Tag 10
Grace
Etwas Warmes und Nasses berührt mein linkes Ohr. Gleichzeitig kitzelt mich irgendetwas unter dem Kinn. Ich öffne die Augen und sehe Grau. »Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Mann, Shila«, stöhne ich. Ich nehme die kleine Katze, die erst seit einem Monat bei mir wohnt und setze sie auf meinen Bauch.
»Shila, ich habe dir doch gesagt, dass du mich ausschlafen lassen sollst, wenn Sonntag ist. Dein Hunger kann noch nicht so schlimm sein, immerhin hast du gestern Abend eine Extraportion Lachs bekommen.«
Doch natürlich kann man einem kleinen Katzenmädchen nicht lange böse sein, denn nur kurze Zeit später schnurrt sie laut und tritt auf meiner vollen Blase herum. Schließlich beschließt sie, sich hinzulegen und den schwarz-grau gestreiften Kopf auf die beiden Vorderpfoten zu legen. Katzen sehen so friedlich aus, wenn sie schlafen. Ich streiche sanft über ihren Rücken. Meine Geste erwidert sie mit einem leisen Quieken. Auf die Toilette zu gehen kann ich mir jetzt wohl auch abschminken. Nur wenige Minuten vergehen, da bin auch ich wieder eingeschlafen.
Als ich es um elf Uhr vormittags dann doch aus dem Bett geschafft und Shila gefüttert habe, gieße ich etwas Milch in eine Schüssel und schütte einige Cornflakes nach. Ich checke kurz meine Neuigkeiten auf Facebook und verlasse dann die Wohnung, um mich auf den Weg zu Ava zu machen.
»Hey, Schwesterchen.« Lächelnd schließt meine Schwester ihre Arme um mich. Ich kann es mir absolut nicht mehr vorstellen, Ava, die eigentlich nur meine Halbschwester ist, nicht zu mögen. Als ich zehn Jahre alt war, wurde ich von Avas Eltern adoptiert und sie mochte mich nicht, weil sie bis zu dem Zeitpunkt Einzelkind war und dies sehr genossen hatte. Jahrelang ging das so weiter, bis unser Vater starb. Er war Bergführer und wurde während eines schlimmen Schneesturms von einer Lawine mitgerissen. Es war eine harte Zeit für unsere Mutter und uns Töchter, doch eine gute Sache hatte das Ereignis doch: Ava und ich wurden plötzlich wichtig füreinander und seitdem können wir uns ein Leben ohneeinander nicht mehr vorstellen.
Als ich mich wieder von ihr löse, wird mir erst so richtig bewusst, dass ich ihr eine äußerst schlechte Nachricht überbringen muss. Sie kennt Tyreese gut, denn früher hatte sie ebenfalls viel mit ihm zu tun. Nicht unbedingt verwunderlich, da er über Jahre hinweg so ziemlich jeden Tag vor unserer Haustür stand.
»Hi, große Schwester.«
»Du siehst scheiße aus«, ist ihr erster Kommentar. »Oh, vielen Dank. Ich habe dich auch vermisst.« Als ich meine Winterjacke (ja, ich habe sie tatsächlich heute Morgen noch rausgekramt) abgelegt habe und wir in die Küche gehen, fragt Av auch schon. »Ist gestern etwas mit Tyreese passiert? Du wirkst so, als hättest du schlecht geschlafen.«
Ich nicke langsam. »Ja, ich bin ständig aufgewacht. Erst vormittags konnte ich ein paar Stunden durchgehend schlafen. Der erste Grund dafür ist, dass Shila mich um halb sechs aufgeweckt hat.«
»Und der Zweite?«
»Es geht um Tyreese.«
»Ist ihm eingefallen, dass er ohne dich nicht leben kann und will zu dir zurück?«
»Nein, es ist... schlimm.« Ich spüre, wie sich in meinem Hals erneut ein Kloß bildet. Avas Blick verwandelt sich von belustigt zu neugierig. Ich räuspere mich. »Sag schon!«
»Ja... Oh Gott, jetzt verstehe ich, warum es ihm gestern so schwergefallen ist, mir den Grund für sein Kommen zu nennen. Das ist wirklich nicht einfach.« Nach einer kurzen Pause beginne ich dann doch. »Tyreese ist deswegen zu mir gekommen, weil er jemanden braucht, der sich um seine zwei Kinder kümmert.«
»Wow, als ob er schon Vater ist. Hatte die Mutter der beiden keinen Bock mehr auf ihn?«
Ich werfe meiner Schwester einen Blick zu, der sie verstummen lässt. »Tut mir leid. Es muss wirklich schrecklich sein, wenn du so viel Mitleid oder was auch immer für ihn übrig hast.«
»Er hat Krebs.«
Da sind sie. Die Worte, die ich bis hierhin nicht einmal in meinen Gedanken aussprechen wollte. Ich sehe, wie jegliche Belustigung in Avs Gesicht verschwindet. Nach einer Weile schüttelt sie den Kopf.
»Nein.« Ich nicke und kämpfe erneut mit den Tränen.
»Er hat noch maximal fünf Monate.«
»Nein, das ist nicht wahr. Du lügst mich an, Grace.«
»Wieso sollte ich dich anlügen? Ava, ich dachte bis vorgestern, dass ich diesen Typen nie wiedersehe, und plötzlich steht er vor meiner Tür und überbringt mir so eine Nachricht. Ich wusste nicht mal, dass er Vater ist geschweige denn, dass er eine neue Freundin hatte.« Sie scheint zu realisieren, dass es sich um die blanke Wahrheit handelt.
»Scheiße... Es tut mir so leid.« Sie steht auf und setzt sich zu mir. »Entschuldige, dass ich vorhin so gefühllos war, aber mit dem habe ich echt nicht gerechnet.«
»Wer tut das schon«, seufze ich. Ava schließt ihre Arme um mich und eine Weile sitzen wir einfach nur so da.
»Und wie geht es jetzt weiter? Nimmst du seine Kinder an?«
»Ich weiß es nicht. Es ist eine schwierige Entscheidung und erfordert viel Verantwortung. Ich bin mir nicht sicher, ob ich die habe. Ich soll mich auf einmal aus heiterem Himmel um zwei Kleinkinder kümmern. Sie sind vier und fünf. Das ist doch unmöglich für mich! Aber ich habe ihm schon zugesagt, da ich einfach so perplex war.«
Ava kaut auf ihrer Unterlippe herum. »Das ist echt verrückt, aber egal wie du dich entscheidest, ich werde dich unterstützen. Ich schlage vor, dass du die Kinder erst einmal kennenlernst und dann siehst du weiter. Ich meine, vielleicht mögen sie dich ja gar nicht und Tyreese muss sich deshalb eine andere Lösung überlegen.«
»Ja, da könntest du recht haben.«
Als ich etwas später meinen Lebensmitteleinkauf abgehakt habe, den Supermarkt verlasse und auf dem Weg nach Hause bin, suche ich auf meinem Handy den Kontakt von Tyreese. Dieser hat es gestern wieder in meine Kontaktliste geschafft.
»Hallo?«
»Hey, ich bin's. Grace.»
»Oh, Gracy! Es freut mich, von dir zu hören. Wie geht's dir?«
„Danke, gut. Hör mal, ich habe nachgedacht...«
»Und was sagst du?« Ich kann ihn ja verstehen. Er macht sich schreckliche Sorgen um seine Kinder und wenn ich welche hätte und bald sterben müsste, wäre ich auch verzweifelt.
»Was hältst du davon, wenn ich deine beiden Kleinen erstmal kennenlerne?«
Ich kann förmlich hören, wie Tyreese am anderen Ende der Leitung zu lächeln beginnt.
»Oh ja! Davon halte ich sehr, sehr viel!«
»Gut, ich erwarte dich, Ashley und Robin am Dienstagabend im Restaurant Zum blauen Delfin.«
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