Tag 36
Tyreese
Es herrscht ein warmer, sonniger Herbsttag und die Blätter des riesigen Ahornbaums vor meinem Zimmerfenster verfärben sich bereits von grün zu orange-rötlich. Es wird nicht mehr lange dauern, bis nur noch die nackten Äste des Baumes übrig sind und im Frühling dann erneut grüne, saftige Blätter wachsen.
Heute ist der Tag, an dem ich meine Mutter treffe und ich warte bereits vor dem Krankenhaus, als sie aus einem Taxi aussteigt. Die Sonne wärmt währenddessen meine helle Haut und als ich sie sehe, gehe ich ihr entgegen und begrüße sie anschließend. »Hallo, Mama. Bist du gut angekommen?« Sie nickt und sieht mich mit einem besorgten Blick an. »Was ist los?« Ich lege meine Hand auf ihre rechte Schulter und führe sie zu einer Bank, die glücklicherweise in der Nähe ist.
»Mum, es tut mir aufrichtig leid, dass ich mich nicht früher gemeldet habe. Ich bin seit exakt dreiundzwanzig Tagen hier.« Ich sehe meiner Mutter an, dass sie ein wenig enttäuscht ist, doch sie erwidert nichts.
»Dann muss es schlimm sein. Wieso hast du so ein Ding auf dem Kopf?« Ich lache kurz und fasse mir automatisch an den Kopf.
»Das ist eine Cap. Ich habe sie auf, weil ich keine Haare mehr habe, wie du vielleicht auch an den nicht vorhandenen Augenbrauen erkennen kannst.«
»Du hast wieder Krebs, richtig?«, platzt sie heraus. Mein Plan war eigentlich, ihr die Neuigkeiten schonend beizubringen, doch das hat sie mir nun abgenommen. Sprachlos stammele ich herum, bis mir meine Mutter erneut das Wort abnimmt: »Das habe ich mir schon gedacht, als ich aus dem Taxi ausgestiegen bin.« Ist das alles? Sie weint nicht? Sie schreit mich nicht an?
»Mama, hast du es wirklich verstanden? Ich –«
»Natürlich, was ist da so schwer zu verstehen? Dein Vater hat es an dich vererbt.« Ich runzle die Stirn und schüttle langsam meinen Kopf.
»Er kann nichts dafür.« Sie seufzt und streicht ihren langen, dunklen Rock glatt.
»Es spielt doch sowieso keine Rolle. Hast du schon einen Plan, wie es weitergehen soll? Was sagen die Ärzte?«
»Ich wohne einstweilen im Krankenhaus und bekomme Schmerzmittel und Chemos.«
»Was genau ist denn überhaupt betroffen? Ist es wieder die Lunge?«
»Die Bauchspeicheldrüse und die Leber und wahrscheinlich auch wieder die Lunge, ja.« Meine Mutter senkt den Blick und starrt auf ihre Finger. Als ich ein Kind gewesen bin, hatte sie die Nägel oft lackiert, doch es muss schon Jahre her sein, dass sie damit aufgehört hat.
»Letztes Jahr dachte ich, dass du die Krankheit besiegt hast, aber so ist es wohl doch nicht.«
»Beim ersten Mal war es nicht so schlimm. Die Metastasen waren ausschließlich in der Lunge und ich war noch im Anfangsstadium.« Meine Mutter schweigt und eine Weile sagt niemand etwas. Wir hängen beide unseren Gedanken nach, während irgendwo in der Nähe ein Kuckuck schreit.
»Wo sind Ashley und Robin?« Erst jetzt scheint sie an ihre Enkel zu denken. Ich habe keine Ahnung, wie sie gleich reagieren wird, wenn ich ihr mitteile, dass ich Ash und Rob nicht in ihre, sondern in die Hände meiner Jugendfreundin gegeben habe.
»Sie sind bei Grace. Grace Carter.« Zuerst scheint sie sich nicht erinnern zu können, doch dann weiten sich ihre Augen und ihr Mund klappt auf. »Was? Warum –«
»Es ist besser so! Glaub mir, es bringt nichts, wenn ich dir zwei Kleinkinder aufhalse. Du kannst sie ja nicht einmal irgendwo abholen, weil du nicht mehr gerne Auto fährst. Grace im Gegensatz schon. Sie wohnt nicht weit von hier entfernt und sie bringt die beiden in den Kindergarten. Sie wohnen einstweilen bei ihr in der Wohnung und es geht ihnen gut.« Ich denke daran, was Gracy mir erzählt hat. Ava hat spontan entschieden, dass sie ins Kino gehen und im ersten Moment war ich skeptisch, doch als ich die spannende Zusammenfassung des Films von meinen Kindern zu hören bekommen habe, war ich überzeugt, dass alles gut verlaufen ist.
»Bitte reg' dich nicht auf, Mama. Es sind noch immer meine Kinder.«
»Weißt du, was mich am meisten wundert?« Ich schüttle langsam den Kopf. »Dass sie so naiv ist und dir vergibt, nach allem, was du ihr angetan hast.«
Erneut bin ich sprachlos und habe keine Ahnung, was in meine Mutter gefahren ist, doch an diesem Tag habe ich sie wohl das letzte Mal gesehen. Sie ist wütend in ihr Taxi gestiegen und nach Hause gefahren. Sie hat mich einfach dort vor dem Krankenhaus stehenlassen. Ihren eigenen Sohn, der ihr kurz zuvor mitgeteilt hat, dass er Krebs hat. Zum zweiten Mal. So kenne ich sie gar nicht, da sie immer eine ruhige und eingeschüchterte Person war. Grund dafür war mein Vater. Ihn überhaupt so zu bezeichnen, bereitet mir ein flaues Gefühl im Magen. Er hat diesen Titel absolut nicht verdient.
Später liege ich wieder in meinem Bett und erhalte eine neue Infusion. Heute ist eigentlich ein guter Tag, da ich endlich wieder meine zwei Kinder sehe. Sie haben mich noch gar nicht ohne Haare gesehen, weil sie die letzten Tage vom Kindergarten aus total verplant waren. Zuerst ein Wandertag, dann ein Besuch im Stadtmuseum und was weiß ich noch alles. Zurzeit verliere ich ehrlich gesagt ein wenig den Überblick darüber, was außerhalb dieser Krankenhauswände passiert.
»Dad!«, rufen beide gleichzeitig und hüpfen auf mein Bett. Die Schmerzen, die dabei durch meinen Körper schießen, ignoriere ich, da die Zeit mit meinen Kindern viel zu wertvoll ist. Robin ist der erste, der sieht, dass etwas anders ist an mir.
»Papa, was ist das?«, will nun auch Ashley wissen. Ich werfe einen Blick zu Grace, die daraufhin aufmunternd nickt. Ich nehme die Cap ab und warte, was passiert. Ash schlägt ihre Hände vor den Mund, während Rob einfach nur verwirrt dreinschaut. »Ich habe meine Haare abgeschnitten, weil ich finde, dass ich mal Abwechslung brauche. Ihr stimmt mir doch zu, oder nicht?« Langsam tauen die beiden auf und zeigen wieder fröhliche Emotionen. »Wir haben dich vermisst, Dad«, sagt meine Tochter und schließt ihre kurzen Ärmchen um meinen Hals. »Und ich euch erst!« Es folgt eine Runde kuscheln und danach entscheiden wir uns, hinunter in die Cafeteria zu gehen. Grace hat Lust auf eine Tasse Kaffee und ich möchte sowieso aus diesem Zimmer raus. Meine Kinder zeigen mir die Spielecke im Eingangsbereich und bleiben schließlich auch dort. Gracy und ich setzen uns an einen kleinen runden Tisch, von dem aus man Ash und Rob gut sehen kann. »Wann ist der erste Zyklus der Chemo vorbei?«
»Morgen bekomme ich meine Letzte, dann heißt es eine Woche warten.«
»Du darfst dich nicht aufgeben, hörst du?«
»Ja, ich weiß.« Nach einer Weile fällt mir ein, dass ich Grace noch nichts von dem Gespräch mit meiner Mutter erzählt habe. »Ich habe übrigens mit meiner Mutter gesprochen.« Sie scheint überrascht zu sein und setzt sich gerader hin. »Und?«
»Ich habe sie noch nie derart abweisend erlebt, doch ich glaube, es lag daran, dass nicht sie meine Kinder bekommen hat, sondern du. Du tust ihr leid, weil du dich wieder mit mir beschäftigen musst. Ich denke, so in der Art hat sie es gesagt.«
»Was? War das wirklich die Tasha, die ich kenne?«
»Ich weiß, es klingt nicht nach ihr, aber irgendwie hat sie sich generell verändert. Ich habe keine Ahnung, woran das liegt. Möglicherweise ist es einfach das Alter. Vielleicht braucht sie auch einen Partner...«
„Ja, womöglich ist sie einfach einsam. Das würde auch erklären, wieso sie unbedingt Ash und Rob haben möchte.«
Grace nimmt einen Schluck ihres Kaffees und schaut automatisch zu Ashley und Robin, als man das Weinen eines Kindes hört, doch es stammt von jemand anderes. Ich muss grinsen, als ich realisiere, welche Muttergefühle sie in den letzten Wochen entwickelt hat.
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