Tag 33
Tyreese
Täglich verliere ich einige Haarbüschel und jedes Mal, wenn ich auf meinem Kissen wieder eines finde, beginne ich zu würgen. Ich weiß nicht, wieso ich mich vor meinen eigenen Haaren derart ekele, aber irgendwie kann ich es nicht ändern.
Ich habe heute Morgen beschlossen, Grace anzurufen und sie zu bitten, einen Rasierer mitzunehmen, wenn sie heute Vormittag vorbeikommt. Als es an der Tür klopft, sage ich viel fröhlicher, als es mein Gemütszustand eigentlich erlaubt, »herein«.
»Hey«, sagt sie und umarmt mich, so wie sie es inzwischen jedes Mal tut, wenn sie mich besucht. Sie trägt ihre langen, schwarzen Haare heute in einem Pferdeschwanz, was ihr sehr gut steht. Ihr Duft benebelt meine Geruchssinne und ich verliere mich für einen Moment. Ich würde sie so gerne noch einige Sekunden länger in meinen Armen haben, doch da löst sie sich schon von mir.
»Ich darf heute also Friseurin spielen, ja?« Ich nicke schmunzelnd. »Das macht bestimmt Spaß«, fügt sie sarkastisch hinzu. Ich schlage meine Decke zurück und versuche aufzustehen. Ich bemerke den Blick von Grace. Ich würde auch so dreinschauen, wenn ich sie wäre. Mir ist klar, dass ich ein paar Kilos abgenommen habe und meine Haut derart bleich ist, dass ich locker als Vampir durchgehen könnte. Schuld daran ist die Chemotherapie. Eine weitere Nebenwirkung ist der Haarausfall und einen Bart kann ich mir seit Tagen komplett abschminken. Ich will nicht hilflos dabei zusehen, wie mein Kopf langsam büschelweise zu einer Glatze wird, weshalb ich beschlossen habe, es gleich hinter mich bringen. Als ich auf dem Stuhl neben meinem Bett sitze, bedeute ich Grace, zu beginnen. »Du kannst nichts falsch machen, Gracy. Schließlich wird das eine Glatze«, beruhige ich sie, da ich merke, wie nervös sie ist. Sie schaltet den Rasierer ein und setzt ihn am Hinterkopf an.
Ich bewundere mich in dem kleinen Spiegel, der im Bad hängt. »Wow. Ich frage mich, wieso ich mir nicht schon viel früher diese Frisur zugelegt habe. Findest du nicht auch, dass ich gut aussehe?«
Grace lächelt und streckt ihre Daumen nach oben. »Super siehst du aus. Anders wäre es mir trotzdem lieber.« Nachdem ich mich wieder ins Bett gelegt habe, setzt sie sich auf die Bettkante und mustert mich besorgt. »Wie fühlst du dich?«
»Es ist schwer zu beschreiben. Die Ärzte pumpen mich mit Medikamenten voll und meine Behaarung verschwindet. Irgendwann werde ich wahrscheinlich wie ein Baby aussehen. Ich weiß nicht, wohin das alles führen soll.« Grace nickt verständnisvoll.
»Ich weiß, aber mach bitte einfach so weiter, okay? Es tut mir leid, aber ich muss jetzt Ashley und Robin vom Kindergarten abholen. Heute Mittag gibt es Spaghetti.« Ich muss lächeln. Spaghetti lieben die beiden und es war eines der ersten Gerichte, die ich selbstständig kochen konnte. »Einverstanden. Dann richte meinen Kindern liebe Grüße und viele Küsse von mir aus!« Gracy nickt, umarmt mich zum Abschied und verlässt dann mein Zimmer. Die Einsamkeit überwältigt mich jedes Mal ein Stückchen mehr. Ich liege einfach nur da und kann fühlen, wie die Schmerzmittel durch meine Adern rauschen. Darunter hat sich ein tiefer Schmerz vergraben, den ich nicht mehr loswerde. Wenn ich die Medikamente nicht nehmen würde, würde ich alleine aufgrund der Schmerzen draufgehen. Glaube ich zumindest.
Ich esse noch immer nicht besonders viel, aber wenigstens etwas. Ich merke oft, dass ich irgendwie gar nichts empfinde. Als würde ein großes Loch in meinem Körper sein, das mir verbietet, Emotionen zu fühlen. In diesem Augenblick kommen mir Erinnerungen an meine Kindheit in den Sinn. Ich denke an meine Eltern, die sich anfangs so sehr geliebt haben, dass sie in jeder freien Sekunde miteinander flirten mussten. Dann wurde ich geboren und Jahre später kam die Zeit, in der die Firma meines Vaters pleiteging und er deshalb die Liebe zum Alkohol entdeckte. Oder eher die Abhängigkeit. Meine Mutter wurde Opfer seiner Aggressionen und Gewalt und ich musste zusehen. Schließlich – und alle waren froh darüber – starb er an Krebs, als er seinen fünfundfünfzigsten Geburtstag feierte. Meine Mum brauchte nicht lange, um zu entscheiden, dass man die Geräte abschalten sollte, als die Hoffnung auf eine Genesung dahin war.
In diesem Moment realisiere ich, dass ich nun in derselben Situation stecke und meine Mutter keinen Schimmer davon hat. Ich fühle mich plötzlich schuldig; immerhin ist sie meine Mutter. Ich greife zu meinem Handy und stelle fest, dass es keinen Akku mehr hat, weshalb ich beschließe, sie erst morgen anzurufen.
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