Tag 40

Grace

Ein Tropfen. Zwei Tropfen. Drei Tropfen. Langsam rinnt die Flüssigkeit durch den durchsichtigen Schlauch in Tyreeses Arm und verbreitet sich in seinem Körper. Die Maske über seinem Gesicht beschlägt jedes Mal, wenn er ausatmet und so weiß ich wenigstens, dass er gleichmäßig Luft holt. Ich sitze auf einem der weißen Stühle, den ich mir ans Bett herangezogen habe und spüre einen unangenehmen Schmerz im Rücken. Ich befinde mich hier schon seit Stunden und hoffe, dass Tyreese endlich die Augen aufschlägt und mir mitteilt, er habe das alles nur geschauspielert.
»Wollen Sie nicht langsam nach Hause gehen, oder zumindest ein wenig schlafen? Was ist mit Ihren Kindern?«, höre ich eine Stimme. Sie stammt von Patrick. Ich habe gar nicht mitbekommen, dass er aufgewacht ist. Ich schüttle den Kopf und habe Mühe, meine Augen offen zu halten.
»Ich kann Sie verstehen, wenn Sie nicht von der Seite ihres –«
»Ein Freund. Er ist ein Freund von mir«, unterbreche ich ihn.
»Es ist natürlich verständlich, dass Sie nicht von der Seite ihres Freundes weichen wollen, aber sie kommen noch um wegen Schlafmangel. Bitte gehen Sie heim und kommen morgen wieder. Tyreese ist in guten Händen. Zusätzlich hat er auch noch mich.« Ich schließe meine Augen und kann mich nicht entscheiden, was ich tun soll. Wird es mir doch zu viel? Verkrafte ich es doch nicht, zu sehen, wie sich Tyreese langsam aber sicher dem Tod nähert? Ich seufze und stehe schließlich auf. »Sie haben Recht.« Es hat sowieso keinen Sinn, noch weitere unendliche Stunden hier zu sitzen. Ich nehme meine Jacke und den flauschigen Wollschal und werfe einen letzten Blick auf den schlafenden Tyreese.
»Auf Wiedersehen, Patrick.«

Als ich in meinem Auto sitze und an einer roten Ampel halte, schlafe ich vor Müdigkeit beinahe ein. Ich fühle mich, als wäre ich in einem Film. Ich bin die ganze Nacht im Krankenhaus gewesen, weil ich gehofft habe, Tyreese würde aufwachen. Immer wieder spielt sich die Szene in der Cafeteria vor meinem inneren Auge ab und mir wird speiübel. Die Hände, die er gegen seinen Brustkorb presst. Seine kaputte Lunge, die nach Atem ringt und die tränenden Augen. Das Blut an seinem Kinn, das langsam auf den Boden tropft... Ich lasse die Fensterscheibe auf meiner Seite runter, in der Hoffnung, etwas frische Luft würde mir helfen. Dann konzentriere ich mich, so gut es geht, wieder auf die Straße und bin froh, als ich endlich in die letzte Straße einbiege. Vollkommen neben der Spur schlurfe ich zur Haustür und schleppe mich die zwei Stockwerke hinauf. Ich schaffe es noch, meine Wohnungstür aufzuschließen, meinen Weg ins Wohnzimmer fortzusetzen und bevor ich noch einen einzigen Gedanken fassen kann, schlafe ich ein.

Es ist hell. Zu hell. Die Sonne blendet mich und ich höre leises Miauen. Kurz darauf kitzelt mich etwas Weiches unter der Nase. Ich strecke meine Hand aus und gleite langsam durch Shilas Fell. Sie dreht sich um die eigene Achse, geht ein paar Schritte und lässt sich dann ganz nah an mich geschmiegt nieder. Erst dann öffne ich meine Augen und es dauert einige Sekunden, bis ich mich an das Licht gewöhne. Ich entdecke Ava, die in meinem Schaukelstuhl gegenüber der Couch sitzt. Ihr Kopf ist nach vorne gebeugt und ab und zu schnarcht sie. Ich muss bei den Geräuschen schmunzeln und schließe dann erneut meine Augen.

»Psst! Ihr dürft Grace nicht wecken, sie ist sehr müde.« Kichernde Kinderstimmen. Gläser klirren. Ich bewege mich und spüre, dass die Schmerzen in meinem Rücken noch schlimmer geworden sind. »Graaace?« Ich öffne ein Auge. Ashley steht neben mir und sieht mich mit schiefgelegtem Kopf an. Ein geflochtener Zopf liegt auf ihrer linken Schulter und sie steckt noch in ihrem pinken Pyjama. »Grace! Du bist wach!« Ich drehe mich nach rechts, damit ich sie besser anschauen kann und sage mit krächzender Stimme: »Guten Morgen, Süße.«
Als ich es nach zehn Minuten geschafft habe, aufzustehen, ins Bad zu wanken und meine Zähne zu putzen, kehre ich in die Küche zurück und lasse mich auf einem Sessel nieder. Av, Rob und Ash vertilgen bereits fleißig einige Sandwiches.
»Alles okay?«, fragt meine Schwester. »Du bist gestern sehr spät nach Hause gekommen. Ich habe dich auf dem Sofa gefunden und zugedeckt.«
»Danke«, erwidere ich schwach. »Und ebenfalls danke, dass du dich so lange um die zwei gekümmert hast. Ich wäre verloren ohne dich.« Die beiden Geschwister sind schon wieder mit frühstücken fertig und laufen in der Wohnung herum. »Wie geht's ihm? Ist er aufgewacht, nachdem du angerufen hast?« Ich schüttle meinen Kopf und wende den Blick ab. »Nein, er hat stundenlang einfach nur dagelegen. Ich habe die ganze Zeit bei ihm gesessen, doch er hat sich nicht einen Zentimeter gerührt.« Ava seufzt und gießt sich etwas Kaffee in ihre Tasse. »Melden sie sich bei dir, wenn er wieder ansprechbar ist?«
»Ja. Ich wäre jetzt wahrscheinlich noch immer dort, hätte mich sein Bettnachbar Patrick nicht nach Hause geschickt.«
»Vernünftig von ihm. Du hast es ja nicht einmal mehr geschafft, dich umzuziehen geschweige denn dir die Zähne zu putzen.«
Ich nehme mir schließlich auch eines der Sandwiches und helfe danach Av beim Abspülen.
»Und was steht heute an?« Ich zucke demotiviert mit den Schultern. Ich weiß selbst nicht, was gerade mit mir los ist.
»Im Moment würde ich am liebsten gar nichts machen. Höchstwahrscheinlich fahre ich in ein paar Stunden wieder ins Krankenhaus.«
»Soll ich dich fahren? Ich muss jetzt zwar zur Arbeit, aber nachher kann ich mitkommen, wenn du möchtest.« Ich nehme ihren Vorschlag dankend an und bediene mich ebenfalls am Kaffee. Vielleicht muntert mich dieser ja auf.

Am Nachmittag habe ich mich dann wieder einigermaßen erholt. Ashley, Robin und ich haben uns eine DVD angesehen und danach haben wir ein bisschen mit Shila gespielt. Letztere scheint es ziemlich zu genießen, so im Mittelpunkt zu stehen und ich bin froh, dass sie Kinder zu mögen scheint.
Um halb fünf klingelt mein Handy. Das Krankenhaus teilt mir mit, dass Tyreese wieder ansprechbar ist und ich verspüre sofort eine Erleichterung in mir. »Hey, ihr zwei, wir fahren in einer halben Stunde zu eurem Dad, ist das okay?« Die Kinder nicken beide aufgeregt und wollen sich sofort anziehen. Ungefähr dreißig Minuten später gehen wir zu dritt die Treppen hinunter und warten auf Ava. Als sie kommt, können es Ash und Rob kaum noch erwarten, im Krankenhaus anzukommen.

Bei der Information vorbei, dem gelben Pfeil folgend, laufen die zwei Geschwister voran zum Fahrstuhl. Av ist heute das erste Mal mit und man merkt ihr an, dass sie ein wenig nervös ist.
»Hat er sich sehr stark verändert?«, fragt sie vorsichtig. Ich sehe sie von der Seite an. Die Unsicherheit steht ihr ins Gesicht geschrieben.
»Natürlich ist er dünner geworden und er hat keine Haare mehr, aber er ist immer noch Tyreese. Keine Sorge, du erkennst ihn noch.« Als wir das Zimmer betreten, fällt mir sofort auf, dass Patrick nicht hier ist. Ich verdränge den Gedanken, der mir in den Sinn kommt und begrüße Tyreese.
»Hey, Ava. Es freut mich, dass du heute auch gekommen bist.« Meine Schwester nickt lächelnd. Wir entscheiden, heute lieber nicht die Cafeteria zu besuchen, da wir nicht noch einmal riskieren wollen, Tyreeses Bewusstsein zu verlieren. Ich muss ehrlich zugeben, dass ich ihn schrecklich vermisst habe.
»Wie läuft's im Job, Ava? Spielst du noch immer im Theater mit?«, fragt er und gießt sich Wasser in ein Glas ein. Gleichzeitig bietet er uns auch eines an, das wir jedoch beide dankend ablehnen. »Ja, ich bin seit zwei Jahren sogar die Leiterin. Ich würde diesen Job niemals aufgeben.«
»Hast du schon einmal überlegt, in einem richtigen Film mitzuspielen?« Sie zuckt mit den Schultern und ihr Blick wandert aus dem Fenster. »Ich weiß nicht. Es wäre einer meiner größten Träume, aber ich glaube nicht, dass ich es so weit schaffe.«
»Natürlich! Ich wette mir dir. Versprich mir, dass du dich bei ganz vielen Stellen bewirbst und alles versuchst!«
»Warum kommt mir das wie ein Abschied vor...«, murmelt sie, sodass nur ich es hören kann. Ein schweres Gefühl breitet sich in meiner Brust aus. »Wo ist eigentlich Patrick?«, werfe ich ein, um das Thema zu wechseln.
»Er ist mit seiner Familie spazieren gegangen.«
»Apropos spazieren...«, setze ich an. »Das könnten wir doch eigentlich auch machen, oder? Frische Luft tut uns sicher allen gut.« Alle sind einverstanden und zu fünft verlassen wir das Gebäude, um in dem kleinen Park hinter dem Krankenhaus eine Runde zu drehen. Um Tyreese zu unterstützen, nehme ich seine Hand und führe ihn. Ich bemerke, dass seine Haut eiskalt ist und frage mich, ob er friert.
»Ist dir kalt, Tyreese?«
»Ne, geht schon. Die Sonne tut gut, auch wenn sie nur mehr schwach scheint.« Ashley und ihr Bruder laufen voraus und jagen sich gegenseitig. Ihr Lachen erfüllt die Stille zwischen uns Erwachsenen und ich wünsche mir, wieder ein Kind sein zu können. Nicht das Kind, das ich damals im Waisenhaus war. Unglücklich, traurig und enttäuscht von der Welt. Ich träume von der Zeit danach, als ich von Avas Eltern adoptiert wurde und ich plötzlich lernte, wie es ist, Teil einer Familie zu sein. Auch wenn mich meine Schwester anfangs nicht mochte, war ich auf einmal glücklich und das war ich im Kinderheim nie.
Wir gelangen zu einem kleinen Teich mit Sitzbänken rundherum. »Wow, dieser Park ist wirklich schön angelegt«, spricht Ava meine Gedanken aus und sieht sich aufmerksam um. Rund um das Gewässer wachsen die verschiedensten Pflanzen und man kann sogar einen Gärtner beobachten, der mit einer Schubkarre in die entgegengesetzte Richtung fährt. »Wollen wir uns dort auf eine Bank setzen?«, schlägt Tyreese vor.
»Ja, finde ich gut. Ich hätte meine neuen Schuhe nicht anziehen sollen, da sie verdammt wehtun«, erwidert Ava und verzieht ihr Gesicht. Ash und Rob haben natürlich keine Lust auf sitzen und spielen irgendwelche ausgedachten Spiele. Wir lassen uns zu dritt auf der Bank nieder und genießen die letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Nach einer Weile kehrt der Gärtner zurück, welcher uns freundlich zunickt. Dann wendet er sich einem Blumenbeet zu, um den Inhalt seiner Schubkarre darin zu entleeren. Ich schätze, dass es Humus oder irgendein Dünger ist. Als die Sonne vollständig am Horizont versunken ist, merke ich, dass Tyreese allmählich zu zittern beginnt. Der Herbst macht sich langsam bemerkbar und ich habe absolut keine Lust auf den Winter. »Sollen wir wieder reingehen?«
»Ja, bitte«, antwortet Tyreese und steht auf. Der weg zurück ins Krankenhaus verläuft ereignislos und als wir wieder im Zimmer ankommen, verabschieden wir uns alle voneinander.

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