Tag 31

Grace

Heute lernen Ashley und Robin endlich Ava kennen. Ich bin nervös, obwohl es eigentlich gar keinen Grund dafür gibt. Es ist mir sehr wichtig, dass sie meine Schwester mögen und umgekehrt mache ich mir keine Sorgen, da Ava beruflich jeden Tag mit Kindern zu tun hat und ein Händchen dafür hat.

»Ist das deine beste Freundin?«, fragt mich Ash mit ihrer zuckersüßen Stimme.
»Ja, das kann man so sagen, aber sie ist noch was anderes. Sie ist sogar meine Schwester, so wie du die Schwester von Robin bist. Wir sind zusammen aufgewachsen und haben die gleichen Eltern.«
Dass der letzte Teil des Satzes nicht hundertprozentig stimmt, will ich dem Mädchen lieber ersparen, da dies nur Verwirrungen hervorrufen würde.
»Wollt ihr mir helfen, den Tisch zu decken? Wir brauchen das weiße Tischtuch aus der Truhe in der Abstellkammer. Ihr wisst ja, wo die ist.«
Die zwei laufen los, als hätte ich ihnen aufgetragen, einen Menschen zu retten, der in Lebensgefahr schwebt. Während die zwei beschäftigt sind, krame ich das Besteck aus der Schublade und lege ihn neben die Spüle. Da kommen Ashley und Robin auch schon zurück.
«Was habt ihr denn da gefunden?«, lache ich und weiß jetzt endlich, wo meine dunkelgrüne Weihnachtstischdecke mit den braunen Rentieren hingekommen ist. Ich suche sie seit meinem Umzug und nun ist sie wieder aufgetaucht.
»Super, ihr habt etwas gefunden, das ich schon lange gesucht habe. Ich glaube jedoch, dass es noch etwas zu früh dafür ist.«
Zwanzig Minuten später ist der Tisch fertig gedeckt. Weiße Tischdecke, ordentlich aufgelegtes Besteck und geputzte Gläser. Langsam lerne ich, mit Kindern umzugehen. Vielleicht habe ich aber auch einfach nur Glück mit den beiden. Als Av dann im Wohnzimmer steht und Ash und Rob begrüßt, fühlt es sich fast so an, als wären es meine eigenen Kinder. Ich erschrecke mich über mich selbst und verdränge dieses Gefühl, da es mir irgendwie falsch vorkommt.
»Wer hat Lust auf Kuchen?«, frage ich in die Runde. Ashley und Robin schreien beide »ich« und setzen sich schnell auf ihre Plätze. Währenddessen wirft mir Ava ein breites Grinsen zu. Ich habe heute Vormittag einen Streuselkuchen gebacken, als Ash und Rob im Kindergarten gewesen sind. Ich habe das schon so lange nicht mehr gemacht, weshalb ich ein wenig googeln musste.
Der Kindergarten ist seit letzter Woche so richtig aktuell und ich muss mich nun auch um das kümmern. Ich bringe die zwei Geschwister hin und hole sie auch wieder ab. Tyreese hat vorletzten Dienstag ausführlich mit mir darüber gesprochen und mir alles Wichtige erklärt. Einen Tag darauf habe ich auch einige Spielzeuge aus ihrer Wohnung geholt – darunter Mr. Hase.
»Habt ihr schon gehört, dass ein neuer Film im Kino läuft?«, fragt Ava. »Es geht um kleine gelbe Dinger, die einen Bösewicht unterstützen. Oder so ähnlich. Er soll ziemlich lustig sein. Was haltet ihr davon, wenn wir uns den heute noch ansehen?« Entgeistert schaue ich meine Schwester an. Ich versuche ihr mit Blicken mitzuteilen, dass ich nicht sicher bin, ob das so eine gute Idee ist, doch sie ignoriert mich einfach eiskalt.
»Wart ihr denn schon mal im Kino?« Als die beiden ihre Köpfe schütteln, scheint es für meine Schwester bereits beschlossene Sache zu sein.
»Na, dann wird's Zeit! Worauf warten wir noch?« Nachdem jeder sein Stück Kuchen aufgegessen hat, geht Ava mit Ash und Rob in die Garderobe und hilft ihnen beim Anziehen.
»Es ist kalt draußen und deswegen müsst ihr euch warmhalten«, erklärt sie und bindet fleißig Schnürsenkel und Schals. Ich lehne am Türrahmen und beobachte das Geschehen.
»Was ist los, Grace? Zieh dich an, oder willst du den coolen Film etwa verpassen?«
Nun scheint sie doch zu kapieren, dass ich nicht einverstanden bin. Sie bedeutet den Kleinen, kurz zu warten und geht mit mir ins Wohnzimmer zurück.
»Wo liegt das Problem?«
»Du kannst nicht einfach so reinplatzen und die zwei ins Kino zerren! Es sind nicht meine Kinder und was ist, wenn etwas geschieht? Tyreese muss mir vertrauen können...«
»Jetzt mal langsam, Grace. Erstens bin ich überhaupt nicht reingeplatzt und ich zerre Ashley und Robin nirgendwohin. Ich möchte einfach nur etwas Lustiges mit ihnen unternehmen, da dir, denke ich, etwas Hilfe nicht schaden könnte. Wenn Tyreese wirklich bald nicht mehr da ist, kannst du dich auch nicht mehr an ihn wenden, außerdem vertraut er dir bereits, sonst hätte er nicht dich, sondern jemand anderen gefragt. Ich kann verstehen, dass du Angst davor hast, einen Fehler zu machen, doch du bist auch nur ein Mensch. Du bist kein Roboter und schon gar nicht perfekt! Wenn er dir seine Kinder anvertraut, dann muss er auch verkraften können, dass mal was passieren kann. Das ist kein Weltuntergang. Kinder brauchen das! Also mach dich jetzt nicht zum Affen und schau dir mit uns den Film an, sonst gehe ich alleine mit ihnen.«
Ich schlucke und atme einige Male tief ein und aus. »Okay... Vielleicht hast du ein kleines bisschen recht.« Ein Schmunzeln stiehlt sich auf Avs Lippen. »Na, geht doch. Hast du gesehen, wie neugierig sie sind, endlich zu erfahren, was ein Kino ist? Du kannst ihnen nicht das Leben vorenthalten. Und das Leben kann hart sein, aber auch wunderschön.«
Wie ich es inzwischen gewohnt sein müsste, hat meine Schwester erneut das letzte Wort. Wie schafft sie es immer und immer wieder, ins Schwarze zu treffen?
Als uns Ava spätabends nach Hause fährt, lachen wir noch immer über den Film. Robin und Ashley haben besonders die gelben Dinger – die Minions – ins Herz geschlossen. Ash hat das erste Mal Popcorn gegessen und meint, dass sie das unbedingt noch einmal essen muss, weil es das Beste auf der Welt ist. Ich schicke die zwei schon mal Zähneputzen, während ich mich von Av verabschiede.
»Ich kann dir nicht sagen, wie unendlich dankbar ich bin, dass du mich vorhin überredet hast. Ich sollte in Zukunft mehr auf dich hören«, sage ich und umarme sie.
»Und ich bin verdammt stolz auf dich. Du verstehst dich wirklich gut mit den beiden.«

Später liege ich auf meinem Sofa und denke nach. Ashley und Robin schlafen bereits, nachdem ich ihnen aus einem Kinderbuch vorgelesen habe. Einstweilen habe ich ehrlich gesagt kein so schlechtes Gefühl, was Tyreese betrifft. Womöglich schafft er es ja doch und wir werden eine richtige Fam–
Plötzlich ertönt ein Schrei. Ich setze mich ruckartig auf und schlage die Decke zurück.
»Robin?«, rufe ich erschrocken und springe auf. Es ist eindeutig er gewesen. Ich stürme ins Zimmer und sehe, dass er sich am Boden wälzt. »Hey, Rob! Wach auf! Es ist bloß ein Traum. Bitte, wach auf.« Er reißt seine Augen auf und beginnt fürchterlich zu weinen. Ich nehme ihn ohne groß nachzudenken in den Arm und streiche sanft über seinen Lockenschopf.
»Es ist alles gut, Robin. Es war ein Albtraum, nichts weiter.« Ich wiege ihn sanft hin und her, während meine linke Hand auf seinen Rücken wandert und dort liegen bleibt. Ein paar Minuten vergehen, bis die Schluchzer in immer größeren Abständen kommen. Schlussendlich verklingen sie ganz.
»Alles okay?«, frage ich flüsternd. Er nickt. »Sollen wir ein Glas Wasser holen gehen?«, schlage ich vor. Wieder stimmt der Junge mir mit einem Kopfnicken zu. Ich hebe ihn hoch, stelle fest, dass er schwerer ist, als ich gedacht habe, trage ihn in die Küche und setze ihn auf der Theke ab. Ich fülle das grüne Coca-Cola-Glas bis zur Hälfte mit Wasser und überreiche es ihm. Da er mit Trinken beschäftigt ist, habe ich Zeit, einen Blick auf mein Handy zu werfen. Es ist halb zwölf und ich fühle die Müdigkeit. Ich habe wieder einmal zu viel nachgedacht und konnte deswegen nicht schlafen. Und wenn, wäre es auch egal gewesen, weil ich jetzt sowieso wach bin. »Genug getrunken?«
»Ja«, murmelt Rob und streckt seine Hände nach mir aus, damit ich ihn erneut hochnehme. Als er dann endlich wieder im Bett liegt und ich ihn liebevoll zudecke, schläft er sofort ein. Ich kann jetzt auch nur noch ans Schlafen denken. Und Ashley? Die hat den ganzen Tumult verpasst.

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