Tag 51

Grace

Als ich an die weiße Tür klopfe, beginnt mein Herz schneller zu schlagen. Ich atme tief ein und aus. Heute Morgen beim Frühstück hat mich Tyreese persönlich angerufen und mir erzählt, dass er aus dem Krankenhaus entlassen wird, weil die Ärzte meinen, er sei wieder halbwegs auf den Beinen. Ich wollte ihm nicht so recht Glauben schenken und fragte dreimal nach, doch er beharrte darauf, ihn gleich heute Abend abholen zu kommen. Jetzt stehe ich also vor seiner Zimmertür und kann es nicht fassen. Ich drücke die Tür auf und sehe kurz darauf in ein strahlendes Gesicht. »Gracy!« Tyreese kommt auf mich zu und umarmt mich glücklich. »Wow«, bringe ich hervor und lache. »Das ist ja mal eine Begrüßung!« Wir lösen uns voneinander und er sieht mir einfach nur in die Augen, während seine Hände langsam meine Oberarme hinuntergleiten. »Ich bin frei!«, flüstert er. Kurz darauf schließt er die Arme wieder um mich und ich kann nicht klar denken. Passiert das hier gerade wirklich?

»Hast du deinen Port bereits entfernen lassen?« »Ja, schon heute Morgen. Es ist so schön, endlich keine Substanzen mehr eingeflößt zu bekommen!« Das Dauergrinsen will einfach nicht mehr von Tyreeses Lippen weichen, doch ich traue ihm irgendwie trotzdem nicht so ganz. Wie kann es sein, dass er vor vier Tagen noch krank im Bett liegen musste und jetzt auf einmal nach Hause darf? Für den Moment glaube ich ihm, denn die Vorstellung, seine Worte könnten stimmen, ist einfach zu schön. Ich helfe Tyreese beim Einladen seiner Taschen ins Auto und beim Verlassen des Krankenhausgeländes bemerke ich, wie er einen Blick zurückwirft. »Endlich«, murmelt er. »Mir kommt's so vor, als wäre ich aus dem Gefängnis entlassen worden.«

»Daddy!«, rufen Robin und Ashley und stürmen auf ihn zu. Ava und die Kinder haben während meiner Abwesenheit einen Streuselkuchen gebacken, den man bereits im Treppenhaus vor meiner Wohnung riechen kann. Der Tisch ist schnell gedeckt und wir setzen uns zum ersten Mal alle gemeinsam an einen Tisch. »Ich bin euch zweien so unendlich dankbar dafür, dass ihr euch um meine Kinder gekümmert habt«, wendet sich Tyreese an Av und mich. Wir lächeln beide und verteilen Kuchen auf die Teller. »Ist doch klar, wie hätten wir dich denn im Stich lassen können?«, antwortet meine Schwester. Ich nehme einen Schluck meines Kaffees und beobachte Ash, die Rob gerade nervt, indem sie an seinen Haaren zieht. Dieser wirft ihr nur einen wütenden Blick zu, woraufhin sie sich abwendet. Der Kuchen ist sowieso viel interessanter. »Was hast du jetzt vor?«, frage ich Tyreese. Er zuckt mit den Schultern.
»Ich denke, ich kann Ashley und Robin nicht antun, dich nie wieder zu sehen, oder? Sie lieben dich!« Er lächelt leicht. Sein Blick ruht auf den zwei Kindern und ich sehe ihm an, wie stolz er auf sie ist. »Ist es möglich, dass sie dich in Zukunft sehen?« Ich nicke langsam. Er kommt mir unsicher vor und in mir taucht das Gefühl auf, dass er mir irgendetwas vorspielt. Er denkt, er kann mich belügen, doch so wird das nichts. Ich kenne ihn. Er kann absolut nicht lügen, doch ich beschließe, noch etwas zu warten und mit ihm zu reden, wenn wir alleine sind.

Ava fährt eine Stunde später nach Hause und Tyreese schläft heute Nacht bei mir. Ich auf dem Sofa und er mit Ash und Rob in meinem Zimmer. Ich muss erwähnen, dass sich Tyreese anfangs gesträubt hat, mir nur die Couch zu überlassen, doch das Bett gehört inzwischen einfach den Kindern. Als es schon lange nach Mitternacht ist und ich noch immer wach liege, höre ich, wie die Tür zu meinem Schlafzimmer aufgeht. Shila, die auf meinem Bauch liegt und bisher leise vor sich hingeschnurrt hat, hebt ihr Köpfchen und spitzt die Ohren. Manchmal kommt sie mir vor wie ein gefährlicher Wachhund, der mich in jeder Situation beschützen würde, doch sie ist nur ein kleines Kätzchen, das tollpatschig herumtapst und eine so hohe Stimme wie eine Maus besitzt. Ich liebe sie genau wegen diesen Merkmalen so sehr. Ein Schatten taucht im Türrahmen auf und meine Katze springt vom Sofa hinunter auf den Boden. Sie maunzt ganz leise. »Shila!«, flüstert eine männliche Stimme. »Ich bin's nur. Ich fasse es nicht, dass ich mit einem Tier rede.«
»Tyreese? Was machst du hier?« Ich setze mich auf und knipse die alte, dunkelrote Stehlampe an. »Scheiße, ich wollte dich nicht wecken. Tut mir leid. Dein Haustier ist schuld.« Ich schlage die Decke zurück, stehe auf und gehe auf Tyreese zu. Ich verschränke die Arme vor der Brust und in diesem Moment fällt mir ein, dass ich keinen BH trage, da ich mich nachts einfach nicht eingeengt fühlen möchte. Eigentlich müsste es mir egal sein, da wir früher immerhin ein Paar waren, aber irgendwie ist es mir trotzdem unangenehm. »Kannst du nicht schlafen?«
»Ne, in der ersten Nacht woanders kann ich das nie.« Ich nicke und frage mich selbst in Gedanken, wie ich diesen Punkt vergessen konnte. »Willst du Tee?«, biete ich ihm an, da ich mir allmählich blöd vorkomme. »Wäre nett, ja.« Der Wasserkocher brodelt friedlich vor sich hin, als es langsam peinlich wird und ich das Schweigen nicht mehr aushalte. »Du hast mich heute angelogen.« Tyreese scheint überrascht zu sein. Er lehnt sich gegen die Anrichte und versucht nicht einmal, mich ein weiteres Mal vom Gegenteil zu überzeugen. »Sagst du mir jetzt die Wahrheit?« Das blaue Licht des Wasserkochers schaltet sich ab und der Inhalt sprudelt laut. Ich befülle zwei Tassen und hänge jeweils einen Teebeutel hinein. »Ich... Es ist nicht einfach und du wirst es nicht verstehen.« Das ist seine Begründung? Nicht sein Ernst.
»Tyreese, reiß dich zusammen. Du kannst mir jetzt nicht erzählen, dass ich dich nicht verstehen werde. Habe ich dich jemals enttäuscht, seit du krank wurdest? Komm schon, denk noch einmal darüber nach. Ich lasse dir auch Zeit, aber dir bleibt wohl oder übel nichts anderes übrig.« Ich halte ihm seine Teetasse vor die Nase. Als wir im Wohnzimmer sind, lassen wir uns auf der Couch nieder und ich werfe ihm einen fragenden Blick zu.
»Du wirst sauer auf mich sein, aber es war und ist meine Entscheidung, die ich getroffen habe nach über einem Monat im Krankenhaus. Es ist vielleicht keine lange Zeit für andere, aber ich habe es dort nicht mehr ausgehalten. Weißt du; Patrick ist wieder gesund. Naja, er wird es zumindest. Er wird wirklich entlassen. Ich habe lediglich... die Therapie abgebrochen.« Ich staune nicht schlecht. In meinem Magen breitet sich erneut ein verdammt scheußliches Gefühl aus und ich muss meinen Blick abwenden. Ich beschließe, am besten einfach zu schweigen. »Möchtest du nichts dazu sagen? Mich anschreien?« Ich schüttle nur meinen Kopf, stehe auf und gehe in die Küche. Ich weiß nicht, ob ich es noch länger schaffe, ständig mit solchen Neuigkeiten konfrontiert zu werden. Ich höre, dass mir Tyreese folgt. »Es tut mir leid, Gracy.« Ich kann es nicht verhindern, dass kurz darauf Tränen meine Wangen hinuntertropfen. Ein Schluchzer entfährt mir. Ich presse meine linke Hand gegen meinen Mund und versuche, meine Emotionen irgendwie in den Griff zu bekommen. »Grace...« Tyreese streift meinen Körper. Er legt seine Hände auf meine Taille und zieht mich zu sich. Es dauert ein wenig, doch schließlich lege ich meinen Kopf in seine Halsbeuge und weine still vor mich hin. Ich schließe die Augen und lasse die heißen Tränen einfach fließen. Vielleicht brauche ich das ja? »Es ist noch nicht vorbei, Gracy. Weißt du warum? Weil es jetzt gerade, in diesem Augenblick, erst beginnt.« Wie gerne würde ich ihm glauben. Doch wir wissen beide, wie diese Geschichte enden wird. Ich atme zitternd aus. »Du hast mir damals versprochen, niemals zu gehen«, flüstere ich mit brüchiger Stimme.
»Ich weiß! Und ich würde es dir jetzt auch so gerne versprechen, wenn ich nur könnte.«
»Wieso bist du dann hier? Warum liegst du nicht in deinem Krankenzimmer und lässt dir Medikamente geben?! Ich will, dass du gesund wirst! Wir haben so oft darüber gesprochen, dass du es durchziehen wirst! Dass du nicht aufgibst, weil du deine Kinder nicht alleine lassen kannst! Weil du mich nicht alleine lassen kannst.« Er drückt mich ein Stück von sich weg und sucht meinen Blick. Das schwache Licht der Stehlampe im Wohnzimmer wirft Schatten auf sein Gesicht. Plötzlich nähert er sich mir und kurz darauf spüre ich seine Lippen auf den meinen. Ich bin wie gelähmt und Bilder von früher schießen mir durch den Kopf. Unser erster Kuss. Dieser hier fühlt sich genau so an; bloß noch schöner. Sanfter. Vorsichtiger. Als er sich von mir löst, sagt er: »Ich werde dich verlassen müssen, aber niemals vergessen.« Seine Stimme klingt entschlossen und ich bin auf einmal viel ruhiger. Langsam nicke ich. »Okay. Ich vertraue dir.« 

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