Tag 19

Tyreese

Ich betrachte mich im Spiegel. Ich sehe 20 Jahre älter aus und es wird nicht mehr lange dauern, bis die Chemotherapie bewirkt, dass ich jegliche Haare verliere. Ich genieße es jedes Mal, mich noch so wie früher zu sehen. Ich befinde mich seit fünf Tagen im Krankenhaus und der erste Zyklus der Chemotherapie hat bereits begonnen. Jeden Tag bekomme ich mehrmals Infusionen, deren Ziel es ist, die Krebszellen in meinem Körper abzutöten. Wenn ich über mein Schlüsselbein streiche, kann ich den Port spüren, der dort unter der Haut sitzt.

Ich begebe mich zurück ins Bett und starre an die schneeweiße Decke. Gegen die Schmerzen helfen Tabletten und ich bin froh, dass sie im Moment wirken. Als ich die Augen schließe, falle ich sofort in einen tiefen Schlaf. In letzter Zeit könnte ich vierundzwanzig Stunden am Tag schlafen.

»Guten Tag, Mr. McLane. Haben Sie sich gut ausgeruht?« Eine Krankenschwester befindet sich in meinem Zimmer und überprüft meine Schläuche.
»Ja, danke. Können Sie mir eventuell sagen, wie spät es ist?»
»Fünfzehn Uhr. Sie haben lange geschlafen. Leider ist das Mittagessen schon vorbei, jedoch kann ich Ihnen im Notfall auch etwas nachbestellen.«
»Nein, schon okay. Ich habe sowieso keinen Hunger.«
Die Krankenschwester namens Laura geht wieder. Der Alltag im Krankenhaus ist verdammt langweilig. Auf dem Flur hasten die Ärzte und Pfleger in die Zimmer und ich habe nichts Besseres zu tun, als in meinem Bett zu liegen und vor mich hinzuvegetieren.

Etwas später, als es Zeit ist, das Abendessen aufzunehmen, besucht mich Laura erneut.
»Sie haben Glück heute. Es gibt Lasagne! Mein absolutes Leibgericht.«
Ich schmunzle und tue so, als hätte ich bereits großen Hunger. Sie stellt das Tablett auf dem kleinen Beistelltischchen neben mir ab und präsentiert mir das Essen. Dabei lächelt sie fröhlich. Ich mag sie. Sie ist die netteste von allen Pflegerinnen hier und sie scheint noch ziemlich jung zu sein.
»Danke, Laura. Ich schaff' das alleine.«
Sie nickt und verlässt mein Zimmer. Ich habe nicht einmal Lust, daran zu riechen. Ich habe schon längere Zeit nicht mehr viel Appetit und wenn ich so weitermache, kann ich bald als Model arbeiten. Ich schätze jedoch, dass dies Mr. Davies – mein zuständiger Arzt – nicht mehr lange mitanschauen wird. Ich seufze und wage nun doch einen Blick auf die Lasagne. Sie dampft noch immer und sieht eigentlich gar nicht so schlecht aus, doch heute dreht sich mein Magen alleine beim Anblick des Essens um dreihundertsechzig Grad um. Ich schiebe das Tablett weiter weg und bin froh, dass ich es nicht essen muss.
Nach einer ausgiebigen Diskussion mit den Schwestern und Mr. Davies, dem ich zweimal erklärt habe, dass ich morgen zum Frühstück wieder etwas essen werde, kommen endlich meine drei liebsten Menschen. Ashley, Robin und Grace. Meine zwei Kinder stürmen wie immer total aufgeregt und hyperaktiv zu mir und kuscheln sich an mich. »Hallo ihr zwei Süßen. Wie geht's euch? Passt ihr gut auf Grace auf?«
Ich lächle und zwinkere ihr zu.
»Papa, wir vermissen dich«, ertönt da Ashs Stimme.
»Und wie ich euch vermisse! Aber ein bisschen muss ich noch hierbleiben. Ich verspreche euch, dass wir ans Meer fahren, sobald ich hier raus bin.«
Die Augen meiner Kinder beginnen zu strahlen und sie beginnen aufgeregt herum zu hüpfen. Als sie beide von Laura abgeholt werden, die sie in die Spielecke bringt, und Grace und ich nur noch zu zweit sind, wird es ruhig. Sie seufzt.
»Ist alles okay?«, frage ich besorgt.
»Weißt du eigentlich, dass du großen Respekt von allen Frauen verdienst? Du hast dich bis jetzt ganz alleine um zwei Kleinkinder gekümmert und hast diesen Job auch noch super erledigt!«
Ich muss bei ihren Worten schmunzeln. »Mir ist klar, dass es nicht leicht ist, aber sie mögen dich und vertrauen dir – das sehe ich. Vergiss bitte niemals, dass du diejenige bist, der ich meine Kinder anvertraut habe. Ich würde sie nicht mal an ihre eigene Mutter übergeben, weil diese Frau komplett unberechenbar ist. Ich weiß, dass ich dir zu hundert Prozent vertrauen kann.«
Wie so oft in letzter Zeit hält Grace meine Hand. Wenn sie das tut, rücken all meine Ängste und Sorgen in den Hintergrund und ich kann für eine Weile an schönere Dinge denken.
»Ich merke es mir«, antwortet sie und ein Lächeln stiehlt sich auf ihre Lippen.

In der Nacht wache ich auf, weil ich keine Luft mehr bekomme. Ich versuche panisch an Sauerstoff zu kommen und suche den roten Knopf, den man in einem Notfall drücken soll. Knapp verfehle ich ihn, doch beim zweiten Mal klappt es. Nur wenige Sekunden vergehen – für mich fühlt es sich wie eine Ewigkeit des Erstickens an – erscheinen zwei Krankenschwestern. Vor meinen Augen tanzen schwarze Punkte und meine Lunge brennt wie ein Lauffeuer. Ich presse meine Hände gegen meine Brust und kämpfe um mein Bewusstsein. Als die Beatmungsmaske über meine Nase und Mund gestülpt wird, kriege ich langsam wieder Luft. Ich werde von einer derart starken Müdigkeit überrollt, dass ich nur wenige Augenblicke später ins Land der Träume versinke.

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