Tag 75

Tyreese

Es ist bereits neun Uhr morgens, als ich heute aus dem Bett steige. Grace scheint schon früher aufgestanden zu sein, da ich sie nirgends erblicke. Ich öffne das Fenster und nehme ein paar tiefe Atemzüge. Ich werde wohl nie genug von der frischen Meeresluft bekommen. Meine Stimmung steigt um einiges, als ich realisiere, dass schon die Sonne scheint und es heute ein schöner Tag zu werden scheint. Perfekt, wenn meine Kinder und Grace' Familie kommen.
Als ich das Schlafzimmer verlasse, laufe ich um ein Haar nicht in Gracy. »Woah, nicht so schnell!«
»Oh, tut mir leid, Tyreese. Ich habe dich nicht gesehen«, erwidert sie und streicht sich hektisch eine sich selbstständig machende Haarsträhne hinters Ohr. Daraufhin dreht sie sich um und erst jetzt sehe ich das Staubtuch in ihrer rechten Hand. »Du putzt das Haus? Wieso hast du nicht gewartet, ich kann dir doch helfen.«
»Keine Sorge, ich habe alles im Griff. Du machst dir jetzt erstmal Frühstück, während ich noch das Wohnzimmer vom Staub befreie. Ich putze nur das Nötigste.« Sie gibt mir keine Gelegenheit, etwas darauf zu antworten, da sie sich bereits in Bewegung gesetzt hat und mich stehenlässt. Ich zucke mit den Schultern und gehe in die Küche, um einen Blick in den Kühlschrank zu werfen. Ich runzle meine Stirn, als ich die gähnende Leere sehe und überlege, wann unsere Familien heute kommen. Ich rufe nach Grace und als diese im Türrahmen erscheint, setze ich gerade zu einem Satz an, doch sie unterbricht mich: »Ich weiß, wir haben fast nichts mehr zu essen im Haus. Ich fahre nachher einkaufen – kommst du mit oder soll ich das alleine machen?«
»Äh... Ich schätze, ich begleite dich. Zu zweit ist es doch einfacher, oder?« Sie nickt nur und legt das Staubtuch auf der Anrichte ab. »Ich gehe noch schnell duschen und dann können wir fahren«, füge ich noch hinzu und verlasse den Raum.

Eine Dreiviertelstunde später sitzen wir in meinem kleinen Toyota und Grace steuert uns zum Supermarkt, der einige Meilen entfernt von uns ist. Ich habe ihr vorgeschlagen, zu Fuß zu gehen, aber sie meinte nur, dass es zu weit ist und wir dann eine Menge Zeug schleppen müssten – wo sie recht hat, hat sie recht.
Ich beobachte die vorbeiziehenden Häuser und es sind nur wenige Menschen auf den Straßen unterwegs. »Irgendwie finde ich es hier viel schöner, als in der Stadt. Hier ist alles so ruhig und entspannt. Niemand hat Stress und alle wirken so freundlich«, sage ich, während ich eine ältere Frau mit einem kleinen Hund beobachte.
»Das stimmt. Genau dafür liebe ich Rosecup. Für immer hier zu wohnen wäre eigentlich gar nicht so schlecht...«, murmelt Gracy. In diesem Moment erreichen wir einen kleinen Parkplatz mit Blick auf einen noch kleineren Supermarkt. »Das soll der einzige Laden hier sein?!«, entfährt es mir und ich muss augenblicklich lachen, während wir aus dem Auto aussteigen.
»Jetzt mobb' doch Rosecup nicht so«, antwortet Gracy schmunzelnd. »Wenn wir noch ein bisschen weitergefahren wären, hätte es sogar einen Baumarkt gegeben!«
»Wow! Das ist ja Wahnsinn, ein Baumarkt«, erwidere ich gespielt beeindruckt und beobachte Gracy, wie sie zwei Stoffbeutel aus dem Kofferraum holt.
»Das ist hier wirklich etwas Besonderes. Aber wie du vorhin bereits sagtest: Hier ist es ruhig und entspannt und genau aus diesem Grund liebe ich es.«
Wir betreten den Laden und arbeiten Grace' Einkaufsliste ab. Ich trage die leichteren Sachen und bin stolz auf mich, dass ich immerhin meine Sauerstoffflasche nicht brauche.
Als ich gerade abwäge, ob ich ein Erdbeer- oder Bananenjoghurt nehmen soll, höre ich, wie Grace jemanden begrüßt. Ich entscheide mich für Banane und verlasse den Gang mit den Kühlregalen. Ich gelange schließlich zu den beiden und kenne die Person nicht – welch ein Wunder.
»Oh, das ist Tyreese. Tyreese, das ist Florence«, stellt sie mich der anderen Frau vor. Ich werfe ihr ein freundliches Lächeln zu, bis das Gespräch der zwei auch schon weitergeht. Sie scheint nicht viel älter als wir zu sein. Ihre blonden Haare sind zu einem lockeren Zopf zusammengebunden und sie ist relativ sportlich angezogen. Auch ihre Figur sieht trainiert aus und als sie lacht, fällt mir etwas Metallisches unter ihrer Oberlippe auf – ein Piercing. Ich weiß bis heute nicht, was ich von solchen Modetrends halten soll. An manchen Menschen sieht so etwas gut aus, an anderen irgendwie nicht. Ich komme in Gedanken zu dem Entschluss, dass es Florence steht.
»Und wieso seid ihr hier in Rosecup? Grace, du warst ja ewig nicht hier«, nehme ich in diesem Moment ihre Worte wahr. Gracy zögert einen Moment, doch schließlich öffnet sie ihren Mund und beginnt zögerlich zu sprechen: »Wir wollten einfach mal Urlaub machen. In der Stadt ist es immer so laut und stressig und hier kann man einfach super entspannen.« Genau die Worte, die wir vorhin gerade noch besprochen haben. Dass der richtige Grund ein wenig anders aussieht, muss Florence ja nicht wissen. Ich stehe einfach schweigend daneben und trete von einem Fuß auf den anderen. Als würde mich mein Karma verarschen wollen, fängt mein Hals an zu kratzen. Ich wende mich ein wenig ab, um durch Husten und Räuspern das unangenehme Gefühl loszuwerden. Ich höre, wie Grace' Bekannte fragt, ob mit mir alles okay ist. Das Gespräch endet dann ziemlich schnell, da sich Gracy hastig verabschiedet und zu mir kommt. Sie zieht mich in den nächsten Gang und versucht mich zu beruhigen. »Brauchst du Wasser? Oder möchtest du rausgehen?«, fragt sie besorgt. Ich deute auf den Ausgang und setze mich im selben Moment in Bewegung. Ich halte meinen Kopf gesenkt und als ich vor dem kleinen Supermarkt stehe, hole ich ein paar Mal tief Luft. Genau wie heute Morgen, doch da ging es mir besser. Als Grace neben mir auftaucht, lächelt sie mich mitfühlend an.
»Wo hast du unsere Sachen hingetan?«, frage ich mit heiserer Stimme und räuspere mich daraufhin.
»Ich habe sie an der Kassa abgegeben, ich kann sie mir jederzeit holen und bezahlen. Du setzt dich jetzt ins Auto und ich erledige den Rest, okay?« Sie überreicht mir den Schlüssel und ich gehe zum Wagen, in welchen ich mich erschöpft sinken lasse. Wenigstens hat sich mein Hals wieder etwas beruhigt.
Kurze Zeit später erscheint Grace mit ihren zwei überfüllten Einkaufstaschen und hievt diese in den kleinen Kofferraum. Als sie sich hinters Steuer setzt, sieht sie mich an. »Alles okay?«
»Ja, aber ich habe es langsam satt, ständig in der Öffentlichkeit Probleme zu haben. Ich sollte einfach nur noch zuhause bleiben und nichts mehr riskieren.« Grace seufzt lediglich und startet den Motor, um kurz darauf den Parkplatz zu verlassen. Während der Autofahrt frage ich, wer diese Florence ist und ich erfahre, dass sie früher mit Ava und Grace befreundet war und immer mit ihnen gespielt hat, wenn sie hier auf Urlaub waren.

Zurück in Pauls Strandhaus verstaut Gracy den Einkauf und ich begebe mich auf die Hollywoodschaukel, welche inzwischen zu meinem absoluten Lieblingsplatz geworden ist. In ungefähr zwei Stunden wird unser Besuch kommen und je näher dieser rückt, desto nervöser werde ich.
Als es endlich so weit ist, kann ich es nicht mehr erwarten, meine Kinder zu sehen. Ich höre das Auto als erstes, da ich mich draußen befinde (Grace steht seit Stunden in der Küche und bereitet Essen vor und als ich ihr Hilfe angeboten habe, hat sie mich wieder rausgeschickt). Ich gehe die wenigen Stufen von der Veranda hinunter und betrete den Kiesweg, um zur Einfahrt zu gelangen. Ein großer schwarzer BMW taucht vor mir auf und als mich Ashley erblickt, kann sie es gar nicht erwarten, aus dem Auto zu kommen. Auch ihr Bruder bemerkt mich und sie laufen augenblicklich auf mich zu. Ich gehe in die Hocke und breite meine Arme aus, bis ich sie schließlich an mich drücken kann. »Hey ihr zwei, ihr glaubt mir nicht, wie sehr ich euch vermisst habe«, sage ich und muss vor Freude grinsen.
»Wir dich auch, Dad«, erwidert Ashley und löst sich von mir. Erst dann sehe ich, dass auch Sienna, Paul und Ava ausgestiegen sind. Sie kommen auf mich zu und wir begrüßen uns.
»Kommt rein, Gracy hat schon Essen vorbereitet. Ihr müsst doch sicher hungrig sein!« Ich scheuche alle die Treppen hinauf und betrete hinter ihnen das Haus. Es folgen erneut Begrüßungsfloskeln und ich zeige meinen Kindern erst einmal die Räumlichkeiten. »Grace und ich haben heute schon eure Betten fertiggemacht. Wollt ihr wissen, wo ihr schlaft?« Ash und Rob nicken erfreut und ich zeige ihnen ihre provisorischen Schlafplätze. Sienna und Paul werden im zweiten Schlafzimmer übernachten, Grace wird es sich mit ihrer Schwester auf dem Sofa gemütlich machen und ich werde mit meinen Kindern in unserem bisherigen Schlafzimmer schlafen. »Erzählt mir was«, bitte ich meine Kinder und setze mich auf die Bettkante. Sie kommen sofort beide zu mir und ich lege jeweils einen Arm um ihre Schultern.
»Es gibt nicht viel. Im Kindergarten gibt es jetzt eine neue Frau. Sie ist ganz lieb, aber manchmal ein bisschen traurig«, beginnt Ashley und betrachtet ihre kleinen Fingerchen. »Na, immerhin ist sie nett, das ist doch gut«, antworte ich.
»Ja, aber sie ist manchmal komisch«, beteiligt sich nun auch Robin. Er sieht mich mit seinen dunklen Augen an und ich realisiere, dass es im Kindergarten wohl doch ein paar Probleme zu geben scheint. »Wieso komisch?«, hake ich nach und sehe beide abwechselnd an. Doch ich bekomme keine Antwort mehr, da in diesem Augenblick Avas Stimme ertönt, die zum Essen ruft.
»Hey, was haltet ihr von der Idee, wenn wir drei morgen etwas unternehmen? Habt ihr denn schon das Meer gesehen? Wir sind ganz nah dran!« Ashs und Robs Augen beginnen vor Freude zu leuchten und sie stimmen mir aufgeregt zu.
Als wir zu den anderen zurückkehren, herrscht dezentes Chaos. Sienna und Ava laufen hin und her, um den Tisch zu decken und Grace steht in der Küche und erteilt Befehle. Während des Essens muss ich die ganze Zeit an die betrübten Gesichter meiner Kinder denken, als sie mir von der neuen Betreuerin erzählt haben. Ich beschließe, nachher Ava zu fragen – immerhin bringt sie die beiden jetzt immer in den Kindergarten.

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