Tag 1

Grace


Die Uhr an der gegenüberliegenden hölzernen Wand zeigt 16:36 an. Der Tag neigt sich dem Ende zu und ich freue mich auf meinen wohlverdienten Feierabend, da ich einen stressigen Arbeitstag hinter mir habe.

»Schließt du dann ab?« Ich sehe von meinem PC-Bildschirm auf und erblicke meine Kollegin Karen. Sie sieht mich erwartungsvoll an, während sie ihren Schlüsselbund in die eine Hand nimmt und ihre Louis Vuitton Tasche mit der anderen schultert.
»Ja mache ich. Hast du die Bücher in Regal drei noch eingeräumt?«
»Ist erledigt, du brauchst heute also nichts mehr machen. Ich wünsche dir noch eine schöne halbe Stunde«, sagt sie mit einem leichten Lächeln und wendet sich zum Gehen.
»Danke, die werde ich bestimmt haben«, antworte ich und die Freude steht mir ins Gesicht geschrieben. Ich habe heute absolut keine Lust mehr, obwohl ich meine Arbeit liebe. Als Kind war mein größter Traum, Philosophie zu studieren, jedoch verschlug es mich in den Job als Bibliothekarin.
Als Karen weg ist, wird es still in der Empfangshalle. Genau eine Person sitzt noch auf einem der gemütlichen dunkelroten Sofas und liest in einem dicken Schmöker. Es ist ein alter Mann mit langem, grauen Bart. Ich überlege, ob ich ihn darüber informieren soll, dass die Bibliothek bald schließt, doch gerade als ich meinen Platz an der Empfangstheke verlassen möchte, legt der Herr das Buch zur Seite, erhebt sich langsam, greift nach seinem Gehstock und verschwindet Richtung Ausgang. Ich kümmere mich noch um die letzten paar retournierten Buchexemplare und beginne dann ebenfalls, meine sieben Sachen zusammenzupacken.

Die junge Frau scheint gestresst zu sein. Sie ist ganz rot im Gesicht und der Schweiß steht ihr auf der Stirn. Es ist auch wirklich heiß hier drin; im Café du soleil.
»Den Kirsch-Cupcake mit Sahne, bitte.« Ich sehe ihr aufmerksam dabei zu, wie sie die Glasscheibe der Vitrine zurückschiebt und den Muffin mit einer silbernen Metallzange herausholt. Ihre kurzen brünetten Haare hängen aus einem unsauberen Zopf. Ich hasse unordentliche Frisuren. Am liebsten würde ich ihr ihre Haare richten.
»Das macht dann 2,20.« Ihr Ton ist scharf; duldet keine Widerrede. Ich krame in meinem Portemonnaie herum, bis ich die richtigen Münzen zusammengekratzt habe. Ich muss echt mal wieder ausmisten. Ich überreiche sie der Barista extra übertrieben lächelnd. »Dankeschön. Schönen Tag noch!«, wünsche ich ihr und kehre dann um. Vielleicht würde es nicht schaden, dem Laden einen neuen Namen zu geben, denn eine Sonne hat diese unfreundliche Barista bestimmt noch nie in ihrem ganzen Leben zu Gesicht bekommen.
Als sich die Tür hinter mir schließt und ein eisiger Windstoß unter meine dünne Fleece-Jacke kriecht, erzittere ich. Auf meinen Armen bildet sich eine Gänsehaut und ich bereue es, mir heute Morgen eingebildet zu haben, es würde warm werden, nur weil die Sonne bereits schien. Ich sollte vielleicht doch auf den Wetterbericht hören. Obwohl, der stimmt ja auch so selten, dass man genauso gut eine imaginäre Wetterhexe fragen könnte.
Ich seufze und setze mich in Bewegung. Vielleicht wird mir ja etwas wärmer, wenn ich einige Schritte laufe. Als ich ein Stück weit gegangen bin, befreie ich den Muffin aus dem Papier und werfe letzteres in den nächsten Mülleimer. Ich freue mich schon den ganzen Tag auf dieses kleine braune Ding mit den süßen, roten Kirschen im Inneren. Herzhaft beiße ich hinein und schließe die Augen. Der Fruchtsaft verzaubert meine Geschmackssinne und ich fühle mich sofort wohler.

In meiner Wohnung ist es stickig. Als ich meine Schuhe und die hellblaue Jacke ausgezogen habe, reiße ich in der kleinen Küche und im Wohnzimmer die Fenster auf.
»Shila? Shiiila!« Ich öffne eine der unpraktischen Dosen, häufe ungefähr die Hälfte in den gelben Futternapf und stelle ihn danach auf den Boden. Da höre ich auch schon leises Tapsen, das immer schneller wird. Ein Schmunzeln stiehlt sich auf meine Lippen.
»Natürlich. Das ist doch typisch für dich, mh? Du folgst nur meinen Anweisungen, wenn es ums Essen geht.«
Das weiche, graue Fell gleitet durch meine Finger und all die Unruhe und der Stress des Tages verschwinden. Ich streichle meine Katze Shila ein paar Mal, bis ich aufstehe und die halbvolle Dose zurück in den Eckschrank stelle. Lautes Schmatzen erfüllt den Raum. Ich schaue auf die Uhr. Draußen ist es inzwischen dunkel geworden und ich frage mich, was Ava wohl gerade macht.

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