Tag 58

Grace

Ich weiß, dass Tyreese in seiner Wohnung ist. Nicht, dass ich ihn gestalkt hätte. Okay, vielleicht doch so ein bisschen. Gut, ich bin ihm den ganzen gestrigen Tag gefolgt. Ziemlich spät hat er Ash und Rob vom Kindergarten abgeholt und ist dann mit ihnen in seine Wohnung gefahren. Ich dachte mir ehrlich gesagt schon, dass er dorthin geflüchtet ist, denn recht viele andere Auswege stehen ihm nicht zur Verfügung. Ich wollte ihm gestern noch etwas Zeit lassen und den dreien erst heute einen Besuch abstatten. Ich werde ihn zuerst anschreien, was er sich dabei gedacht hat, einfach so abzuhauen und danach werde ich ihm die gute Nachricht von Paul und Sienna überbringen. Ich hoffe, dass er nachgibt und seinen Sturkopf endlich – wenigstens ein einziges Mal – abschaltet.
Ich parke mein Auto in der Kurzparkzone zwei Häuserblöcke weiter vorne und gehe dann zu Fuß in den dritten Stock. Als ich vor der braunen Tür stehe, zögere ich. Eigentlich ist mir klar, dass er nicht ohne Hilfe leben kann; schon gar nicht seine Kinder, aber irgendwie habe ich nun doch Zweifel, ob er wirklich will, dass ich zu ihm komme. Schließlich ist er abgehauen und hat sich nicht mehr gemeldet. Daraus entnehme ich, dass ich nicht all zu wichtig für ihn bin. Andererseits quälen mich auch das schlechte Gewissen und die Tatsache, dass er schwer krank ist. Ich atme noch einmal tief ein und drücke dann auf den Knopf neben dem Lichtschalter. In meinem Kopf taucht die Frage auf, wie sich Tyreese wohl gefühlt haben muss, als er vor über einem Monat bei mir geklingelt hat und absolut nicht wusste, ob ich ihm nicht die Tür vor der Nase zuschlagen, geschweige denn ob ich sie überhaupt öffnen würde. Es ist elf Uhr vormittags und Ashley und Robin müssten im Kindergarten sein. An Tyreeses Auto habe ich erkannt, dass er zu Hause sein muss. Tatsächlich kann ich einige Sekunden später hören, wie auf der anderen Seite der Tür der Schlüssel umgedreht wird. Mein Blick fällt sofort in seine blauen Augen. »Grace.«
»Tyreese.« Er kratzt sich am Hinterkopf und die schwarze Mütze auf seinem kahlen Kopf verrutscht dadurch ein wenig. »Ich ähm... Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich jetzt sagen soll«, murmle ich peinlich berührt. Plötzlich ist mein gesamter Plan, den ich mir gestern zurechtgelegt habe, wie ausgelöscht. »Komm rein«, sagt der Mann gegenüber schlussendlich und tritt zwei Schritte nach links, damit ich vorbei kann. Als ich meine Jacke ausziehe, fällt mir ein, dass ich eigentlich vorhatte, ihm schreiend Vorwürfe zu machen, doch bei den Augenringen, dem mageren Körper und den inzwischen nicht mehr tiefblauen, sondern deutlich glanzlosen Augen, hat es mir schlichtweg die Sprache verschlagen. Wir gehen ins Wohnzimmer und da ich das erste Mal hier bin, sehe ich mich aufmerksam um. Eine Wand ist in einem kräftigen Purpur gestrichen und trägt zwei Vitrinen mit allerlei Krimskrams, die für Tyreese wahrscheinlich eine besondere Bedeutung haben. Einige Babyfotos von Ashley und Robin hängen an den Wänden und auf einer Kommode entdecke ich ein Bild, auf dem eine Frau zu sehen ist. Ich nehme es in die Hand und betrachte sie. Sie hat dunkle, lange Haare, ebenso dunkle Augen und sitzt auf einem weißen Teppich, während sie strahlend in die Kamera lächelt. Erst auf den zweiten Blick erkenne ich Ashley als Neugeborenes in ihren Armen. An ihrer linken Seite sitzt ein kleiner Junge und schmiegt sich an sie; die kleinen Händchen umklammern den Arm der Frau. Ich weiß auch nicht, aber irgendwie sieht sie mir ähnlich. Ich spüre, dass Tyreese hinter mir steht und ebenfalls das Foto betrachtet. »Ist das die Mutter von Ashley und Robin?«, frage ich die eigentlich überflüssige Frage. »Ja.«
»Wie heißt sie?«
»Carmen.«
»Das ist ein schönes Foto.«
»Ich hätte es wegräumen sollen.«
»Du hast sie geliebt, oder? Sie muss dir dein Herz gebrochen haben mit dem Seitensprung...«
»Ich habe niemals solche Gefühle für sie empfunden wie für dich.« Mein Herz setzt kurz aus, um dann in einem unrhythmischen Takt weiter zu stolpern. Ich wende mich ab und frage, ob ich mich auf das Sofa setzen darf. Wenig später bringt mir Tyreese ein Glas Wasser und ich trinke dankbar ein paar Schlucke. »Wieso genau bist du hergekommen?« Ich stelle mein Getränk auf dem kleinen schwarzen Couchtisch ab und überlege meine Antwort. »Ich habe mir vorgenommen, dir einen Vortrag darüber zu halten, wie verdammt arschlochmäßig du dich erneut benommen hast, als du wieder einmal abgedampft bist, ohne ein Sterbenswörtchen zu sagen. Weißt du, das hat mich sehr an damals erinnert, denn genau so hast du es gemacht, als mein Vater in den Bergen abgestürzt ist und du nicht dabei zusehen wolltest, wie ich in meinem Kummer fast versinke. Und dann ist genau der Mensch abgehauen, der mir am allermeisten bedeutet hat. Zum Glück hatte ich Ava, die zu diesem Zeitpunkt meine zweite Hälfte wurde. Ohne sie hätte ich das wahrscheinlich nicht verkraftet.«
»Fängst du jetzt ernsthaft schon wieder mit meinen Fehlern an?« Erst als ich mich zu ihm umdrehe, sehe ich, dass er vor der Kommode steht, mich anschaut und dabei Tränen in den Augen hat.
»Ich kann bis heute nicht nachvollziehen, warum du verschwunden bist, denn du hattest an der ganzen Sache die wenigste Last zu tragen. Ich konnte nicht einfach davonlaufen vor meinen Problemen, denn das hätte mich nur noch mehr zerstört. Aber es ist inzwischen nichts Neues mehr, dass du vor so kleinen Monstern wie Problemen und Hürden im Leben wegrennst.« Tyreese atmet zitternd aus. »Wie oft willst du mir jetzt noch Vorwürfe machen?« fragt er leise und sieht an mir vorbei. »Bis du verdammt nochmal kapiert hast, dass man nicht vor allem und jeden davonlaufen kann! Du scheinst es noch immer nicht zu raffen!« Ich werfe meine Hände empört in die Luft und stehe ruckartig auf.
»Weißt du, was die größte Scheiße daran ist? Dass ich trotz allem nicht von dir loskomme. Du wirkst auf mich wie so ein... Magnet. Mir wird einfach nur schwindlig von dem Ganzen. Ich könnte es so viel einfacher haben, wenn ich dich einfach abblitzen lassen würde, doch das kann ich nicht. Jedes Mal, wenn ich in deine Augen sehe, erinnere ich mich zurück an unsere Kindheit, in der nur wir zwei existierten. Wir hatten keine anderen Freunde, deine Eltern hatten ihre eigenen Probleme und ich hatte immer Zoff mit meiner Halbschwester, weil sie mich nicht leiden konnte. Doch du warst immer da. Du warst mein Anker und ich war deiner. Später wurde es immer mehr; wir wurden noch wichtiger füreinander. Wir dachten, dass das alles niemals ein Ende haben würde. Wir schwebten in unserer rosa Seifenblase und verloren den Überblick über alles, was rundherum geschah. Dann passierte es, dass eine sehr wichtige Person von mir an einem tragischen Tod starb und ich machte eine Erfahrung durch, die wohl jeder Mensch einmal durchmachen muss. Ich trauerte. Genau von dir hatte ich eigentlich erwartet, du würdest mich unterstützen. Von einem Tag auf den anderen war deine Handynummer nicht mehr verfügbar und deine Mutter wusste ebenso wenig wie dein Vater – den es sowieso nicht interessierte – wo du bist. Du hast mir zusätzlich zu meiner Trauer noch ein gebrochenes Herz hinzugefügt. Ich bin wirklich sehr stolz auf dich gewesen, Tyreese.« Der letzte Satz strotzt nur so von Sarkasmus und Enttäuschung.
»Ich muss dir was sagen«, beginnt Tyreese. Ich ahne, dass etwas kommt, womit ich erneut nicht zurechtkomme. »Ich gebe nicht schnell auf. Okay, vielleicht manchmal schon, aber in diesem Fall nicht. Ich habe die Therapie nicht einfach so abgebrochen. Ich habe das Ganze schon einmal durchgemacht und will jetzt einfach nicht mehr.« Ich komme nicht ganz mit.
»Warte, was meinst du mit: Ich habe das Ganze schon einmal durchgemacht?«
»Grace, ich hatte bereits vor einem Jahr Krebs und dieser ist jetzt wieder zurückgekommen, nachdem ich damals geglaubt habe, ihn endgültig besiegt zu haben. Ich möchte das alles nicht ein zweites Mal erleben und habe mich nun entschlossen, dem Ganzen ein Ende zu bereiten.« Ich brauche ein bisschen, bis ich wieder weiß, wie man richtig und gleichmäßig atmet. Mein Glas ist bereits leer und ich beobachte erneut den Mann mir gegenüber. Ich könnte ihm noch so oft Vorwürfe machen und es würde ja doch nichts bringen. Schon wieder ist er mit einer eigentlich relativ nützlichen Information rausgerückt, die ich gerne ein wenig früher gewusst hätte. Ich entscheide mich, mir auf die Zunge zu beißen und zu schweigen. Stattdessen frage ich mich, was wohl sonst noch in seinem Kopf vorgeht. Natürlich weiß ich, dass niemand die Vergangenheit rückgängig machen kann, aber am meisten nervt mich, dass ich mich von ihm nicht losreißen kann. Ich bin in meine Gedanken versunken, als Tyreese auf einmal zu schluchzen beginnt und auf den Boden sackt. Ich erschrecke mich so sehr, dass ich zusammenzucke und krampfhaft überlege, was ich jetzt tun soll. Er weint, als wäre er ein kleines Kind und ich sehe ihn das erste Mal seit Jahren so verzweifelt. Ich habe es nur einmal erlebt, und das war, als Tyreeses Vater Joseph seine Frau bewusstlos prügelte und er die Rettung rufen musste, weil es seinem Dad total am Arsch vorbeiging. Tasha wurde dann im Krankenhaus versorgt und kam ein paar Tage später wieder nach Hause. Damals haben wir uns gewünscht, die Polizei würde Joseph verhaften und hinter Gitter bringen, doch nichts dergleichen geschah. Als seine Frau wieder einigermaßen genesen war, fing alles von vorne an.
Den Kopf in die Hände gestützt, hockt Tyreese jetzt am Boden. Ich lasse mich ebenfalls nieder und weiß nicht so recht, was ich tun soll. »Es tut mir leid, das war ein wenig zu heftig für dich...«, murmle ich schuldbewusst. Ich gehe in die Küche und befülle ein Glas mit Wasser, das ich kurz darauf vor ihm auf dem Boden abstelle. »Willst du etwas trinken?« Als Antwort bekomme ich einfach nur einen Schluchzer. Ich schätze, dass er diese natürliche Reaktion des Körpers lange unterdrückt hat und jetzt alles hervorgekrochen kommt. Es ist gut, zu weinen. Es reinigt die Seele. »Okay, lass erstmal alles raus.« Ich setze mich einfach vor ihm auf den Boden und warte geduldig, bis er sich beruhigt. Ich werde erneut aus meinen wirren Gedanken gerissen, als er plötzlich zu husten und keuchen beginnt.
»Tyreese? Oh mein Gott, scheiße.« Bitte nicht schon wieder. Ich raffe mich auf und suche nach meiner Handtasche. Ich bekomme Panik, als ich an die Szene in der Cafeteria im Krankenhaus denke. Mit zittrigen Fingern wähle ich den Notruf und bestelle wieder einmal einen Krankenwagen für Tyreese. Langsam gewöhne ich mich daran.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top