Tag 60

Tyreese

Einen Tag später werde ich (wieder einmal) entlassen. Inzwischen ist es schon ziemlich normal, durch die große aus Glas bestehende Drehtür zu gehen und zu wissen, dass man sich ab jetzt wieder im normalen Leben zurechtfinden muss. Klingt wie die Entlassung aus dem Knast.
Grace hat mich abgeholt und wir sitzen bereits in ihrem Auto. Die einzige Veränderung ist, dass ich ab jetzt dauerhaft zwei Atemschläuche in meiner Nase tragen muss, die in ein kleines Köfferchen vollgepackt mit Sauerstoff enden. Wenn ich mir längere Strecken vornehme, brauche ich einen Rollstuhl. »Fahren wir jetzt zu dir?«, frage ich und beobachte die vorbeiziehenden Bäume. »Ja und dann packen wir.«
»Sofort? Wann fahren wir denn zu deiner Tante?« »So bald wie möglich, würde ich sagen. Shila nehme ich dieses Mal nicht mit. Ich habe schon mit Ava gesprochen, sie schaut öfters vorbei und füttert sie. Ich werde sie vielleicht auch besuchen, damit sie mich nicht komplett vergisst.« Grace wirft mir einen lächelnden Blick zu, den ich erwidere. »Okay, das klingt gut.«
Die ersten Klänge ertönen aus dem Radio. Unsere Blicke treffen sich erneut und das Lächeln verwandelt sich in ein Grinsen. Ich halte es für ein Zeichen, dass der Typ im Radio genau diesen Song ausgewählt hat. You found me von The Fray. Früher haben wir immer lauthals mitgesungen und uns später darüber lustig gemacht, wie schlecht wir beide darin waren. Ich höre ein leises Summen. Grace weiß es noch, denn ihre Stimme wird lauter, bis sie schließlich den Text des Refrains mitschmettert. Ich setze in der zweiten Strophe mit ein und fühle mich um Jahre zurückversetzt.

In the end
Everyone ends up alone
Losing her
The only one who's ever known
Who I am
Who I'm not, and who I want to be
No way to know
How long she will be next to me

Während wir lachend in den zweiten Refrain übergehen, wird mir schmerzlich bewusst, dass der Lyrics sehr stark auf uns zutrifft. Ich frage mich immer öfter, wie lange ich wohl noch so neben Grace sitzen kann. Ich würde mit ihr am liebsten den ganzen Tag Lieder singen, doch irgendwann endet auch der schönste Song. »Ich habe unsere Autofahrten geliebt«, sagt sie in diesem Moment und ich denke dasselbe.
Zehn Minuten später befinden wir uns bereits in Grace' Wohnung. Sie packt ihre Sachen zusammen und ich streichle einstweilen ihre Katze. Ich habe noch nie viel mit Tieren zu tun gehabt und ich weiß, dass Grace schon immer gesagt hat, dass sie eine Katze möchte, doch mir war nie danach, ein Haustier zu haben. »Ich bin fertig!«, ruft Grace plötzlich und erscheint mit einem Koffer und zwei Taschen in der Hand im Türrahmen. »Jetzt müssen wir noch schnell zu dir fahren und deine Kinder und Kleidung holen.«
Ich nicke. Ich bin bereits jetzt genervt, immer das Sauerstoffdings mit mir herumtragen zu müssen. Na, Gott sei Dank hat es zwei Räder und das Atmen fällt mir auch um einiges leichter.
Kurze Zeit später – Grace musste sich noch von Shila verabschieden – sitzen wir erneut im Auto und fahren zu meiner Wohnung, wo Ava, Ashley und Robin warten. »Hallo, ihr zwei!« Av umarmt ihre Schwester und überraschenderweise auch mich. Dann tauchen Ash und Rob hinter ihr auf und ich bin heilfroh, sie zu sehen. Als wir alle im Wohnzimmer sind, kommt auch schon die erste Frage, die ich erwartet habe. »Was ist das in deiner Nase?« Ashley mustert mich mit einem kritischen Blick. Ihre Hände hat sie in die Hüften gestemmt und ich muss schmunzeln, als ich sie so sehe. »Das sind Beatmungsschläuche. Die brauche ich, um besser Luft zu kriegen.« Meine Tochter nickt langsam und wendet sich dann ab. Ava und Grace setzen sich zu mir auf die Couch und werfen sich einen Blick zu. »Also wollt ihr heute noch fahren?«, will Av wissen.
»Mh, ich denke, dass wir noch eine Nacht hierbleiben, oder?«, schlage ich vor. »Ich muss noch mein ganzes Zeug zusammenpacken. Ach ja, und das von meinen Kindern natürlich auch...«
»Das hab' ich schon gemacht«, erwidert Ava.
»Oh, echt? Dankeschön!« Ich lächle und bin froh, dass mir wenigsten das erspart bleibt.
»Okay, dann lasse ich euch mal alleine. Wenn ihr etwas braucht, ruft mich an.« Grace begleitet ihre Schwester noch zur Tür. Ich mache mich einstweilen auf den Weg in mein Schlafzimmer, um Kleidung für mich zusammenzusuchen. Gerade als ich einige Jeans rauskrame, höre ich, wie sich jemand nähert. »Brauchst du Hilfe?«
Grace steht im Türrahmen und sieht mir zu. »Äh, eigentlich nicht, danke.«
»Weißt du was? Ich ordne deinen Koffer nochmal neu, denn das hast du anscheinend noch immer nicht gelernt«, sagt sie mit einem belustigten Unterton. Ich seufze. »Okay, dann bringe ich Ash und Rob ins Bett.« Ich biete meinen Kindern an, ihnen beim Umziehen zu helfen, doch die beiden beharren darauf, es alleine machen zu wollen. Ich bin erstaunt, als ich merke, wie viel ich in letzter Zeit in der Entwicklung der zwei verpasst habe. Nach dem Zähneputzen decke ich sie liebevoll zu und küsse sie auf die Stirn. Ich bin gerade dabei, das Licht abzuschalten, als Robin zu reden beginnt. »Dad, warum kriegst du keine Luft?« Ich setze mich auf seine Bettkante und bemerke, dass Ashley mich ebenfalls gespannt ansieht. »Das hätte ich euch wahrscheinlich schon früher sagen sollen...«, murmle ich eher zu mir selbst. »Was wisst ihr denn bereits?«, fange ich lahm an. Ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich ihnen meine Krankheit kindgerecht erklären soll. »Du bekommst keine Luft«, sagt Ashley. »Und du hast Aua«, antwortet nun auch ihr Bruder. Ich muss schmunzeln. »Ja, da habt ihr recht.«
»Du warst lange im Krankenhaus.« Ich nicke und zögere kurz. »Ich bin krank und deshalb kann ich nicht mehr richtig atmen.« Nervös beobachte ich meine Kinder und warte auf eine Reaktion. »Du musst Hühnersuppe essen!«, befiehlt mir Ash. Ich lache leise und bewundere die zwei für ihre unschuldigen und simplen Gedanken. »Wenn es doch so einfach wäre, meine Süße.«Ich räuspere mich, denn ein Kloß hat sich in meiner Kehle gebildet. »Wann wirst du wieder gesund?«, möchte Rob wissen, welcher im selben Moment eines seiner Kuscheltiere an sich drückt. »Gar nicht...«, flüstere ich. Nicht weinen, nicht weinen! Bloß nicht vor den Kindern! Zwei Paar fragende Augen mustern mich. »Ich bin krank und ich... ich werde bald im Himmel sein. Ihr wisst schon, wo alle verstorbenen Haustiere und Menschen hinkommen, wenn ihre Zeit gekommen ist.« Ashley und Robin haben absolut nicht verstanden, was ich meine. »Ich habe nicht nur Schnupfen oder Kopfschmerzen. Meine Lunge und ein Teil meines Bauches sind krank. Sie wollen nicht mehr richtig arbeiten.«
»Was ist, wenn du im Himmel bist?«, fragt Robin mit gerunzelter Stirn. »Niemand weiß, wie es da oben aussieht, aber man sagt, dass es wunderschön ist.« Ich versuche, mir selbst einzureden, dass es wirklich so ist. Ich glaube nicht an den Himmel oder die Hölle. Ich bin auch ziemlich unsicher, ob es überhaupt ein Leben nach dem Tod gibt. »Wenn du im Himmel bist, wie kannst du dann bei uns sein?«
»Ich werde nicht mehr hier sein.« Ich habe das Gefühl, dass ich gerade dabei bin, ihnen alles viel zu kompliziert zu erklären. Es ist echt nicht leicht, einem vier- und einem fünfjährigen Kind den Tod zu schildern. »Es ist schon spät und ihr seid beide müde. Schlaft erst einmal und morgen erwartet uns etwas Tolles!«
Ich gebe ihnen noch einen Kuss und verlasse dann das Zimmer. Als ich ins Wohnzimmer komme, bin ich komplett am Boden zerstört. Grace sitzt auf dem Sofa und sieht mich mitleidig an. »Ich habe es versaut. Total versaut.«
»Hey, du hast das gut gemacht. Andere hätten es nicht besser geschafft. Ich eingeschlossen. Ich finde, das hast du mutig absolviert.« Ich seufze und lasse mich neben sie auf die Couch sinken. »Kann ich etwas für dich tun?«, bietet mir Grace an. Ich schüttle dankbar meinen Kopf. »Ich muss mit dir sprechen.« Ich drehe mich so weit zu ihr, dass ich sie gut im Blick habe. Daraufhin sieht sie mich erwartungsvoll an. »Wenn wir morgen zu Sienna und Paul fahren, wir bei ihnen wohnen und vielleicht sogar ans Meer fahren, muss das zwischen uns klappen. Ich will nicht, dass unsere letzte gemeinsame Zeit mit Streiten vergeudet wird.« Grace nickt langsam.
»Ja, Tyreese. Da hast du recht.«
»Wir müssen uns versprechen, dass es eine schöne Zeit wird. Das ist mein größter Wunsch.« Gracy lächelt leicht und sagt: »Okay, ich werde daran denken. Ich freue mich auf diese Zeit.«
»Ist es für dich okay, wenn du mit mir in einem Bett schläfst? Ich kann sonst auch auf der Couch schlafen«, schlage ich unsicher vor und stehe auf. Grace' Mundwinkel wandern nach oben. »Nicht dein Ernst, oder? Das fragst du, obwohl wir schon mit elf Jahren gemeinsam in einem Bett geschlafen haben?«
»Sorry, könnte ja sein, dass es dir unangenehm ist, nach allem, was passiert ist«, antworte ich und merke im selben Moment, dass sie es lustig gemeint hat. »Gut, dann gehe ich mal rüber. Also... bis nachher.« Gracy nickt und lächelt mich an.

Es ist dunkel im Zimmer und ich kann nicht schlafen. Ständig schwirren mir Szenen im Kopf herum, die mich nicht wirklich beruhigen, sondern genau das Gegenteil bewirken. Ich versuche, mich auf Grace' regelmäßigen Atem zu konzentrieren.
Als ich das nächste Mal auf meinen Wecker schaue, ist es zehn nach drei. Anscheinend habe ich doch kurz geschlafen. Wenig später wache ich erneut auf, weil mein Hals furchtbar trocken ist. Um Grace nicht aufzuwecken, stehe ich auf, gehe in die Küche und spüre auch schon den sich anbahnenden Hustenanfall.
Als es endlich hell wird, bin ich komplett durchgeschwitzt und nehme erstmal eine Dusche, damit Grace nicht merkt, wie fertig ich bin.

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