löse.
»Das ist so unfair. Du bist doch erst fünfundzwanzig.«
„Mein Vater Joseph starb daran, als er Mitte fünfzig war. Es war doch irgendwie klar, dass es mich treffen wird. Ich hatte noch nie Glück im Leben, das weißt du. Vielleicht sogar besser als ich.«
»Was, Joseph ist tot?«, frage ich überrascht und richte mich ein Stückchen auf.
»Ja, darüber sind ehrlich gesagt alle sehr froh. Auch meine Mutter.«
»Das kann ich nachvollziehen.« Als ich mich wieder auf meinen Platz gesetzt habe, möchte er es erneut wissen.
»Wärst du bereit dazu, dich um meine Kinder zu kümmern? Mir geht es doch eigentlich gar nicht um mich. Ich will einfach nur, dass es meinen Kleinen gut geht. Ich habe Angst um sie, weißt du? Ich habe Angst, dass sie es nicht verstehen werden, oder dass sie derart geschockt si –«
»Ich mache es!« Als die Worte raus sind, beginne ich erst nachzudenken. Warum habe ich zugestimmt? Tyreeses Miene hellt sich ein wenig auf.
»Ja? Würdest du es wirklich machen?«
Ich zögere kurz. Ich habe absolut keine Ahnung, wie man mit Kindern umgeht. Was ist, wenn sie mich nicht mal mögen? Eigentlich müsste ich ihm in den Arsch treten und ihn anbrüllen, was er sich eigentlich einbildet, doch so eine Person bin ich nicht. Ich helfe gerne. Ich helfe überall, wo es nur geht, denn ich weiß genau so gut wie Tyreese, dass das Leben einfach nur mit uns spielt und jedem die Zeit davonläuft. Also stimme ich zu.
Als Tyreese und ich zwei Stunden später in meiner Garderobe stehen und ich ihm seine Jacke reiche, habe ich mich noch immer nicht erholt. Er schlüpft in seine neu aussehenden Vans und lächelt dann auf mich herab. War er schon immer so groß?
»Danke, Gracy. Du rettest meinen Kindern das Leben und mir mein Herz«, flüstert er. Auch wenn ich es nicht will, bildet sich bei seinen Worten eine Gänsehaut auf meinem gesamten Körper.
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