Tag 56

Tyreese

Als ich voller Wut und Enttäuschung über mich selbst beschlossen habe, Gracy einfach zu verlassen, dachte ich nicht daran, wohin ich eigentlich gehen könnte. Ashley und Robin quengelten die ganze Zeit und fragten nach Grace. Ich antwortete ihnen bestimmt zehnmal, dass sie sie nicht mehr sehen würden. Ich hätte ihnen die Wahrheit wahrscheinlich etwas kinderfreundlicher erklären sollen, doch dafür hatte ich in diesem Augenblick echt keine Geduld. Da mir keine bessere Lösung einfiel, entschied ich mich für meine Wohnung. Mir war zwar klar, dass mich Grace als erstes dort suchen würde, falls sie sich überhaupt die Mühe machte, doch umständlich verstecken wollte ich mich dann auch nicht.
Jetzt ist also der nächste Tag und ich liege in meinem Bett; den Blick an die Decke gerichtet. Ich habe mitten in der Nacht meine Schmerzmittel rausgekramt, weil sich meine Lunge wieder so anfühlte, als würde sie jeden Moment verbrennen. Wenigstens konnte ich dann ein paar Stunden schlafen. Ich habe keine Ahnung, wie es mit mir weitergehen soll und ich bin genau auf dem gleichen Stand wie vor über einem Monat. Ich wohne wieder alleine mit meinen Kindern und mühe mich ständig mit der Frage ab, was wohl aus den beiden wird, wenn ich sterbe. Mit Grace habe ich endgültig abgeschlossen und ich werde sie nicht länger mit meiner Anwesenheit nerven. Sie muss wieder in ihr altes Leben zurückfinden, in dem ich keinen Platz habe – und daran bist ich selbst schuld.
Als es hell wird, wecke ich Ash und Rob und bereite sie auf den Kindergarten vor. Etwas Essbares finde ich nicht mehr in meiner Wohnung, weshalb ich beschließe, mit den Kindern noch kurz bei einer Bäckerei vorbeizufahren. Danach empfängt mich die Chefin des Kindergartens mit einer überraschten Geste. »Guten Morgen, Mr. McLane. Wir haben Sie hier schon vermisst, geht es Ihnen wieder gut?«
»Äh, ja. Geht schon, danke. Ist es in Ordnung, wenn ich Ashley und Robin heute etwas später abhole? Ich muss noch einige Dinge erledigen...«
Ms. Sheffield nickt verständnisvoll. »Natürlich, kein Problem. Ich verstehe, dass es auch stressige Tage gibt, an denen Kinder leider eher im Weg sind. Wir haben wie gewohnt bis siebzehn Uhr geöffnet.« Sie lächelt übertrieben und schickt meine zwei Kleinen in den Spieleraum, in dem sie schon von ein paar anderen Kindern begrüßt werden.
»Vielen Dank, Ms. Sheffield. Bis später!« Als ich hinausgehe, betrachte ich im Vorbeigehen die niedrigen, an der Wand stehenden Bänke, auf denen sich dutzende von kleinen Jäckchen befinden. Über jedem Haken kleben ein Tiersticker und der Name des jeweiligen Kindes. Ich kann mich noch erinnern, als Robin am ersten Kindergartentag traurig war, weil er statt des Löwen den Marienkäfer bekommen hat. Ich habe ihn daraufhin getröstet und ihm versprochen, am nächsten Tag mit Ms. Sheffield zu sprechen. Ab diesem Zeitpunkt war er überglücklich, dass er seinen stolzen Löwen jeden Morgen sehen konnte, wenn er seine Jacke aufhängte. Mit etwas traurigen Gedanken verlasse ich das Gebäude und fahre wieder nach Hause.
Als ich in meiner Wohnung ankomme, klingelt nur fünf Minuten später jemand an der Tür. Ich seufze und rechne damit, dass es eine ganz bestimmte Frau ist, doch ich täusche mich. Die Überraschung ist um einiges größer, als ich meine Mutter erblicke. »Mama...«, ist das einzige, was ich im Moment herausbringe. »Hallo, Tyreese. Ich... Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich anfangen soll. K-Kann ich vielleicht reinkommen?« Ich nicke zögernd und denke an den Tag zurück, an dem sie mich beleidigt vor dem Krankenhaus stehen hat lassen. Sie geht an mir vorbei und ich nehme ihr die Jacke ab. Danach folge ich ihr ins Wohnzimmer und bringe ihr und mir selbst ein Glas Wasser. »Ich habe ehrlich gesagt nicht mit dir gerechnet«, beginne ich.
»Und das hast du akzeptiert, wie ich bemerkt habe.«
»Wolltest du mit deinem Abgang bezwecken, dass ich dir verzweifelt auf den Knien rutschend hinterhereile?« Meine Kehle beginnt wieder einmal zu kratzen und ich nehme einen kräftigen Schluck. »Woher weißt du eigentlich, dass ich nicht mehr im Krankenhaus bin?«
»Ich habe dort nachgefragt. Sie haben gesagt, dass du entlassen wurdest und ich bin auf gut Glück hierhergekommen«, antwortet sie. »Weißt du, es tut mir wirklich leid, mein Sohn. Ich war einfach nur so... nun ja, geschockt, dass du das Gleiche wie dein Vater hast und wollte es nicht akzeptieren. Ich habe meinen Frust an dir ausgelassen und das hätte ich nicht tun sollen.« Ich bin sehr froh über Mutters Worte. Normalerweise ist sie eher die schüchterne, überfreundliche Person und ihre Reaktion damals hat mich sehr verwirrt. »Und womöglich kann ich auch deine Entscheidung, die Kinder zu jemand Jüngeren zu bringen, nachvollziehen. Es ist wahr, dass ich mich nur überfordert gefühlt hätte.«
»Danke, Mama.« Ich stehe auf und umarme sie. Im Augenblick bin ich sehr froh, dass sie gekommen ist und das jetzt geklärt ist. »Wie geht es dir? Bist du wirklich schon gesund, nachdem du schließlich entlassen wurdest?« Im nächsten Moment seufze ich und stelle mich auf ein weiteres Mal ein, jemanden mit meiner Entscheidung, die Behandlung abzubrechen, zu enttäuschen. Im Endeffekt bin ich zehn Minuten später wieder erstaunt, wie komplett anders meine Mutter reagiert. Sie hat allen Ernstes erwidert, dass sie mich unterstützen wird, egal wobei.

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