Tag 43

Tyreese

Vielleicht hätte ich doch nicht zu dieser Infoveranstaltung für Krebspatienten gehen sollen –immerhin bringt es mir nicht viel. Um genau zu sein gar nichts. Ich weiß jetzt Dinge über meine Krankheit, die ich niemals im Leben wissen wollte. Ich möchte mir nicht vorstellen müssen, wie die Metastasen und Gewächse meine Organe befallen und zerstückeln. Ich liege in meinem Bett und hoffe, dass Laura bald mit den Schmerzmitteln kommt. Der zweite Zyklus der Chemotherapie hat heute Morgen begonnen und die ersten zwei Stunden nach der Chemo habe ich damit verbracht, erst einmal ausgiebig zu kotzen, bis mein Magen komplett leer war. Jetzt liege ich hundemüde im Bett und warte.

»Guten Tag, Mr. McLane und Mr. Nickels. Hier ist Ihr Mittagessen. Mr. McLane, Sie bekommen eine Dosis Schmerzmittel, richtig?« Die Krankenschwester, die soeben das Zimmer betreten hat, ist mir fremd. »Entschuldigung, darf ich fragen, wo Schwester Laura ist?«, wende ich mich an die stämmige, schon etwas ältere Krankenpflegerin.
»Ich bin für sie eingesprungen, da sie sich krankgemeldet hat. Würden Sie bitte ihren Arm freimachen?« Ich gehorche und lasse es über mich ergehen. Als die Medizin nach einigen Minuten zu wirken beginnt, atme ich erleichtert auf. Ich hätte nie im Leben gedacht, dass ich mich jemals derart über Schmerzmittel freuen würde.
»Du bist in diese Grace verknallt, richtig?« Mein Körper verkrampft sich automatisch und ich frage mich, ob Patrick schon jemals etwas von Einfühlvermögen und richtigem Timing gehört hat. »Wie kommst du darauf?«
»Es ist nicht zu übersehen. Alleine wie du sie anschaust, sagt alles. Sie hat mir gesagt, dass ihr nur Freunde seid. Stimmt das?« Ich seufze.
»Das hat doch sowieso keinen Sinn«, erwidere ich lahm und weiß, dass Patty nicht mehr locker lassen wird. Als er zwei Minuten später immer noch in mein Gesicht starrt, gebe ich schließlich nach.
»Gut, ich hab's kapiert!« Auf Patricks Gesicht erscheint ein stolzes Grinsen. »Ich kenne Grace seit meiner Kindheit. Das erste Mal begegneten wir uns im Schulbus und wir haben anfangs nicht miteinander gesprochen. Nach und nach wurden wir echt gute Freunde. Genauer gesagt war sie meine einzige Rettung vor den anderen Kindern und wir haben alles zusammen gemacht. Bevor sie kam, wusste ich nicht, was Freundschaft bedeutet und sie ebenfalls nicht, da wir beide eine beschissene Kindheit hatten. Gracy lebte im Waisenhaus, bis sie adoptiert wurde. Ab diesem Zeitpunkt wurde sie sehr verwöhnt und ihr Leben... nun ja, wie sie es einmal geschildert hat, war fast perfekt. Meine Story kennst du ja. Später wurde dann eine Beziehung daraus und wir waren drei Jahre zusammen, wobei wir uns nach zwei Jahren verlobt haben.«
»Das klingt nicht schlecht bis hierhin«, meint Patty lächelnd. »Erzähl weiter! Wir haben noch den ganzen Tag Zeit.«
Beim Gedanken an die nächsten Sätze, die sich in meinem Kopf zusammenreimen, wird mir übel. »Jetzt kommt der Teil, über den ich nicht gerne rede. Ich habe damals einen großen Fehler begangen...« Gefühle und Gedanken kommen wieder hoch und ich muss eine kurze Pause einlegen. Ich denke daran, wie ich es Grace einst gesagt habe. Nein, ich habe es ihr eigentlich gar nicht mitgeteilt. Ich war ein Arschloch. »Ich bin einfach abgehauen und habe mich nie wieder bei Gracy gemeldet.« Die Knöchel treten weiß auf meinem Handrücken hervor, als ich krampfhaft den Saum der Bettdecke umfasse. »Wieso, Tyreese?«
»Ich... Ich weiß auch nicht so genau. Ich denke, ich kam damals...« Ich stocke. Ich kann nicht mehr weitererzählen, denn meine Kehle fühlt sich plötzlich so eng und ausgetrocknet an. Ich bedeute meinem Bettnachbarn mit einem Handzeichen, dass ich eine Pause brauche. Neben mir liegt die Beatmungsmaske, die ich mir nehme und anschließend über meinen Mund und meine Nase lege. Als ich mich einigermaßen sicher fühle, falle ich in einen unruhigen Schlaf.

Als ich zwei Stunden später wieder aufwache, erhalte ich die Nachricht, dass ich zu einem Gespräch mit dem Oberarzt muss. Ich habe keine Ahnung, was mich erwartet und ich stelle mich auf eine unnötige Unterhaltung ein. Als sich mein Kreislauf nach einigen Minuten beruhigt hat, gebe ich Patrick Bescheid und mache mich dann auf den Weg zu Mr. Davies' Büro. Als ich vor der weißen Tür stehe, werde ich doch ein wenig nervös. Ich atme ein paar Mal tief ein und aus und klopfe dann an. Ich vernehme ein leises »herein« und betrete das kleine Zimmer.
»Guten Tag, Mr. McLane«, begrüßt mich der Arzt lächelnd. Er trägt so wie jeden Tag seinen weißen Kittel und erst jetzt fällt mir auf, dass er einen Ring am Finger hat. Ich bin verwundert und überlege, wieso mir das noch nie aufgefallen ist. Vielleicht hat er ja erst vor kurzem geheiratet? Seine dunkelbraunen Haare sind lässig zurückgegelt, was ihn auf irgendeine Art und Weise sehr jung wirken lässt. Älter als dreißig ist er sowieso bestimmt nicht.
»Bitte setzen Sie sich«, sagt er und deutet auf die zwei Stühle vor seinem Schreibtisch. Als ich mich gesetzt habe, wische ich unauffällig meine schwitzigen Hände an meiner Jogginghose ab. »Sie wollten mich sprechen?«, beginne ich, um mich selbst von meiner Aufregung und Unsicherheit abzulenken.
»Richtig. Es geht um Ihre Behandlung.« Mr. Davies räuspert sich und kramt in meiner Akte herum. »Wir haben vor vier Wochen mit Ihrer Chemotherapie begonnen und Sie vertragen Sie ganz gut, jedoch habe ich mir Ihre jüngsten Untersuchungsergebnisse angesehen und ich muss Ihnen leider mitteilen, dass die derzeitige Zusammensetzung der Medikation bei Ihnen nicht mehr anschlägt. Die Metastasen haben die Lunge fest im Griff, was im Moment wohl das größte Problem ist, ganz abgesehen von der Bauchspeicheldrüse und der Leber.«
Mr. Davies gibt mir einige Sekunden, damit ich die Infos verarbeiten kann. »Das... Das ist doch die gleiche Zusammensetzung wie vor einem Jahr, als ich schon mal hier war, oder?« Und damals hat sie angeschlagen, sonst wäre ich nicht entlassen worden. »Ja, es ist exakt die Gleiche. Unsere Vermutung ist, dass Sie resistent gegen diese Therapie geworden sind. Das passiert leider oft. Aus diesem Grund frage ich Sie, ob wir eine andere Chemotherapie versuchen sollen?« Der Arzt sucht etwas, greift schließlich nach einem Stift und streicht etwas auf einem der Papiere durch. »Das Problem ist, dass wir im Vorhinein nicht sagen können, ob diese Medikation dann anschlägt.«
»Und wenn sie dies nicht tut?«, frage ich und mein Hals wird von Sekunde zu Sekunde trockener.
»Es kommt darauf an, ob sich die Krebszellen auf weitere Organe ausbreiten. Wie es derzeit aussieht, tun sie das, doch wie bereits erwähnt, kann ich im Vorhinein nicht sagen, ob die andere Variante der Therapie helfen wird. Wir können es nur versuchen.« Ich schlucke schwer und habe keine Ahnung, was ich tun soll. »Gibt es dann noch eine dritte Option?« Ich habe Angst vor der Antwort und würde am liebsten aufspringen und aus dem Zimmer sprinten. »Wir könnten theoretisch endlos verschiedene Methoden der Behandlung ausprobieren, aber irgendwann wird Ihr Körper das nicht mehr mitmachen.« Mir ist klar, was Mr. Davies meint. Die Chemotherapie verursacht so viele Nebenwirkungen, dass mein Körper sowieso irgendwann nicht mehr kann und will. Haarausfall, Durchfall, Erbrechen und so weiter.
»Also sinken meine Heilungschancen so gesehen von Tag zu Tag?« Ich weiß, dass es so ist.
»Ich würde vorschlagen, dass wir eine zweite Therapie starten und erstmal abwarten.« Natürlich, er gibt mir kein klares Ja oder Nein. Die Lust auf dieses Gespräch ist mir nun endgültig vergangen und ich möchte so schnell wie möglich aus diesem Raum flüchten. Ich stimme dem Arzt für eine zweite Behandlung zu, doch in meinen Gedanken habe ich bereits eine ganz andere Entscheidung getroffen.

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