Tag 63

Tyreese

Der nächste Tag ist ein Montag, was bedeutet, dass alle wieder zur Arbeit oder in die Schule müssen. Ich habe lange überlegt und die beiden Möglichkeiten abgewogen, meine beiden Kinder trotz unseres Aufenthalts bei Grace' Familie in einen Kindergarten zu geben; zumindest vormittags. Ich halte es für angenehm, auch mal etwas Ruhe vor den beiden zu haben. Natürlich nicht böse gemeint, aber es würde schon alleine deswegen nicht schaden, weil sie Kontakt zu Gleichaltrigen hätten und sich nicht den ganzen Tag langweilen müssten.
Um kurz vor acht kommt Grace mit frischen Brötchen vom Bäcker nach Hause. Ich habe währenddessen Eier gekocht und Speck angebraten. »Du sollst dich ganz wie zuhause fühlen«, sagt Grace, während sie das Gebäck aus der Papiertüte nimmt und in einen Brotkorb legt. »Das tue ich bereits«, erwidere ich schmunzelnd und beginne, den Tisch zu decken. Als ich fertig bin, kehre ich in die Küche zurück und sage so nebenbei: »Das könntest du ruhig jeden Tag machen.« Dafür ernte ich einen gespielt genervten Blick von Grace, woraufhin ich grinsen muss.
Als der Tisch randvoll mit Marmeladen, Aufstrichen, Wurst, Käse, Gemüse und Obst ist, habe ich seit langem wieder so richtig Hunger. Ich halte das für ein gutes Zeichen und lange ordentlich zu.
»Hast du eigentlich schon geplant, wann wir zum Strand fahren?«, frage ich und beiße in ein kleines, weißes Brötchen mit Bio-Kräuteraufstrich und Tomaten. »Ehrlich gesagt könnten wir noch heute aufbrechen. Ich meine, das Haus gehört Paul und wir müssen nichts buchen oder bezahlen. Wir müssen nicht einchecken und Fristen gibt es auch keine.«
Wir denken beide das Gleiche, sprechen es aber zum Glück nicht aus. »Okay, ich bin sehr dafür. Ich kann's nicht erwarten, endlich das Meer zu sehen«, sage ich und zaubere Gracy damit ein Lächeln auf die Lippen.
Nach dem ausgiebigen Frühstück beginnen wir, unsere Sachen zusammenzupacken. Grace' Onkel Paul besitzt ein kleines Strandhaus in Rosecup direkt am Meer. Grace hat mir verraten, dass es sogar einen eigenen privaten Strandbereich gibt, der natürlich sehr klein gehalten ist. Ich habe lange mit der Frage gekämpft, meine beiden Kinder mitzunehmen. Auf der einen Seite möchte ich so viel Zeit wie nur möglich mit ihnen verbringen, aber auf der anderen Seite will ich auch mit Grace alleine sein. Als ich eine ausgiebige Dusche nehme, überlege ich noch einmal und beschließe schlussendlich, Ash und Rob nicht mitzunehmen. Wir werden nicht bis zum Schluss in dem Strandhaus bleiben, deswegen kann ich es mir leisten, die zwei bei Grace' Familie zu lassen. Wir werden nur einige Tage dort bleiben und danach wieder hierher zurückkehren.

Als wir eine Stunde später in meinem Auto sitzen, steigt meine Aufregung von Sekunde zu Sekunde. Wir haben uns von Sienna verabschiedet (die restlichen Familienmitglieder sind ja unterwegs) und sie hat uns einen großen Vorrat an Lebensmitteln mitgegeben. Irgendwie kommt es mir so vor, als würde ich das erste Mal in meinem Leben alleine auf Urlaub fahren, weil sich alle solche Sorgen machen. Ich habe die große Hoffnung, dass ich in den paar Tagen am Strand mein Gefühlschaos und meine Probleme zumindest für eine Weile vergessen kann. Ich möchte mich einfach so wie früher fühlen und mich einzig und allein auf Grace konzentrieren. Ich bin neugierig, was wir alles machen werden. Jap, die kindlichen Gefühle und die Vorfreude steigen immer weiter. Ich fühle mich, als wäre ich wieder sechzehn Jahre alt.

Der Kies knirscht unter den Autoreifen, als Grace den Wagen in die Einfahrt steuert. Als wir stehenbleiben und das Brummen des Motors verstummt, sehe ich die Frau neben mir an. »Ich finde es bereits jetzt wunderbar hier.« In Grace' Gesicht erscheint ein Lächeln und ich betrachte das kleine Haus vor uns. Mir fällt sofort eine Veranda auf, die man über einige weiße Stufen erreicht. Die Fassade aus Holz ist hellblau und schon ziemlich von der Sonne ausgeblichen, was es aber umso idyllischer macht. Das und ich kann sogar einen Schornstein ausmachen. Es ist zwar absolut keine Luxus-Immobilie, was ich aber ehrlich gesagt sehr gut finde. So hat es viel mehr Flair.
»Ich frage mich, wieso ich damals noch nie hier war. Paul wird das doch nicht erst seit letzter Woche besitzen, oder?«
»Nein, natürlich nicht. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wieso ich dich damals nicht mit hierher genommen habe. Wahrscheinlich war mir das Häuschen früher einfach nicht so wichtig«, antwortet sie nachdenklich.
»Und jetzt schon?«
»Oh ja.« Sie lächelt erneut und betrachtet ebenfalls das Gebäude vor uns. Schon während ich aus dem Auto aussteige, nehme ich die salzige Note in der Luft wahr. Es weht eine leichte Brise und die Sonne scheint warm auf meine Nase. Wir gehen nebeneinander die weißen Treppen hinauf und gelangen auf die kleine Veranda. Rechts von uns stehen ein Tisch und vier Stühle; links befindet sich eine Hollywoodschaukel. »Die Schaukel hat Paul selbst gebaut. Das weiß ich, weil Ava und ich damals noch Kinder waren und wir ihm dabei zugesehen haben. Wir waren richtig fasziniert, als Paul Holz um Holz zusammenlegte und die Schrauben hineingebohrt hat, bis wir schließlich erkennen konnten, was es werden soll.« Ich lasse mich auf der Schaukel nieder und bemerke erst jetzt, wie nahe wir dem Meer nun wirklich sind. Mir ist zwar schon vorher der typische Salzgeruch aufgefallen, jedoch habe ich irgendwie gar nicht so weit gedacht. Die Entfernung von dieser Veranda bis zum Wasser beträgt vielleicht fünfzig Meter; wahrscheinlich sogar weniger. »Wow, das ist ja unglaublich.«
»Stimmt. Ich bin auch jedes Mal wieder erstaunt«, stimmt mir Grace zu und setzt sich neben mich. Eine Weile genießen wir einfach nur den Ausblick, während einige Möwen über unsere Köpfe hinweg Richtung Meer fliegen. Mein Gehirn hat bereits jetzt auf Urlaubsgefühl und Entspannung umgeschaltet.
»Wie geht es dir, Tyreese?« Die Frage kommt dieses Mal ehrlich gesagt etwas überraschend.
»Im Moment fühle ich mich sehr gut.«
»Was möchtest du unternehmen? Wir können alles machen. Alles, was du willst.«
»Wirklich alles?« Ich sehe Grace mit einem amüsierten Blick an. Daraufhin rollt sie mit den Augen und seufzt. »Ja okay, ich erinnere mich. Ich korrigiere: Ich werde versuchen, dir alles zu geben, was du dir wünschst.«
»Und das wäre?«
»Das ist dein Part. Sag du es mir.«
»Ich hätte da so eine Idee...«, murmle ich geheimnisvoll. Grace zieht daraufhin eine Augenbraue hoch. »Es ist zwar absolut klischeehaft, aber irgendwie kann ich den Reiz dahinter nachvollziehen.«
»Ja? Spann' mich nicht so auf die Folter!«, jammert Gracy ungeduldig.
»Ich schreibe eine Liste, die wir dann abarbeiten. Ist zwar nichts Originelles, aber wer hat gesagt, dass meine letzten Wochen besonders außergewöhnlich sein müssen?«
»Gut, ich werde dir dabei helfen. Ich trage unser Gepäck noch schnell ins Haus und komme dann mit Papier und Stift zurück.«
»Nein, warte. Ich schreibe die Liste nicht jetzt. Ich muss etwas nachdenken. Wenn sie fertig ist, gebe ich sie dir, okay?« Grace scheint kurz irritiert zu sein, nickt dann aber trotzdem.

Den Nachmittag verbringen wir mit Kochen. Im Hintergrund läuft Musik und Grace summt leise mit, während sie in drei Töpfen gleichzeitig rührt. Ich kann meine Augen nicht von ihr abwenden.
Da schneidet sie eine Zwiebel, dort entnimmt sie ein paar Tomaten und hält sie unter das Wasser, um sie kurz darauf zu kleinen Stücken zu zerschneiden und in den Topf zu werfen.
Als es draußen langsam dunkel wird, erinnere ich mich an früher. Gracy und ich haben oft solche gemütlichen Tage verbracht. DVDs gucken, essen, Cocktails trinken, kuscheln. Oh, da fällt mir etwas ein. Als ich einfach so wie der größte Idiot zu grinsen beginne, schaut mich Grace fragend an.
»Mr. McLane, was habe ich jetzt schon wieder angestellt, das Sie so zu amüsieren scheint?«
»Keine Sorge, es liegt nicht an Ihnen, Ms. Carter. Ich musste gerade nur daran denken, dass wir früher immer Cocktails ausprobiert haben.«
»Oh ja, das ging meistens schief. Einmal hast du es sogar geschafft, den Mixer zu ruinieren.«
»Genau, und dann ist er auf ganz mysteriöse Weise aus dem Fenster geflogen und mit einem lauten, befriedigenden Geräusch in der Einfahrt auf dem harten Asphaltboden gelandet und in tausend Teile zersprungen.«
»Und dann war er im Arsch«, fügt Grace grinsend hinzu.
»Klaro.«
»Jetzt mal ernsthaft, hat dich der Mixer wirklich so sehr beleidigt?«
»Ja! Ich habe einige Kirschen reingetan und halt vergessen... Du hättest mich darauf aufmerksam machen können, dass Kirschen Kerne haben!«
»Ey, ich war da anderweitig beschäftigt!«
»Ja, womit denn? Schlafen?« Grace macht einen Satz auf mich zu und schlägt mich. Na ja, sie setzt zumindest an, ich bin aber schneller und umfasse ihr Handgelenk. »Nur weil ich Krebs habe, heißt das noch lange nicht, dass ich mich von einem Mädchen schlagen lasse.«
»Mädchen? Dein Ernst?«, gibt Grace empört von sich. »Ich glaube, du schwimmst gerade so sehr in deinen Erinnerungen herum, dass du vergisst, dass ich bereits fünfundzwanzig und nicht mehr sechzehn bin!« Mit einem Lachen antworte ich: »Ja, da liegst du verdammt richtig. Aber ich muss auch zugeben, du bist trotzdem schuld an meinem fehlenden Wissen, dass Kirschen Kerne haben.«
»Wieso bin jetzt ich schuld?«
»Na ja, immerhin hattest du nichts außer eines heißen Dessous an und ich war mit meinen Gedanken schon viel weiter vorne. Glaubst du wirklich, dass ich da noch an Kirschen, ihre Kerne und Cocktails gedacht habe?«
»Oh Gott, das ist so typisch Mann«, antwortet Grace lachend.
»Ja ja, du weißt genau, was danach passiert ist und dir hat es mindestens genauso gefallen wie mir.«

Als wir etwas später mit dem Essen fertig sind, liege ich auf dem Sofa und atme mithilfe meiner Sauerstoffflasche. Mich wundert, dass ich sie heute den ganzen Tag noch nicht gebraucht habe.
Das Wohnzimmer dieses Strandhauses ist nicht besonders groß und trotzdem perfekt. An den Wänden hängen viele abstrakte Bilder und verschiedene Modelle von Angelruten. Ich frage mich, ob Paul gerne angelt. Ich stehe auf und bewege mich zu einem großen Wandschrank aus dunklem Holz, in dem sich kleine Skulpturen und Figürchen befinden. Manche sehen sehr interessant aus, mit viel zu großen Gliedmaßen und seltsamen Farben.
»Was machst du?« Ich erschrecke mich, als Grace auf einmal im Türrahmen steht.
»Ich schaue mir Sachen von Paul an. Das darf ich doch, oder?«
»Natürlich, du wohnst jetzt hier«, erwidert Grace und stellt sich neben mich. »Die kleine Figur da links, der Engel mit den roten Haaren, das war meine allerliebste Figur als Kind. Ich habe mir immer vorgestellt, wie es wäre, über den Wolken zu fliegen wie so ein Engel.« Ein Lächeln stiehlt sich in ihr Gesicht. Ich weiß, dass Gracy als Kind sehr viel geträumt hat. Ihre Eltern waren manchmal genervt, wenn sie wieder von irgendwelchen Theorien oder Lebensweisheiten gesprochen hat.
»Mein kleiner Engel Grace«, murmle ich. Daraufhin dreht sie sich zu mir um und grinst. »Also wirklich, du bist heute nicht der Tyreese, für den ich dich gestern noch gehalten habe. Bist du wieder in der Pubertät?«, fragt sie mit einem belustigten Unterton in der Stimme. Ich zucke mit den Achseln. »Wenn du jetzt wieder sechzehn bist, dann bin ich das halt auch wieder.« Grace schüttelt lächelnd ihren Kopf.
»Es wäre schön, wenn wir wieder so jung wären. Nicht, dass wir alt sind, aber da war alles viel einfacher. Wir haben uns einfach gemocht und jeder war gesund und die einzigen Probleme, dir wir hatten, waren kaputte Handys oder ein kleiner Streit mit dem besten Freund.« Grace seufzt leise.
»So ist das halt im Leben. Man weiß nie, was die Zeit mit sich bringt«, murmle ich. Wir betrachten beide die Skulptur des Engels mit der feuerroten Haarmähne. Wer entwirft bitte einen Engel mit roten Haaren? Ich kenne nur die üblichen Exemplare mit blonden oder weißen Haaren. »Können wir bitte was anderes machen? Das wird mir jetzt ein bisschen zu dramatisch«, beschwert sie sich plötzlich und wendet sich ab, um sich auf die Couch hinter uns zu setzen. Ich wache aus meiner Trance – oder was auch immer – auf und begebe mich zu Grace. »Tut mir leid«, entschuldige ich mich und werfe ihr einen sanften Blick zu. »Ich wollte dich nicht so runterziehen.«
»Schon gut, es war eigentlich ganz schön, wieder an früher zu denken. Jetzt reicht es aber.« Sie lächelt leicht und greift zur Fernbedienung des Fernsehers. »Bock auf irgendwas Lustiges?« Ich nicke und mache es mir auf dem Sofa gemütlich.

Als Grace bereits schläft und ich wieder aus dem Bett steige, da ich kein Auge schließen kann, setze ich mich draußen auf die Hollywoodschaukel und höre dem Rauschen der Wellen zu. Der Himmel ist mit Sternen übersät und der sichelförmige Mond leuchtet heute besonders hell. Auf dem Wasser spiegeln sich die Lichter der Häuser, die auf der anderen Seite der Bucht sind. Es ist schon fast kitschig; fehlt nur noch ein Segelboot am Horizont vor dem Mond. Und vielleicht eine Hexe auf ihrem Besen... Haha.
Auf meinem Schoß liegt ein Blatt Papier und ein Kugelschreiber mit der Aufschrift eines mir unbekannten Restaurants. Er ist genauso rot wie die Haare des Engels. Ich drehe ihn zwischen meinen Fingern hin und her und setze die Spitze schließlich auf das unbeschriebene Weiß. Der erste Strich ist ganz leicht und unsicher, doch nach ein paar Worten beginnen sich die Gedanken in meinem Kopf zu sinnvollen Sätzen zusammenzufügen und zu konkreten Wünschen zu werden. Die Liste mit den Dingen, die ich vor meinem Tod noch erleben möchte, beginnt sich allmählich zu füllen.

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