Tag 64

Grace

Als ich meine Augen öffne, ist es schon hell draußen und durch die Vorhänge blitzt etwas Sonnenlicht. Ich drehe mich auf die linke Seite und sehe, dass Tyreese nicht hier ist. Ich bin augenblicklich wach und stolpere hektisch aus dem Bett. Meinem Kreislauf scheint das nicht so zu gefallen, da ich mich ein paar Sekunden an der Bettkante festhalten muss, bis er sich wieder beruhigt hat. Dann eile ich aus dem Schlafzimmer und fange an zu suchen. Fündig werde ich auf der Terrasse. Er ist gestern wohl nochmal aufgestanden, hat sich auf die Veranda gesetzt und ist dann eingeschlafen. Ich setze mich neben Tyreese und betrachte ihn von der Seite. Die Sauerstoffflasche steht neben ihm auf dem Boden; der Schlauch führt in seine Nase. In diesem Augenblick scheint er aufzuwachen, da er sich langsam rekelt. Er schnappt ein paar Mal nach Luft und ich beruhige ihn mit ein paar Worten. »Hey, alles okay, ich bin bei dir«, sage ich und lege meine Hand auf seine Schulter. Er wendet sich mir zu und beruhigt sich allmählich. »Oh nein, bin ich etwa hier eingeschlafen?«
»Ja, sieht so aus«, antworte ich lächelnd. »Hoffentlich hast du dich nicht auch noch erkältet.« Er tastet mit seinen Händen neben sich herum, bis er etwas ergreift und mir hinhält. »Das habe ich gestern noch geschrieben. Die Wunschliste. Ich gehe mal auf's Klo.« Er steht auf und hebt seinen Rucksack mit dem Sauerstoff hoch, um danach im Haus zu verschwinden. Ich zögere einen Moment und falte das Blatt Papier schließlich auseinander.

10 Dinge, die ich machen möchte, bevor ich sterbe

· Unter dem Sternenhimmel tanzen

· Mich tätowieren lassen

· Mit Delfinen schwimmen

· Auf einen Kran klettern und die Aussicht genießen

· Einen ganzen Tag mit Ashley und Robin verbringen

· Mich bei jemandem entschuldigen, der längst eine Entschuldigung verdient hat

· Grace wieder glücklich sehen

· Einmal noch Sex haben

· Heiraten

· Einen echten Engel sehen

»Und, was sagt du?« Ich habe gar nicht bemerkt, dass Tyreese wieder da ist. Und ich weiß nicht, was ich sagen soll. Eigentlich habe ich genau mit so etwas gerechnet, aber wieso bin ich dann auf einmal so verzweifelt? »Ich werde dafür sorgen, dass du alles erlebst, was auf dieser Liste steht«, antworte ich trotz des flauen Gefühls in meiner Magengegend.

Etwas später beginnen wir den Tag mit einem leckeren Frühstück. Wir sitzen auf der Veranda und beobachten einig Vögel, die sich um einen Leckerbissen streiten. Am Horizont wandert die Sonne immer höher und die Temperatur klettert das Thermometer hinauf. Ich merke, dass sich Tyreese nicht besonders wohl zu fühlen scheint. Auf seiner Stirn stehen Schweißperlen und aus seinem Gesicht ist jegliche Farbe gewichen. »Tyreese? Willst du dich eine Weile hinlegen? Du siehst gar nicht gut aus.«
»Letzteres tue ich doch sowieso seit Wochen nicht mehr. Aber ja, ich gehe kurz rein. Tut mir leid...«
»Wehe du entschuldigst dich noch einmal für deine Krankheit!«, erwidere ich gespielt streng und helfe ihm mit der Sauerstoffflasche. Nur wenige Minuten, nachdem er auf das Sofa im Wohnzimmer gesunken ist, fällt er in einen tiefen Schlaf.

»Hi Grace. Wie geht's euch?« Ava nimmt schon nach dem ersten Klingeln ab. »Naja... Tyreese hat sich vor ungefähr einer Stunde hingelegt, weil es ihm nach dem Frühstück nicht sehr gut ging. Er... Er hat eine Liste mit Wünschen geschrieben, die er gerne noch erfüllen würde.«
»Oh, das ist süß. Ich meine, eine gute Idee. Sowas machen viele Leute... denke ich.«
»Ja... Weißt du zufällig, wie es Ash und Rob geht?«
»Ich habe vorhin mit Sienna telefoniert und den beiden geht es gut, aber sie vermissen Tyreese. Ich weiß nicht Grace, aber ich glaube, dass es keine so gute Idee ist, wenn ihr zwei bis zum Schluss in diesem Strandhaus bleibt. Die Kleinen vermissen ihn wirklich.« Ich zögere etwas mit meiner Antwort.
»Das dachte ich mir schon. Das Ding ist... ich möchte einfach noch Zeit mit ihm verbringen. Ich bereue die letzten Jahre so sehr, in denen wir keinen Kontakt hatten. Was für eine Zeitverschwendung.«
»Das glaube ich dir...«
»Aber wir werden bestimmt nicht bis zum Ende hierbleiben. Ich weiß noch nicht, bis wann genau, aber wir sind ja erst gestern angekommen und ich werde mal beobachten, wie es Tyreese in den nächsten Tagen geht.«
»Das klingt nach einer guten Idee. Ich schaue heute oder morgen bei Sienna vorbei; vielleicht geht es den Kindern dann besser«, antwortet meine Schwester.
»Das ist toll, danke. Ich mache jetzt Schluss, Av. Danke für alles und ich melde mich bald wieder.«

»Weißt du, was ich jetzt machen möchte?«, fragt Tyreese, als er fünf Stunden später die Augen aufschlägt. Der Schlaf scheint ihm gut getan zu haben. Ich schüttle daraufhin meinen Kopf und helfe ihm währenddessen beim Aufstehen. »Ich würde jetzt gerne einen Spaziergang am Strand machen. So richtig gemütlich. Kommst du mit?« Ich lächle.
»Was glaubst du denn? Denkst du, ich lasse dich alleine?«
Als wir später die Veranda verlassen, neigt sich der Tag bereits dem Ende zu. Die Sonne ist beinahe vollkommen untergegangen und sie wirft ein saftiges Orange auf das Wasser des Meeres. Wir gehen eine Weile schweigend nebeneinander. Tyreese kann sich ohne große Bemühungen fortbewegen und trägt die Sauerstoffflasche in seiner linken Hand. Die Cap hat er heute seit langem auch wieder auf und manchmal, wenn ich ihn so ansehe, denke ich mir, dass er schon ziemlich anders aussieht ohne Augenbrauen, Bart, Kopf- und sonstige Behaarung. Aber das ist natürlich die kleinste Sache. »Warum schaust du mich denn die ganze Zeit so an?«, reißt mich Tyreese aus meinen Gedanken, woraufhin ich leicht zusammenzucke und rot werde. »Oh, ähm... Ich weiß nicht, ich habe gerade einfach nur nachgedacht.«
»Worüber?«
»Ist nicht so wichtig. Schau mal, da vorne ist eine Bucht. Sollen wir dort einen Halt machen?«
Ich verfluche mich in Gedanken, weil ich keine Picknickdecke mitgenommen habe. Die wäre jetzt echt praktisch gewesen, doch Tyreese scheint das egal zu sein, denn er sucht sich ein schönes Plätzchen und lässt sich dort in den etwas kühleren Sand plumpsen. Okay, so geht's natürlich auch.
Ich lasse mich ebenfalls nieder und bewundere wieder einmal die Aussicht auf das weite Meer. »Kann ich bitte das Wasser haben?«, fragt Tyreese mit kratziger Stimme. »Oh, hier.« Ich reiche ihm die große Wasserflasche, die ich im letzten Moment noch eingepackt habe. Nach ein paar großen Schlucken beruhigt sich sein Hals und er atmet wieder normal. »Ich hasse es«, murmelt er. Eine Weile spricht keiner etwas und wir genießen einfach nur die Aussicht auf den blauen, ruhigen Ozean, während jeder seinen eigenen Gedanken nachhängt.
»Hast du einen Plan, wie genau du die Liste abarbeiten möchtest?«, frage ich schließlich und mustere Tyreese von der Seite. Er scheint eine Weile zu überlegen, während er sich abwesend an der Hand kratzt. »Nicht wirklich. Am liebsten würde ich natürlich alles sofort erledigen, aber ich weiß nicht, ob das realistisch ist.« Die Sonne versinkt nun ganz am Horizont und einzelne Sterne finden ihren Platz am Himmel. »Ich weiß, wie wir beginnen können«, flüstere ich und ein Lächeln stiehlt sich in mein Gesicht. Ich stehe auf und strecke Tyreese meine Hand entgegen, um ihm beim Aufstehen zu helfen. Er sieht mich fragend an und als er vor mir steht, richte ich meinen Blick nach oben gen Himmel und mein Lächeln wird breiter. Nun scheint auch Tyreese zu verstehen, woran ich denke.
»Hast du dein Handy dabei?«, fragt er. Ich nicke, ziehe es aus meiner linken Hosentasche und starte die Musik-App.
Leise ertönen die ersten Töne von You found me von The Fray. Nun beginnt auch Tyreese zu lächeln und er legt seine Arme um meine Taille. Meine Hände wandern auf seine Schultern und anfangs herrscht noch ein gewisser Sicherheitsabstand zwischen uns, doch nach einigen Augenblicken merke ich, wie mich mein Tanzpartner näher an sich heranzieht, bis wir schließlich eng umschlungen an diesem wunderschönen Strand unter dem Sternenhimmel tanzen.
Für einen Moment spüre ich seit langem wieder so etwas wie Glück in mir.

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