Tag 71
Grace
Ich würde es gerne ergründen, aber ich kann beim besten Willen nicht sagen, wie es möglich ist, dass sechs Tage vergehen, als hätten sie nie stattgefunden. Man sagt, wenn man seine Zeit mit einer Person verbringt, bei der man sich wohlfühlt, fühlen sich Stunden oft wie Sekunden an. Das dürfte die Erklärung sein. Wir sind seit einer Woche im Strandhaus von Paul und ich merke, dass ich beginne, mich allmählich zu entspannen. Der ganze Arbeitsstress und die Aufregung der letzten Wochen fallen langsam von mir ab und es kommt mir so vor, als wären wir nur hier, um normal Urlaub zu machen.
Genauso verwundert bin ich über den guten Zustand von Tyreese. Auch er scheint einiges an Last abgelegt zu haben, da er zurzeit viel seltener seine Sauerstoffmaske benötigt und an Energie zugelegt hat. Vielleicht liegt es aber auch einfach an der salzigen Meeresluft, die ich frühmorgens so gerne einatme, wenn ich auf der Veranda stehe, dem Sonnenaufgang zusehe und eine Tasse heißen Kaffee genieße.
An diesem Morgen verläuft es genau so. Ich beobachte gerade die ersten Sonnenstrahlen, als ich hinter mir die Schiebetür höre und Tyreese die Terrasse betritt. »Guten Morgen«, begrüße ich ihn und ein Lächeln klammert sich an meine Lippen.
»Auch dir einen guten Morgen, meine süße Gracy.« Bei dieser Wortwahl stellen sich die Haare in meinem Nacken auf und mein Herzschlag wird augenblicklich schneller. »Wie hast du geschlafen?«, fügt er noch hinzu.
»Naja, eigentlich ganz gut, aber es war so heiß.«
»Findest du?« Tyreese stellt sich neben mich und sieht ebenfalls in die Ferne.
»Ja. Keine Ahnung, vielleicht habe ich einfach Hitzewallungen.« Am Ende des Satzes schwingt ein belustigter Unterton in meiner Stimme mit. Ich nehme einen großen Schluck meines Kaffees und mustere anschließend den Mann neben mir von der Seite. »Und du?«
»Hervorragend.«
»Das freut mich. Möchtest du auch einen Kaffee?«
»Sehr gerne. Du musst n– « Er will mich zurückhalten, doch ich habe mich bereits auf den Weg gemacht. Ich betrete das Häuschen und begebe mich in die Küche. Jedes Mal, wenn ich hier bin, erinnere ich mich an meine Kindheit und Jugend zurück. Ich habe so viele schöne Erinnerungen an lustige Familienabende und morgendliche Spaziergänge am Strand mit Ava. In Gedanken versunken gieße ich etwas von der braunen Flüssigkeit in eine hellblaue Tasse und gebe einen Schuss Milch dazu. In diesem Moment gibt mein Handy einen Ton von sich. Ich brauche eine Weile, bis ich es auf der Anrichte zwischen einer Packung Cornflakes und einer Vase mit verblühten Tulpen erspäht habe.
Guten Morgen,
ich wollte mal nachfragen, wann ihr zwei wiederkommt. Rob und Ash werden langsam quengelig. Möchte euch trotzdem nicht stören. Wie geht's euch?
Kuss, Ava
Ich seufze und erinnere mich daran, dass es noch ein Leben und eine Realität da draußen gibt, auf die ich im Moment nicht wirklich Lust und Motivation habe. Ich überlege kurz, was ich meiner Schwester antworten könnte und tippe schließlich Folgendes:
Hey,
uns geht es gut und die Ruhe hier entspannt uns beide sehr. Ich habe sogar das Gefühl, dass es Tyreese besser geht. Ihr könntet doch alle vorbeikommen und wir verbringen noch einige Tage gemeinsam hier? Wäre so eine schöne Erinnerung an früher...
Kuss, Grace
Die Idee ist mir soeben spontan gekommen. Wieso nicht einfach die ganze Familie hierher verfrachten, statt das Meer so frühzeitig zu verlassen? Ich weiß natürlich, dass nicht alle kommen können, da manche Leute auch noch Verpflichtungen haben, aber sie könnten zumindest für ein Wochenende kommen – Ashley und Robin auf jeden Fall. Ich habe das Glück, dass mir eine Pflegefreistellung für zwei Wochen genehmigt wurde. Für die restliche Zeit werde ich meinen gesamten Urlaub verbrauchen, da ich in diesem Jahr noch keinen einzigen Tag davon benötigt habe.
Ich lege mein Handy zurück auf den Tresen, nehme die Tasse von Tyreese und begebe mich wieder auf die Veranda. »Hier, für dich. Milch ist schon drinnen«, sage ich und überreiche ihm sein Getränk. Er hat sich in der Zeit, in der ich weg war, auf die Hollywoodschaukel gesetzt.
»Dankeschön, du bist die Beste.« Ich lasse mich neben ihn sinken und beobachte eine Weile die stärker gewordenen Wellen auf dem Meer. Auch der Wind scheint zugenommen zu haben. »Ava hat mir geschrieben«, beginne ich und trinke aus meiner Tasse.
»Wie geht es meinen Kindern? Ich vermisse sie so...«
»Sie meint, wir sollten langsam zurückkehren, aber ich halte das für keine gute Idee. Ich sehe doch, dass es dir hier besser geht.« Ich warte auf eine Antwort, doch ich erhalte keine, weshalb ich fortfahre. »Aus diesem Grund habe ich meiner Schwester vorgeschlagen, dass meine Familie und deine Kinder stattdessen zu uns kommen könnten. Was hältst du davon?« Nun zeigt Tyreese doch eine Reaktion. Er wendet seinen Blick zu mir und scheint zu überlegen. »Das wäre perfekt, da ich ihnen versprochen habe, ans Meer zu fahren...«
»Siehst du? Du hättest noch einen Urlaub mit Ashley und Robin und kannst die Zeit mit ihnen genießen.«
»Und deine Familie wäre auch hier; zumindest ein Teil davon.« Ich werfe ihm ein freudiges Lächeln zu.
»Der Plan gefällt mir. Mal sehen, was meine Schwester antwortet.«
Um die Mittagszeit macht Tyreese ein Nickerchen auf der Couch im Wohnzimmer, da er trotz all der Entspannung und Ruhe relativ schwach ist. Ich habe das große Bedürfnis nach etwas Zeit für mich alleine, weswegen ich kurze Zeit später, nachdem er eingeschlafen ist, eine Nachricht für Tyreese auf einen Notizblock kritzle und das Strandhaus verlasse. Die weißen Treppen hinunter, vorbei an einige Sträuchern und meine Füße berühren endlich den warmen Sand. Heute versteckt sich die Sonne hinter einigen Wolken, weshalb der Boden nicht so stark aufgeheizt ist, wie an so manch anderen heißen Tagen. Ich setze meinen Weg fort und gelange schließlich zum Wasser. Einige kleinere Schiffe sind unterwegs und ich kann sogar ein Tretboot ausmachen. Ich bewundere die Menschen, die sich das freiwillig antun. Wenn ich mit einem Boot herumtuckere, möchte ich eigentlich nur äußerst ungern große Anstrengung dafür anwenden.
Als meine Zehen das kühle Nass berühren, schnappe ich überrascht nach Luft. Ich habe erwartet, dass das Meer etwas wärmer ist. Nach einigen Sekunden gewöhne ich mich jedoch daran und ich begebe mich knöcheltief ins Wasser. An meiner linken Ferse muss ich wohl eine kleine Wunde haben, da augenblicklich ein leichtes Brennen einsetzt. Schon als ich ein Kind war, habe ich gelernt, was Salzwasser für heilende Wirkungen hat – und das fasziniert mich bis heute. Ich bin mir sicher, dass die Verletzung morgen wie vom Erdboden verschluckt sein wird.
Ich führe meinen Spaziergang fort und gelange zur gleichen Bucht, in der ich vor einigen Tagen mit Tyreese war. Diese Erinnerung lässt mich wieder an ihn und unsere Zukunft denken. Wir haben jetzt seit gut zwei Monaten wieder Kontakt und ich bereue es kein bisschen, jedoch frage ich mich, wie viel Zeit uns wohl noch übrigbleibt. Vielleicht ein paar Jahre, einige Monate oder doch nur mehr wenige Wochen? Tage? Ich weiß es nicht, und genau das macht mich verrückt.
Das erste Mal, seit ich mit Tyreese hier bin, kommen mir andere Menschen entgegen. Ein Mann und eine Frau – augenscheinlich ein Paar –, Hand in Hand, gehen an mir vorbei und wir grüßen uns freundlich. Dann ist der Moment auch schon vorbei und ihr Gespräch wird immer leiser, bis es vollständig verblasst. Ich beobachte erneut das Meer und verliere mich in meinen Gedanken. Irgendwann, als die Sonne doch zwischen einer Wolkenlücke hervorscheint, kehre ich wieder in die Realität zurück und merke, dass ich meilenweit von Pauls Häuschen entfernt bin.
Als ich am späten Nachmittag schließlich bei Tyreese ankomme, sitzt dieser auf der Hollywoodschaukel und empfängt mich mit einem Lächeln.
»Hey«, begrüße ich ihn schmunzelnd.
»Hi, wie war dein Spaziergang?«
»Schön. Ich schätze, das habe ich einfach gebraucht. Wie lange hast du geschlafen?«
»Bin vor ungefähr eineinhalb Stunden aufgewacht, aber keine Sorge, du musst nicht ständig auf mich aufpassen.« Ich lasse mich neben ihm auf der Schaukel nieder und nicke langsam. »Ava hat dir geantwortet. Ich war in der Küche, als die Nachricht kam.«
»Und?«, frage ich neugierig und sehe ihn von der Seite an.
»Ich habe nur die erste Zeile der Vorschau gelesen und das klang schon mal positiv.«
Da nun meine Neugier siegt, stehe ich auf, um eine halbe Minute später mit meinem Handy in der Hand auf die Veranda zurückzukehren. Als ich mich erneut neben Tyreese niederlasse, entsperre ich währenddessen den Bildschirm und beginne laut vorzulesen:
Du hast mich überzeugt, Schwesterherz. Also ich komme euch auf jeden Fall besuchen. Wie sieht es kommendes Wochenende aus? Ob Sienna und Paul mitkommen, wird wohl eine Spontanaktion werden...
Nach einigen weiteren Nachrichten steht schließlich fest, dass Ava am Freitag kommt. Sie wird Ashley und Robin direkt vom Kindergarten abholen und zu uns fahren.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top