Tag 54
Grace
Shila befindet sich im Katzenkorb, die wichtigsten Dinge sind verstaut und Ashley und Robin sitzen im Auto in ihren Kindersitzen. »Ich glaube, wir haben alles«, sage ich und gehe in Gedanken noch einmal alles durch. »Ja. Hast du dir eigentlich überlegt, was wir tun, wenn deine Tante keine vier Personen aufnehmen kann? Wir haben unser ganzes Zeug schon mit... Ist das nicht ein wenig voreilig? Hassen sie mich denn nicht? Schließlich weiß in deiner Familie jeder darüber Bescheid, was für ein riesen Arschloch ich war.« Ich seufze und schließe den Kofferraum.
»Natürlich habe ich keine Ahnung, wie Sienna reagieren wird, aber wir können sowieso nichts dagegen tun. Du kannst die Vergangenheit nicht rückgängig machen und ich kann die Zukunft nicht vorhersagen.«
Wenig später befinden wir uns auf der Autobahn und Tyreese ist so erschöpft, dass er nach nur zehn Minuten Fahrt einschläft. Ashley malt ein Mandala mit Buntstiften aus und Robin beschäftigt sich mit der gleichen Tätigkeit wie sein Dad. Im Radio läuft ein Lied von Queen und ich lächle leicht, weil es mich an meine Jugend erinnert. Könnte die Zeit doch bloß stehen bleiben...
Als wir in die Einfahrt einbiegen und aussteigen, beschließen wir, Ashley und Robin einstweilen noch im Auto zu lassen, da sie sowieso schlafen. »Mach dir keine Sorgen, Grace. Sienna kann bei dir niemals nein sagen. Sie liebt dich!«
»Woher der Sinneswandel? Ich dachte, du hast auch Zweifel?«
»Ich weiß es einfach.« Ich seufze und kann Tyreeses Worten nicht so recht glauben. »Ich hoffe, du hast Recht.« In diesem Moment öffnet sich die Tür und ein Mädchen erscheint im Türrahmen. Mir fallen sofort die ozeanblauen Haare auf. »Hailey?« frage ich lachend und wir fallen uns in die Arme. »Du und bunte Haare?« Als wir uns voneinander lösen, mustere ich sie noch einmal.
»Ja, ich wollte Veränderung. Die braunen Haare haben mich gelangweilt«, antwortet meine Cousine grinsend. Ich schüttle meinen Kopf und lächle. »Steht dir gut!« Ein Schatten taucht hinter ihr auf und ich erkenne ihre Mutter. »Grace, ich freue mich.« Auch Sienna umarmt mich und eine ihrer blonden, wilden Locken kitzelt mich an der Nase. Erst dann wenden sich die beiden dem hinter mir stehenden Tyreese zu. Nachdem sie sich kurz begrüßt haben, bittet uns meine Tante nach drinnen.
Die Atmosphäre ist etwas seltsam und ungewohnt. Als wir im Wohnzimmer sitzen und ich mich erst mal umschaue, fragt Hailey, ob wir etwas zu trinken möchten. Tyreese und ich antworten beide gleichzeitig mit »nein, danke«. Wir werfen uns einen kurzen Blick zu und in diesem Augenblick betreten Paul und Ethan den Raum. Begrüßungen folgen und schließlich sitzen Tyreese und ich gegenüber meiner vierköpfigen Familie. Meine Mutter, die eigentlich auch hier wohnt, ist nicht hier, da sie seit ungefähr einem Jahr ihre neue Leidenschaft entdeckt hat: Reisen und fotografieren. Sie muss ziemlich gut in ihrem Hobby sein, da sie es zu ihrem Beruf machen konnte. »Wie geht es dir in der Arbeit? Alles okay?«
»Ja, ich bin sehr zufrieden. Letzte Woche haben wir wieder neue Buchlieferungen reinbekommen. Das macht das Ganze interessanter.«
»Und Tyreese? Was arbeitest du eigentlich? Ich muss gestehen, ich kann mich nicht mehr so genau an damals erinnern...«, wendet sich meine Tante an den nervösen Mann neben mir. Ich erinnere mich an die Enttäuschung, die meine gesamte Familie verspürt hat, nachdem mich Tyreese einfach im Stich gelassen hat. Sie fühlten damals extrem mit mir mit. Meine Zweifel, dass sie ihm das weiterhin anhängen und nachtragen, kommen zurück. Ich habe ihm eine zweite Chance gegeben und vertraue ihm. Tyreese räuspert sich und scheint nach den richtigen Worten zu suchen. »Ich studiere Architektur und arbeite nebenbei bei einem Architekten.«
Nach einigen weiteren Fragen, Antworten und Informationen scheint es Sienna nicht mehr auszuhalten. »Nun sagt schon ihr zwei, wieso seid ihr hier?«
Tyreese und ich werfen uns einen Blick zu und mein Körper spannt sich an. »Wie du siehst, fällt es uns nicht sehr leicht...«, murmle ich. Tyreese richtet sich ein wenig auf und ich merke, dass er den Drang zu husten unterdrückt. »Äh, Sienna, würdest du uns doch etwas zu trinken bringen, bitte? Wasser wäre toll.« Sie nickt und verschwindet in die danebenliegende Küche. Dadurch entsteht Wirbel und Ethan verlässt ebenfalls das Zimmer. Hailey läuft ihrer Mutter nach und Paul verabschiedet sich kurz. Etwas perplex starre ich meiner Familie hinterher. Was war das denn? »Alles okay?«, frage ich Tyreese besorgt. Er nickt und schmunzelt. Ich sehe in seine blauen Augen und versuche herauszufinden, ob er die Wahrheit sagt. Wasser fließt im Nebenzimmer. »Ich krieg' das hin. Ich brauche nur ein bisschen, aber ich schaffe es. Für dich«, sage ich leise. Seine Mundwinkel wandern ein Stückchen nach oben. »Danke«, flüstert er zurück. Schritte werden lauter und Sienna stellt zwei Gläser auf den niedrigen Holztisch vor uns. »Vielen Dank.« Wir haben schon wieder dieselben Worte zum gleichen Zeitpunkt gesagt. Inzwischen finde ich es irgendwie gruselig, dass Tyreese und ich heute ständig synchron antworten. Seine kratzende Kehle scheint sich durch die Flüssigkeit zu beruhigen. »Wo sind denn nun alle hin?«, fragt Sienna mit gerunzelter Stirn. Ihre Tochter betritt das Wohnzimmer und gesellt sich zu uns. »Hailey-Schatz, kannst du bitte deinen Vater rufen?« Diese nickt und kehrt wieder um. Einige Sekunden später höre ich, wie sie nach Paul ruft. Dieser antwortet, dass er gleich da ist. »Sollen wir noch warten?«, erkundige ich mich zögernd, doch da hört man auch schon die Holztreppen und mein Onkel kommt in den Raum. »Sorry, jetzt habe ich Zeit«, gibt er von sich und nimmt seinen Platz auf dem Sofa gegenüber von Tyreese und mir wieder ein.
»Ich werde euch jetzt den Grund für unser Kommen berichten«, beginne ich und muss mich nach diesem Satz räuspern. »Tyreese und ich haben bereits einiges durchgemacht, seit wir uns wieder getroffen haben. Ihr denkt euch jetzt wahrscheinlich, dass er meine Aufmerksamkeit nicht verdient hat, jedoch bin ich da anderer Meinung. Ihr werdet mich in Kürze besser verstehen.« Ich mache eine Pause, in der ich noch einmal schlucke. Ich hasse es, andauernd die schlechte Nachricht von Tyreese überbringen zu müssen. Als hätte er meine Gedanken gelesen, beginnt er plötzlich selbst zu sprechen: »Ich fühle mich verdammt schlecht, einfach hier aufzutauchen und um einen Gefallen zu bitten. Würden es die Umstände erlauben, hätte ich jede andere Möglichkeit in Erwägung gezogen, aber leider scheint das nun der einzige Lösungsweg zu sein. Ich habe Krebs im Endstadium und–« Seine Stimme bricht ab; er räuspert sich erneut. Sienna ist sehr nahe am Wasser gebaut. Das habe ich schon in meiner Kindheit gemerkt und jetzt erinnere ich mich wieder daran. Ihre rechte Hand berührt ihr Kinn und ich bin mir sicher, es wird garantiert nicht lange dauern, bis sie zu weinen beginnt.
»I-Ich habe zwei Kinder, die vier und fünf Jahre alt sind und habe Grace gefragt, ob sie die beiden aufnehmen möchte, wenn ich nicht mehr da bin. Ich kann verstehen, dass sie das alleine nicht schaffen kann und ich verlange eigentlich viel zu viel von ihr. Aus diesem Grund sind wir zu euch gekommen – womöglich helft ihr uns. Vielleicht nicht unbedingt mir, aber eurer Nichte und zwei hilflosen Kleinkindern.« Sienna starrt auf den Tisch vor uns.
»Was ist mit der Mutter der Kinder?«, will Paul wissen. Tyreese zögert. »Wir haben uns getrennt, weil sie sich kurz vor unserer Hochzeit einen Seitensprung erlaubt hat...« Paul schnaubt und wendet seinen Blick ab. »Und wieso möchte sie nichts mit ihren eigenen Kindern zu tun haben?«
Ich merke, dass ihm das Thema äußerst unangenehm zu sein scheint. »Wir haben damals... beschlossen, dass es besser ist, wenn ich das Sorgerecht übernehme. Durch einen Zwischenfall, auf den ich nicht näher eingehen möchte, hat sich schlussendlich ergeben, dass meine Kinder keinen Kontakt mehr zu ihrer Mutter haben dürfen.« Dieser Punkt ist selbst mir neu. Ich würde so gerne nachfragen, was damals Schlimmes vorgefallen ist, aber ich traue mich nicht. Schon gar nicht vor Sienna und Paul. »Also passieren nicht nur Grace schreckliche Dinge, was?«, antwortet Letzterer. »Paul!«, ruft Sienna sichtlich empört.
»Ihr glaubt doch nicht ernsthaft, dass er einfach so hier einziehen kann mit seinen Kindern, die nicht mal von dir sind, Grace! Ich würde vielleicht zustimmen, wenn das zutreffen würde, aber in dieser Situation... Also ich weiß ja nicht. Schatz, was sagst du?« Er wendet sich an seine Frau, doch diese zuckt nur mit den Schultern. »Wenn es der Wunsch von Grace ist...« Paul schnaubt ein zweites Mal und mustert Tyreese mit einem strengen Blick. »Meine Antwort ist nein. Wir sind kein Hospiz.« Mein Magen fühlt sich an, als hätte man ihn drei Stunden lang durchgeprügelt. »Gut, dann ist das ja geklärt«, murmelt Tyreese und erhebt sich. »Danke für das Wasser und die genommene Zeit.« Als er den Raum verlässt und ich blöd dasitze, bin ich hin- und hergerissen. Auf der einen Seite will ich Paul anschreien und ihm zeigen, dass Tyreese jede Hilfe benötigt, die er kriegen kann, doch auf der anderen Seite kann ich seine Reaktion total nachvollziehen. Meine Familie liebt mich wirklich und hatte damals teilweise sogar mehr Wut auf ihn als ich. »Es tut mir leid, Grace. Ich bin mir selbst nicht sicher, was ich davon halten soll. Wir können und wollen ihm einfach nicht mehr vertrauen«, erklärt Sienna. Ich nicke. »Schon gut. Verständlich. Ich gehe dann... Trotzdem danke.« Im Eingangsbereich ziehe ich meine Schuhe und meine Jacke an und umarme dann meine Tante zum Abschied.
»Viel Glück mit ihm und bitte, Grace...« Sie legt ihre Hände auf meine Oberarme. »Bitte pass auf dich auf.« Ich sehe ihr einige Sekunden in die Augen, bis ich mich schließlich abwende und das Haus verlasse. Ich muss mir wohl oder übel einen anderen Weg suchen; so ungewiss er auch sein mag.
Die Autofahrt verläuft schweigend. Tyreese scheint wütend zu sein und ich kann mir seine Reaktion irgendwie nicht so recht erklären. Natürlich sind wir beide enttäuscht und haben Besseres erwartet, aber es ist doch nicht zu ändern...
Als wir bei meiner Wohnung ankommen, läuft er die Treppen hoch und sperrt sich dann in mein Schlafzimmer ein. Kurz darauf höre ich etwas zu Boden fallen und es folgt lautes Fluchen. Ich bin etwas sprachlos. Ashley und Robin sind verwirrt und fragen, was mit Papa los ist. Ich schicke sie ins Wohnzimmer und stelle den Katzenkorb im Flur ab. »Na, Shila? Du bist bestimmt froh, wieder zu Hause zu sein.« Die Tür des Behälters springt auf und die gestreifte Katze stürmt laut miauend heraus. Auf einmal kommt mir unsere Idee, spontan zu meiner Tante und meiner Mutter zu ziehen, blöd vor. Was haben wir uns eigentlich gedacht? Wieso sollten wir einfach antanzen können, wie es uns gerade gefällt? Ich schüttle den Kopf und beschließe, Tyreese erst einmal alleine zu lassen. Stattdessen widme ich mich den Kindern und rufe Ava an, um ihr das Neueste zu berichten.
Als der Abend schon längst angebrochen ist und Ash und Rob langsam müde werden, wage ich es doch, bei Tyreese anzuklopfen. Ich bin verwundert, als ich höre, wie sich der Schlüssel im Schloss umdreht. Einen Atemzug später stehen wir uns gegenüber. »Brauchst du was?« Er runzelt seine Stirn und scheint zu bemerken, dass er gerade in meinem Zimmer eingeschlossen ist. »Fuck, das ist dein Schlafzimmer, ich weiß schon«, murrt er.
»Die Kinder sind müde«, beginne ich vorsichtig und versuche herauszufinden, was er vorhin so lautstark ruiniert hat. Er nickt und antwortet: »Ja... Ja sicher.« Ich rufe nach Ashley und ihrem Bruder, die bereits Zähne geputzt haben und sich nur noch umziehen müssen. Als ich mit ihnen gemeinsam mein Zimmer betrete, fällt mir sofort eine Veränderung auf. »Was hast du vor?« Ich schaue mich weiter um. Eine große Tasche und ein Rucksack liegen auf dem Bett. »Tyreese, was soll das?« Meine Stimme wird von einem leichten Zittern begleitet und ich weiß nicht, was ich denken soll. »Wir haben inzwischen schon so oft davon gesprochen, Grace. Ich habe dir zu viel zugemutet und jetzt werde ich dir dein altes Leben zurückgeben. Die Sache ist doch total einfach.«
Erneut entgleiten mir alle Gesichtszüge. Ich muss zugeben, er hat Recht, dass wir dieses Thema schon so oft durchgekaut haben, doch er scheint es immer noch nicht kapiert zu haben, dass er mich nicht mehr los wird. »Ich habe es genauso satt wie du, Tyreese. Die Sache ist nicht einfach und ich habe dir schon gefühlt tausendmal gesagt, dass wir das gemeinsam durchstehen!«
»Was denn? Willst du ein Hospiz für mich aufmachen, wie es dein Onkel so schön formuliert hat?!«
»Ich kann nichts dafür, was Paul gesagt hat. Ich fand es auch nicht in Ordnung, aber willst du wirklich alleine sein, wenn dein Herz stehen bleibt?!« Unsere Stimmen werden immer lauter. »Vielleicht ist es besser so, dann habe ich wenigstens meine Ruhe!«
»Ach, so ist das also? Du nutzt mich wieder einmal aus? Heute weiß ich wenigstens, dass ich bei dir aufpassen muss und ich werde bestimmt nicht hilflos herumsitzen und wochenlang heulen, weil ich nicht mehr weiß, wie ein Leben ohne Mann an der Seite funktioniert!«
»Komm jetzt bloß nicht mit den alten Sachen an! Wir wissen beide, dass ich einen Fehler gemacht habe, doch wie du selbst immer sagst, kann man es nicht rückgängig machen!« Er kneift seine Augen zusammen und mustert mich wütend. »Wenn du es so gut weißt, warum bist du dann überhaupt hier aufgetaucht?«
»Das frage ich mich ehrlich gesagt schon lange, denn gebracht hast du mir nichts außer Stress!«
Die Antwort meinerseits ist einfach ein wütender Aufschrei. Ich stürme an ihm vorbei und zur Tür hinaus. Mir wurde gerade in Erinnerung gerufen, warum es damals nicht mehr geklappt hat zwischen uns. Wenn es ums Streiten geht, sind wir beide einfach nur komplett stur. Ich höre Robin weinen und seinen Vater verzweifelt fluchen. Kurz darauf ertönt ein Schluchzer und ich weiß, dass er von Tyreese stammt. Ich lehne an der Wand im Flur und versuche meinen Atem wieder in den Griff zu bekommen. »Dad? Nicht weinen!«, ruft Ashley traurig. Ich rutsche hinab, bis ich auf dem Boden lande und vergrabe mein Gesicht in den Händen. Ich muss beinahe lachen, als ich realisiere, wie filmreif diese idiotische Szene gerade gewesen sein muss. »Tut mir leid, Prinzessin«, murmelt Tyreese. Ich stehe erschöpft auf und schirme mich von den dreien ab. Gemeinsam mit Shila setze ich mich im Wohnzimmer auf das Sofa und frage mich, wie die Situation derart eskalieren konnte.
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