Tag 76
Tyreese
Der gestrige Tag ist sehr schnell vorbeigezogen. Nach dem leckeren Essen von Grace haben wir uns alle auf die Veranda gesetzt und einfach nur geredet. Ashley und Robin haben das Meer bestaunt und wären am liebsten sofort hingelaufen, doch ich habe ihnen versprochen, dass wir morgen – heute – hingehen.
Aus diesem Grund sind die beiden auch schon wach, als es gerade erst hell draußen wird. Sie wecken mich nicht gerade sanft und beteuern, dass sie unbedingt den Sonnenaufgang sehen wollen. »Jetzt lasst mich doch erst einmal wach werden«, gähne ich und richte mich langsam auf. Die Nacht war trotz zwei Kindern neben mir erstaunlich erholsam und ich fühle mich nicht mal so schlecht. »Wir möchten aber zum Meer!«, erwidert Ash trotzig und ich seufze. Das habe ich definitiv nicht vermisst.
Als ich mich umgezogen und gewaschen habe, verabschieden wir uns von der restlichen Familie und verlassen zu dritt das Standhäuschen. Die meisten schlafen sowieso noch, nur Gracy hat mich gefragt, ob sie mitkommen soll. Auf ihren Wunsch hin habe ich ihr Handy eingepackt, um jederzeit erreichbar zu sein (meines habe ich gar nicht erst nach Rosecup mitgenommen).
Je näher wir dem besagten Meer kommen, desto aufgeregter werden meine Kinder. »Ohh, ich kann es sehen! Es ist so schön!«, ruft Ash überglücklich und beginnt zu laufen. Auch ihr Bruder wird schneller, bis sie schließlich beim Wasser ankommen und gebannt davor stehenbleiben. Ich komme einige Sekunden später ebenfalls bei ihnen an und beobachte eine Weile den Horizont, der sich langsam in ein sanftes Orange färbt. »Seht ihr da hinten? Dort wird in wenigen Minuten die Sonne aufgehen.« Als es soweit ist, sind Ashleys und Robins Augen gespannt auf den langsam aufgehenden Ball fixiert. »Wow«, flüstert meine Tochter. Mich macht es glücklich, die beiden so zufrieden zu sehen. Die Sonne bewegt sich währenddessen weiter zum Himmel empor und ihre Strahlen werden intensiver. »Schaut nicht direkt in die Sonne; das ist ungesund für eure Augen.« Ich komme mir blöd vor, weil ich irgendwie die Stimmung zerstöre, aber blinde Kinder möchte ich jetzt auch nicht unbedingt haben. Schließlich zeigt sich die Sonne vollständig und es wird immer heller. Es kommt einem fast so vor, als würde die Welt erst langsam aus einem tiefen Schlaf erwachen. Das Wasser wird noch von einem orangenen Schimmer verziert, der jedoch bereits verblasst. Es ist heute so windstill, dass keine einzige Welle auf dem Ozean zu sehen ist. »Ist das Wasser kalt?«, fragt Robin und macht einen Schritt nach vorne.
»Wollt ihr es probieren? Dazu müsst ihr nur eure Schuhe und Socken ausziehen.« Ich habe den Satz kaum beendet, da fallen auch schon zwei Paar Schuhe und Socken in den Sand. Vorsichtig, aber hocherfreut, nähern sich Ash und Rob dem Wasser und als das kühle Nass ihre Zehen berührt, kreischt Ashley ein wenig auf und ihr Bruder macht einen Satz zurück. »Das ist kalt!«, ruft Robin.
»Naja, das ist ein bisschen was anderes, als ein Pool. Ihr müsst euch mal vorstellen, wie viel Wasser da drinnen ist. Bis das alles aufgewärmt ist, dauert es sehr lange«, versuche ich zu erklären und ziehe ebenfalls meine Schuhe aus. Meine Kinder haben recht – die Oberfläche des Meeres ist erfrischend, doch nach einer Weile gewöhnt man sich daran. »Können wir darin schwimmen?«, fragt Ashley, während sie mit ihrem rechten Fuß Kreise in den Sand malt.
»Vielleicht etwas später, wenn es wärmer ist. Ich glaube, heute wird es genauso schön wie gestern, also stehen eure Chancen gut. Vielleicht möchten die anderen ja dann auch mitkommen.«
»Jaaaa, ein Familienausflug!«, erwidert meine Tochter euphorisch.
»Was wollt ihr denn jetzt noch so machen?«, frage ich daraufhin. Ich denke an meine Wunschliste und daran, dass ich dabei bin, einen weiteren Punkt abzuhaken.
»Im Meer baden. Ganz unbedingt!« Robin stiftet seiner Schwester lautstark bei.
»Okay, okay. Was haltet ihr davon, wenn wir zurück zum Strandhaus gehen und nachschauen, ob die anderen schon wach sind und dann fragen wir, ob noch jemand Lust auf baden hat?«
Auf dem Weg zurück spielen meine Kinder irgendein ausgedachtes Spiel und sie jagen aufgeregt um mich herum. Als wir ankommen, sitzen Grace und Ava auf der Veranda und Ashley und Robin erzählen ihnen vom total kalten, aber coolen Meer. Die beiden Schwestern werfen mir einen Blick zu und teilen uns mit, am Nachmittag mit schwimmen zu gehen. Auch Paul und Sienna, die sich im Inneren aufhalten, freuen sich auf einen entspannten Tag am Strand. Wir alle entscheiden uns, in einen etwas belebteren Bereich zu gehen.
Kurz nach Mittag scheint die Sonne angenehm vom Himmel und Ash und Rob sind beide mit Sonnencreme versorgt. Ich habe zur Sicherheit meine Sauerstoffflasche mitgenommen und zu siebt gelangen wir schließlich in eine Bucht, in der es Liegestühle, Sonnenschirme und sogar einen kleinen Imbissstand gibt. Wir breiten uns unter einigen kleineren Palmen aus, um wenigstens ein bisschen Schatten zu bekommen. Grace und Ava versuchen unterdessen, meinen Kindern Schwimmflügel anzuziehen, was sich als nicht sehr einfach entpuppt. Doch als Av damit droht, die beiden ohne nicht ins Wasser zu lassen, willigen sie schließlich kleinlaut ein. Ich mache es mir auf unserer mitgebrachten Decke bequem und beobachte die ganze Familie. Sienna und Paul stressen sich nicht und gewöhnen sich langsam an die kalte Wassertemperatur, während Ash und Rob am liebsten ins Meer sprinten würden.
»Dad, komm du auch!«, ruft Ashley aus einigen Metern Entfernung. Als Antwort schüttle ich den Kopf. Ihr Bruder spritzt sie in diesem Augenblick mit dem salzigen Nass ab und sie kreischt empört, um sich daraufhin in Windeseile bei ihm zu rächen. Als Ash allmählich ein wenig grob wird, geht Grace dazwischen und fragt, ob sie nicht etwas weiter rausschwimmen möchte – natürlich nicht alleine.
Das Problem ist, dass ich gerne auch schwimmen gehen würde, aber ich will nicht riskieren, dass ich vielleicht auch noch ertrinke, weil ich einen Husten- oder Schwächeanfall bekomme. Außerdem ist mir so schon kalt genug. In der letzten halben Stunde habe ich eine dünne Jacke angezogen und eine Decke um mich gewickelt. Mir entgeht nicht, wie mich manch andere Leute um uns herum mit verstohlenen Blicken mustern. Ich befehle mir selbst, es einfach zu ignorieren. Sollen sie halt denken, dass ich verrückt bin.
Irgendwann dürfte ich eingenickt sein, da ich wirres und unzusammenhängendes Zeug träume und plötzlich von Robin geweckt werde, da mir dieser mit seinen nassen Haaren ins Gesicht tropft. »Oh, hey, hör auf. Das ist kalt«, wehre ich mich und setze mich auf. Ich sehe, dass inzwischen alle aus dem Wasser raus sind.
»Entschuldigung«, murmelt Rob, welcher sich neben mich sinken lässt. »Wieso bist du nicht mitgekommen?«
Ich seufze. »Weil ich nicht so Lust auf das Wasser habe. Hat es denn mit den anderen nicht Spaß gemacht?«
»Doch, aber ohne dich ist es doof.« Mein Sohn hält den Blick gesenkt und wackelt mit den Zehen.
»Ach Robin, komm her.« Ich ziehe ihn zu mir – mit der Erkenntnis, dass ich schon mal mehr Kraft hatte – und drücke ihn sanft an mich. »Tut mir leid, dass ich nicht mitgekommen bin.« Der Junge nickt langsam und schnieft. Ashley taucht in meinem Blickfeld auf und sie setzt sich gegenüber von uns. »Geht es dir gut, Dad?«, fragt sie leise und sieht derart besorgt aus, dass ich beinahe selbst Mitleid mit mir habe.
»Ja, wieso?« Ich runzle meine Stirn.
»Du bist so weiß im Gesicht«, erklärt Ash. Ich räuspere mich und suche nach einer passenden Ausrede. »Das könnte daran liegen, dass ich heute zu wenig getrunken habe. Macht euch keine Sorgen, es ist alles okay.« Mein Brustkorb schmerzt bei diesen Worten, doch ich bleibe standhaft.
In diesem Moment fragt Paul in die Runde, ob jemand etwas vom Imbiss haben möchte. Da alle ziemlich hungrig zu sein scheinen, schließen sich alle bis auf Ava und mich an.
»Hast du keinen Hunger?«, frage ich sie. Grace' Schwester schüttelt den Kopf und lässt sich neben mir nieder. »Ich habe eine Frage Tyreese«, beginnt sie langsam.
»Und die wäre?«
»Wie lange willst du deine Kinder noch anlügen?«
»Weißt du Ava, es gibt eindeutig einfachere Sachen, als den eigenen zwei Kindern beizubringen, dass man nicht mehr lange lebt. Oder hast du eine Idee, wie ich das machen könnte?«
Ava presst ihre Lippen aufeinander und beobachtet ein paar Kinder einige Meter von uns entfernt, die sich darum streiten, wer das letzte Stück Kuchen bekommt. »Ich weiß, dass es nicht einfach ist, aber da Ashley und Robin nun öfter bei mir sind, fällt es auch mir nicht leicht, immer zu überlegen, was ich sagen darf und was nicht. Sie haben mich schon ein paar Mal gefragt, was mit dir los ist. Glaub mir, die beiden bekommen mehr mit, als du denkst.« Ein unangenehmes Gefühl breitet sich in meiner Magengegend aus. Mir ist klar, dass Ava recht hat und dass mir ein Gespräch mit meinen Kindern nicht ausbleibt. »Ich möchte einfach verhindern, dass es irgendwann zu spät für eine Erklärung ist und sie damit konfrontiert werden, dass du von einer Minute auf die andere nicht mehr da bist«, fügt sie mit trauriger Stimme hinzu. Mein Blick wandert hinüber zum Imbissstand und meine Augen füllen sich mit Tränen, als ich Ash und Rob beobachte.
»Ich werde es ihnen heute Abend sagen, ich verspreche es«, flüstere ich mit erstickter Stimme.
Wenige schweigsame Augenblicke verstreichen, bis unsere Familien mit allerlei Essen zu uns zurückkehren. Ich nehme den Geruch von heißen Pommes und Würstel wahr und mein Magen beginnt zu knurren. Grace setzt sich neben mich und bietet mir ein Stück ihrer Pizza an, doch durch die Unterhaltung mit ihrer Schwester ist mir der Appetit endgültig vergangen.
Den Nachmittag verbringen Ash und Rob mit Federball spielen. Sie traktieren die ganze Familie und jeder muss mindestens einmal gegen sie spielen. Außer ich. Ich sitze stundenlag auf meiner Decke im warmen Sand und bereite in Gedanken das Gespräch mit meinen Kindern vor. Ich weiß nicht, ob ich jemals zuvor schon etwas derart Unerträgliches machen musste. Nicht einmal der heftige Streit mit anschließender Trennung von der Mutter der beiden war so unangenehm. Als es bereits zu dämmern beginnt, packen alle langsam zusammen und ich stehe das erste Mal wieder auf. Mein Kreislauf braucht einige Sekunden, bis er sich wieder beruhigt hat. Schließlich machen wir uns gemeinsam auf den Weg zurück in Pauls Strandhaus.
Nervösatme ich ein uns aus. Beruhige dich, duschaffst das schon irgendwie, flüstere ich mir selbst in Gedanken zu undbetrete das Schlafzimmer, in dem bereits meine Kinder auf mich warten.
»Dad, hier bist du ja!«, ruft Ashley erfreut. »Liest du uns noch eineGeschichte vor?« Sie liegen beide fertig für die Nacht im Bett und ich setztemich vorsichtig auf die Bettkante.
»Kinder, es tut mir leid, dass ich heute so wenig mit euch gemacht habe«, fangeich zögernd an und traue mich nicht einmal, ihnen in die unschuldigen Gesichterzu sehen.
»Macht nix Papa, das können wir ja nachholen«, erwidert Rob und rückt näher zumir. Vielleicht hätte ich zuvor googeln sollen, wie man seinen Kleinkindernbeibringt, dass man bald an einer Krankheit, die nach einem Tier benannt ist,stirbt. Ich hole tief Luft und setze erneut an: »Ich muss mit euch reden. Esist wichtig und eigentlich hätte ich das schon früher machen sollen.«
Ash runzelt die Stirn und sieht mich neugierig an, während Rob nach meiner Handgreift und sie mit seiner umfasst. »Was ist los, Dad? Du bist so komischirgendwie.«
»Ihr habt recht damit, dass etwas nicht stimmt. Ich bin krank und ähm... Ichwerde nicht mehr gesund werden.«
»Wie meinst du das?«, fragt Ashley und kommt nun auch näher.
»Ihr wisst doch, dass Menschen in den Himmel kommen, wenn sie sehr, sehr altoder krank sind, oder wenn sie einen Unfall hatten, richtig?« Ich spüre, wiemeine Hände zu schwitzen beginnen und ich wippe unruhig mit meinem linken Fußauf und ab. Meine Kinder nicken und ich kann erkennen, dass sie absolut nichtwissen, auf was ich hinaus möchte. »Und leider trifft etwas davon auf mich zu.«
»Aber du bist gar nicht alt!«, unterbricht mich Robin trotzig und ich drückesanft seine Hand, die noch immer die meine umklammert.
»Ich weiß, und deshalb habe ich auch gesagt, dass es an einer Krankheit liegenkann.«
»Papa, sag jetzt«, befiehlt mir meine Tochter. Sie sieht irgendwie ein wenigwütend aus, was mich etwas aus der Bahn wirft. Ich räuspere mich und drehe michmehr zu den beiden. »Ihr... Ich war ja vor einiger Zeit im Krankenhaus und leiderbin ich nicht gesund geworden. Ich werde nicht mehr so lange leben wie zumBeispiel Grace oder Ava. Ich weiß leider nicht wann und wie früh, aberirgendwann wird mein Herz aufhören zu schlagen. Das wollte ich euch sagen.«
Es war zu erwarten, dass ich darauf nur Schweigen ernte. Ich habe keineErfahrung damit, wie Kleinkinder mit dem Tod umgehen. Das einzige, wobei ichmir sicher bin, ist, dass man es nicht schön umschreiben sollte, da es nur fürVerwirrungen sorgt.
»Dad, jeder Mensch stirbt, das wissen wir«, antwortet Ashley schließlich.
»Ja, aber bei mir wird es sehr viel früher sein. Es kann Jahre, Monate, aberauch nur Wochen dauern.«
»Du stirbst also bald? Du verlässt uns?« Nun scheinen sie langsam zu verstehen.
»Ja, aber ich möchte nicht, dass ihr jetzt ständig daran denkt. Wer weiß,vielleicht dauert es noch viel länger, als wir glauben«, antworte ichermutigend. »Ich möchte einfach, dass ihr versteht, warum ich nicht schwimmengehen möchte, oder wieso ich so schwach bin. Das liegt einfach an meinerKrankheit. Aber bitte macht euch keine Sorgen. Ihr wisst doch, dass alleMenschen und Tiere in den Himmel kommen, und dort ist es wunderschön!«
»Im Kindergarten haben wir gelernt, dass da oben Engel sind...«, murmelt Ashley.
»Engel? Ja, das stimmt. Mit schönen, weißen Flügeln«, stimme ich ihr lächelndzu. »Und genau so ein Engel werde ich dann auch sein, der immer auf euchherabschaut und euch beschützt. Aber jetzt sollten wir erstmal schlafen, da esschon spät ist.« Ich begebe mich unter die Bettdecke und da kuschelt sich auchschon Robin an mich. Ash krabbelt daraufhin über mich drüber, um sich von deranderen Seite an mich zu schmiegen. So liegen wir dann da, ohne ein Wort zusagen und irgendwann höre ich nur noch das leise, gleichmäßige Atmen meinerschlafenden Kinder.
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