Tag 83
Grace
Ich habe dir doch gesagt, Rosecup ist kein Kaff«, behaupte ich stolz, während ich nach vorne zeige.
»Ich weiß, da vorne ist der Baumarkt, von dem du geredet hast und da sind ja sogar noch einige andere Läden«, antwortet Tyreese mit mehr Sarkasmus als Ernst in seiner Stimme. Wir stehen vor Rosecups „Stadtteil", da ich ihm unbedingt diese Gegend zeigen wollte.
»Wenn wir weitergehen, kommen wir zu einem Blumenladen, einem kleinen Café und es gibt sogar einen Juwelier«, setze ich fort, während ich Tyreeses Hand nehme und ihn sanft nach vorne ziehe.
»Ein Juwelier? Wozu das denn?«, fragt er belustigt, doch er wehrt sich nicht und folgt mir.
»Naja, ich schätze mal, hier gibt es auch Leute, die Schmuck mögen oder zum Beispiel heiraten wollen.« Ich zucke mit den Achseln und wir erreichen schließlich einen kleinen Marktplatz, in dessen Mitte ein Springbrunnen steht. Auf irgendeine Art und Weise beruhigt mich das leise Plätschern des Wassers. Ich kann mich erinnern, dass er in meiner Kindheit noch nicht so braun verfärbt war, aber das ist wohl das Zeichen der Zeit. Ich bewundere die alten Häuser mit ihren verblassten Farben und die schmalen, verwinkelten Gässchen. Links von uns, etwa hundert Meter entfernt, befindet sich ein hohes Stadttor, geschmückt mit Blumen und allerlei Pflanzen. Ich bin darüber verwundert, dass heute so wenig los ist. »Heiraten? Das hatten wir beide eigentlich auch vor«, wirft Tyreese ein und sieht mich dabei mit einer hochgezogenen Augenbraue an. Ich spanne mich augenblicklich an und blicke auf das Kopfsteinpflaster vor uns. »Ja, nur leider wurde daraus nie was.«
»Hast du den Verlobungsring noch?«
»Nein, ich muss gestehen, dass ich ihn damals vor Wut in einen Fluss geworfen habe«, erwidere ich leise und wage nicht, ihm dabei in die Augen zu sehen. Tyreese bleibt abrupt stehen. »Was?! Du wirfst ernsthaft einen Verlobungsring weg?«, fragt er ungläubig, aber am Ton seiner Stimme erkenne ich, dass er nicht wirklich sauer ist.
»Tut mir leid, ich war einfach so enttäuscht und–«
»Gracy, egal! Ich kaufe dir einfach einen neuen, komm mit.«
»Was?!« Doch ich bekomme keine Antwort, da mich Tyreese in diesem Moment bereits hinter sich in Richtung Juweliergeschäft nachzieht. Das meint der doch nicht ernst, oder? Obwohl es mich eigentlich nicht wundern sollte, da auf seiner Wunschliste „Heiraten" steht und das bereits vor Jahren geplant war.
Als wir vor dem Laden stehen bleiben, verbietet mir Tyreese, mit reinzugehen. »Nicht weglaufen!«, sagt er, bevor er alleine in dem Gebäude verschwindet und ich verloren davor stehen bleibe. Ich bin nervös und frage mich, was genau mich jetzt erwartet. Es kommt mir vor wie eine halbe Ewigkeit, die ich hier mit Warten verbringe, doch dann höre ich endlich die Glocke der Eingangstür und ich drehe mich um. Tyreese kommt auf mich zu und grinst von einem Ohr zum anderen. »Komm mit, Gracy.«
Wir bewegen uns zu meinem außerhalb des Marktplatzes geparkten Auto und als wir eingestiegen sind, bittet er mich darum, nach Hause zu fahren. Es ist schon wieder fast eine Woche her, dass unsere Familien bei uns im Strandhaus zu Besuch waren und wir haben beschlossen, noch einige Tage dranzuhängen, aber am kommenden Wochenende werden wir ebenfalls in Pauls großes Haus zurückkehren.
Als wir das Strandhaus erreichen, kommt Tyreese direkt auf meine Seite, öffnet die Tür und streckt mir seine Hand entgegen. Ich nehme sie zögernd an und verlasse schließlich auch das Fahrzeug. »Was hast du jetzt vor?«, frage ich, doch als Antwort bekomme ich nur ein verschmitztes Grinsen. Ich rolle mit den Augen und lasse mich von ihm führen. Scheinbar plant Tyreese den Strand, da das Meeresrauschen immer lauter wird und ich die salzige Brise riechen kann. Etwa zehn Minuten gehen wir schweigend nebeneinander und ich fühle mich irgendwie seltsam. Ich weiß, was mich erwartet, und deshalb stelle ich mir die Frage, aus welchem Grund ich mich so komisch fühle. Meine Gedanken werden jedoch abrupt unterbrochen, da Tyreese stehen bleibt und mich ansieht. Er räuspert sich und ich merke, dass er etwas nervös zu sein scheint.
»Es ist ein wenig komisch, diesen Moment nochmal zu erleben«, beginnt er, während er sich verlegen an den Hinterkopf fasst. Schließlich räuspert er sich und sieht mir in die Augen. »Aber ich bin mir zu hundert Prozent sicher, dass ich dir noch fünf Heiratsanträge machen könnte und ich würde es kein einziges Mal davon bereuen. Gracy, ich wusste von Anfang an, dass du die Liebe meines Lebens bist und ist wusste auch, dass wir irgendwann wieder zueinander finden werden.« Tyreese atmet ein paar Mal tief durch und ich merke, wie ganz langsam die Tränen in meine Augen steigen. »Ich weiß, dass du mir noch immer nicht verziehen hast, dass ich damals abgehauen bin, aber ich hoffe, du weißt wenigstens, wie sehr ich es bereue. Ich hätte bei dir bleiben sollen, dich unterstützen und deine starke Schulter sein müssen, wenn dich der Schmerz über den Verlust deines Vaters gepackt hat.« Ich schüttle meinen Kopf und greife nach seinen Händen, die sofort meine umschließen. »Tyreese, es ist alles gut, ich habe dir verziehen. Das alles ist Vergangenheit und nicht mehr relevant für mich.« Auch ihn scheint die Situation mitzunehmen, da seine blauen Augen feucht sind. Er nickt langsam und lächelt leicht. »Gracy, ich liebe dich und deshalb frage ich dich nun ein zweites Mal: Willst du meine Frau werden?« Er löst seine rechte Hand von meiner und genau wie damals holt er eine kleine Schachtel hervor. Ich weiß, dass ich beim ersten Antrag direkt den Ring angesehen habe und dieses Mal denke ich keine Sekunden daran. Mir ist so egal, wie er aussieht oder wie viel er wert ist – ich kann einfach nur Tyreese ansehen. Seine tiefblauen Augen, seine Nase, seine rosa Lippen; ich liebe diesen Mann so sehr, dass keine Worte dafür reichen würden. »Bei dir würde ich auch bei den nächsten fünf Anträgen ja sagen, also ja!«, antworte ich lächelnd. Er nimmt den Ring aus der Schachtel und steckt ihn an meinen linken Ringfinger. Ich kann es nicht verhindern, dass die Tränen überlaufen. So schnulzig und klischeehaft der Moment auch ist; ich kann einfach nicht anders. Ich schlinge meine Arme um seinen dünnen Körper und schmiege mich an ihn. Er streichelt sanft meinen Rücken und küsst mich auf die Stirn.
»Ich bin stolz auf mich – beim letzten Mal habe ich dich nicht zum Weinen gebracht.« Ich fange an zu lachen und gleichzeitig laufen die Tränen an meinen Wanger hinunter. Gedanken von unserer Zukunft schleichen sich in meinen Kopf. Er wird sterben. Findet eine Hochzeit überhaupt statt? Oder sind es nun zwei Heiratsanträge ohne Hochzeit? Mein Weinen verwandelt sich in Schluchzer, die ich nicht mehr zurückhalten kann.
»Grace? Alles okay?«
»Ich- Ich habe s-so Angst vor der... Zukunft«, bringe ich mit Mühe hervor. Er scheint zu verstehen, dass ich etwas Zeit brauche, um mich zu beruhigen. Währenddessen setzt er sein Streichen über meinen Rücken fort und ich konzentriere mich auf meine Atmung.
»Ich weiß, was du meinst. Du hast Sorgen, dass es zu keiner Hochzeit kommt, oder?«
»Es ist nicht nur das. Wir wollen heiraten, ja, aber was wird danach kommen? Ich werde wahrscheinlich schneller Witwe sein, als ich das Wort Heiraten aussprechen kann. Aber es tut mir leid, ich will nicht die Stimmung versauen und ich möchte trotzdem deine Frau werden.«
»Es tut mir so leid, dass ich rein gar nichts daran ändern kann...«, murmelt Tyreese niedergeschlagen.
»Egal, ich will nicht mehr darüber reden. Wir haben viel zu tun, wir müssen eine Hochzeit planen!«
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