Tag 39
Tyreese
Patrick und ich verstehen und gut und er erzählt mir viel von seiner Familie. Seine Urgroßmutter war eine stadtbekannte Künstlerin und wurde 95 Jahre alt. Er hat immer gehofft, dass er die gesunden Gene von ihr geerbt hat, was jedoch nicht der Fall zu sein scheint. Seine Eltern sind bereits seit ihrer Jugend ein Paar und das nach über dreißig Jahren Ehe. Ich bin beeindruckt; immerhin kenne ich das von meinen Eltern überhaupt nicht. »Mein Dad war Alkoholiker, er verprügelte meine Mum und ich musste zusehen. Coole Story, was?« Patty sieht mich mit einem mitleidigen Blick an. »Hast du eigentlich einen festen Partner?«
»Die Frage ist schnell zu beantworten. Nein. Ich hatte bis vor drei Jahren eine Verlobte, aber–«
Weiter komme ich nicht, da es in diesem Augenblick an der Tür klopft. »Überraschung!«, rufen Ashley, Robin und Grace gleichzeitig und betreten alle nacheinander das Zimmer. Ich bin für einen kurzen Moment sprachlos, denn ich habe absolut nicht mit den dreien gerechnet. Eigentlich wären sie erst morgen vorbeigekommen.
»Oh entschuldige, wir wussten nicht, dass Tyreese nicht mehr alleine im Zimmer ist. Bitte verzeihen Sie«, wendet sich Grace an Patty. Er winkt mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Kein Problem, kein Problem. So kommt wenigstens etwas Leben in die Bude.« Grace lächelt erleichtert und sieht dann mich an. Meine beiden Kinder sitzen neben mir auf dem Bett und mustern meinen Mitbewohner.
»Hallo ihr zwei. Ich bin Patrick, aber weil ihr es seid, dürft ihr mich Patty nennen.« Ich reagiere und erkläre: »Das sind meine Kinder Ashley und Robin und das hier...« Ich wende mich an Gracy. »...ist Grace.« Patrick nickt lächelnd.
»Schön Sie kennenzulernen.«
»Ganz meinerseits«, antwortet Patty und als er lächelt, blitzen wieder seine strahlend weißen Zähne zwischen seinen Lippen hervor. »Ich will euch nicht länger stören. Ich kann auch rausgehen, wenn ihr wünscht.« Grace und ich schütteln beide den Kopf. »Nein, nein. Bleib wo du bist.«
»Wie geht's dir?«, fragt Gracy leise, während sie mich mit einem besorgten Blick mustert. »Du siehst müde und erschöpft aus.«
»Geht schon, es ist alles okay. Ich liege hier herum und quatsche mit Patrick. Und dir? Kommst du mit den beiden zurecht?«
»Natürlich.« Ein Lächeln stiehlt sich auf ihre Lippen und sie greift nach meiner Hand. »Wie könnte es nicht so sein?« Sanft streicht sie mit ihrem Daumen über meinen Handrücken und eine Gänsehaut bildet sich auf meinem gesamten Körper. Ich würde am liebsten noch stundenlang so verweilen, doch Grace unterbricht die seltsame Spannung zwischen uns. »Ash, Rob? Wollt ihr einen Kakao haben?«
»Ja!«, rufen beide wie aus einem Mund und hüpfen vom Bett hinunter. Ich bereite mich ebenfalls zum Aufstehen vor und als ich mich kurz zu Patty umdrehe, bemerke ich seinen sonderbaren Blick auf mir. Ich möchte etwas sagen, doch Grace kommt mir schon wieder dazwischen. »Kommst du?« Mit einem letzten Blick zu Patrick verlasse ich schließlich den Raum. Was hat der Gesichtsausdruck wohl zu bedeuten?
»Wollt ihr den Kakao mit Sahne oder ohne?«, fragt Gracy die zwei Kleinen. Ich setze mich an einen der Tische und warte, bis sie wiederkommen. Währenddessen beobachte ich ein altes Ehepaar. Ich bin mir sofort zu hundert Prozent sicher, dass sie zusammen sind, da sie einen so liebevollen Umgang miteinander haben. Der alte Herr stützt seine Frau, die vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzt. Er sagt irgendetwas zu ihr, doch ich bin zu weit weg, um die Worte verstehen zu können. Sie beginnt plötzlich zu lächeln und gibt ihrem Mann liebevoll einen leichten Taps auf die Hand. Selbst von hier kann ich erkennen, dass ihre Augen pure Liebe ausdrücken. Ich merke, wie ich traurig werde, da ich so etwas nie erleben werde. Dafür reicht meine Zeit nicht. »Tyreese?« Ich zucke zusammen und wende mich von den beiden ab. Grace steht mit zwei dampfenden Tassen jeweils in der linken und rechten Hand vor mir und mustert mich. »Ist alles okay?«
»Ja, ich... Ich habe nur das alte Ehepaar dort drüben beobachtet«, gebe ich kleinlaut zu. Gracy folgt meinem Blick und beginnt zu lächeln. »Die sind süß.« Ich nicke nur und wende mich dann vollkommen von ihnen ab.
Ashley und Robin trinken beide nur wenige Schlucke und haben dann keinen Durst mehr. Die Spielecke scheint um einiges interessanter zu sein, weshalb sie in aller Eile hinlaufen, als ich ihnen die Erlaubnis gebe. »Jetzt gehören die Getränke wohl uns«, wirft Grace ein.
»Gewöhn dich dran, ich krieg immer die Reste der beiden ab.« Eine Weile beobachten wir die Geschwister, bis Gracy das Schweigen beendet.
»Ist dein Nachbar nett?«
»Ja, er ist freundlich und ein wenig eigensinnig, aber nett. Er liebt Football und Autos. Ein typischer Kerl, oder?« Sie nickt schmunzelnd und umfasst den Henkel ihrer weißen Tasse.
»Ich bin froh, dass du nicht so bist. Ich hätte keine Lust, die Frau von ihm zu sein und jedes Wochenende zusehen zu müssen, wie er zu den Spielen eilt.
»Du bist auch nicht meine Frau«, erwidere ich und warte gespannt auf Grace' Antwort, die jedoch sehr einfach ausfällt. »Du weißt, was ich meine.« Unsere Unterhaltung verebbt erneut und ich versuche krampfhaft, das Gespräch aufrecht zu erhalten. »Sie sind gewachsen«, stelle ich mit einem Blick auf meine Kinder fest.
»Meinst du? Mir fällt das gar nicht so auf, da ich sie jeden Tag sehe. Aber es könnte tatsächlich stimmen, weil Robins Hosen langsam etwas kurz werden.«
»Soll ich dir Geld geben, damit zu einkaufen gehen kannst? Wenn wir wieder in meinem Zimmer sind, kann ich dir welches geben.«
»Nein, schon okay. Ich muss sowieso lernen, mit meinem Verdienst zwei Kinder versorgen zu können.« Die Schuldgefühle und das schlechte Gewissen treffen mich unterwartet und lassen mich betrübt in meine Kakaotasse starren. Ich fühle mich schlecht bei dem Gedanken, dass sie nun aus heiterem Himmel eine alleinerziehende Stiefmutter ist.
»Ich komme mir so egoistisch vor, weil ich dir das zumute. Du kannst doch niemals das ganze Geld für drei Personen plus Katze aufbringen. Bist du sicher, dass du es schaffst?«
Erst jetzt erkenne ich die Schatten unter Grace' Augen und ihr nicht gekämmtes Haar. Ich weiß von früher, dass sie es nicht ausstehen kann, unordentlich auszusehen, weswegen mich ihr Aussehen noch mehr schockiert. Sie nickt tapfer und sieht mir in die Augen. »Ich habe es dir versprochen und ich werde es auch durchziehen. Und wenn du wieder aus dem Krankenhaus raus bist, kümmern wir uns beide um Ash und Rob. Mach dir keine Sorgen um mich.« Ich möchte ihr antworten, doch es kommt kein Ton aus meiner Kehle. Stattdessen wird mir plötzlich schummrig und schwarze Pünktchen beginnen vor meinen Augen Salsa zu tanzen.
»Tyreese?« Ich kneife meine Augen zusammen und meine Hände suchen verzweifelt nach Halt, bis sie sich schließlich an der Tischkante festkrallen. »Ist alles okay?« Nein, ist es nicht und ich spüre, wie sich mein Hals allmählich zuschnürt. Bitte nicht jetzt, bettle ich in Gedanken, doch ich weiß, dass ich es nicht mehr aufhalten kann.
»Gracy...« Sie springt auf und umfasst mich, bevor ich auf die Seite kippen kann. Ein Hustenanfall bahnt sich einen Weg meinen trockenen Hals hinauf und ich kann ihn nicht zurückhalten. Ich will verhindern, dass sie mich so sieht, doch ich kann nicht. Ich höre, wie Grace um Hilfe schreit, als etwas Warmes mein Kinn hinuntertropft. Der metallische Geschmack breitet sich in meinem Mund aus und benetzt die Geruchszellen meiner Nase. Meine Lunge rebelliert und will den Dienst versagen. Ich ringe verzweifelt nach Luft und spüre in diesem Moment, wie ich auf eine Liege gelegt und weggeschoben werde. Mehr bekomme ich nicht mit, denn ich falle, falle und falle in ein tiefes, schwarzes Loch.
Draußen dämmert es bereits, als ich aufwache. Ich schaue aus dem Fenster und sehe, dass es regnet. Der Wind peitscht die Tropfen gegen die Scheibe und verursacht einen Höllenlärm für meinen brummenden Schädel. Eine Beatmungsmaske liegt über meinem Mund und meiner Nase, wodurch mir das Atmen auf einmal kinderleicht fällt. Mein Brustkorb schmerzt nur noch ganz leicht und ich fühle mich, als würde ich schweben. Ich liege in meinem Bett und schaue mich langsam um, bis ich Patrick entdecke. Dieser sieht mich an und ich drehe meinen Kopf, um ihn ansehen zu können.
»Hey, Kumpel. Auch schon wach? Du siehst komplett fertig aus.« Ich nicke ganz leicht, um ihm für sein Kompliment zu danken. Er grinst.
»Was hat die Frau – wie hieß sie nochmal; Grace? – bloß mit dir angestellt?« Ein belustigter Unterton schwingt in seiner Stimme mit, doch ich bin viel zu erschöpft, um ihm antworten zu können. Außerdem weiß ich die Antwort auf die Frage selbst nicht so wirklich.
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