Wenn das Leben fällt
Den ganzen Tag war ich mit brodelndem Gemüht durch den westlichen Teil der Stadt gelaufen, ehe ich im Wald angekommen war und die ganze Zeit auf Riley gewartet hatte. Ich war mir nicht sicher, ob er kommen würde, aber da ich sein Handy auf den Boden geschmissen hatte und das ja mal ein Zeichen sein musste, war ich recht optimistisch. Ich wusste noch nicht, was genau ich tun würde, wusste noch nicht so recht, wie ich mit ihm reden würde – falls ich das überhaupt könnte. Denn in mir war diese um sich schlagende Flamme noch nicht erloschen und wartete nur darauf, endlich zuschlagen zu können.
Wenn ich jetzt so darüber nachdachte, wusste ich gar nicht, was genau ich mir eigentlich erhofft hatte. Riley war ein Rebell, das hatte ich ja alles gewusst, und doch war ich auf seine Täuschung hineingefallen. Ich hatte ihn unterstützt, ihn und die Rebellen. Ich hatte eingesehen, dass es den Rebellen nur um ein besseres Leben ging und dass ich nicht anhand einer Tat an ihnen Rachen verüben konnte, aber das rechtfertigte gar nicht Rileys Verhalten. Natürlich wollte er, dass ich wegen meiner Kräfte auf seine Seite kam, aber er wusste, dass ich das nicht würde – und nicht könnte. Ich war nicht wütend auf ihn, weil er versucht hatte, mich auf seine Seite zu ziehen, sondern weil er mit mir wie ein Fisch an der Angel gespielt hatte, mich getäuscht und mir etwas vorgespielt hatte, das mir nach Langem wieder das Gefühl gegeben hatte, jemanden nahe zu sein. Doch mit einem Mal war es, dieses Gefühl, was mich aufrecht gehalten hatte, weg gewesen, wie ausgelöscht, als wäre es nie da gewesen.
Ein Knacken in weiter Ferne ließ mich sofort aufhorchen und den Atem anhalten, sodass ich das Geräusch besser hören konnte. Mein Puls raste, meine Gefühle spielten verrückte. Und tatsächlich waren es Schritte, die ich dort vernahm, die immer näherzukommen schienen.
Ich stieß mich von einem alten, knarrenden Baum ab und trat in das Meer aus von grünen Moos bedeckten Steinen, die sich an einem Fleck versammelt hatten. Mir rauschte das Blut in den Ohren und mein Herz setzte einen Moment aus, ehe es hektisch weiterschlug.
Eine erschöpft wirkende Person kreuzte mein Blickfeld und hatte sofort meine ganze Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Wie nicht anders zu erwarten, war es Riley, der da vor mir stand, der Gesichtsausdruck bedrückt, leidig, dennoch ein wenig ausdruckslos. Schwer atmend blieb er taumelnd stehen, die Schultern hängend, das Funkeln in den Augen nicht vorhanden, als hätte er die starke Rebellenseite einfach abgelegt. Rey schluckte stark, ehe den Kopf leicht schief legte und sagte: »Caitlyn, ich ... Das, was du gehört hast entsprich nicht ... der Wahrheit.« Die letzten Worte erklangen nur noch erstickt, da sich mein Krieger um ihn geschlungen hatte, und Rey die Luft zum Atem nah. Riley hob dem Kopf zum Himmel, nahm seine Augen, die mit einem Blick erfüllt waren, den ich nicht beschreiben konnte, aber nicht von mir.
Jedoch machte mich dies nur noch wütender, sodass ich den Wind, der nach Macht ringend um meine Hände spielte, den einfachen Befehl gab, Rey nach hinten zu schleudern. Und genau das tat er: Keinen Wimpernschlag später flog er mit einem Ruck nach hinten und schlug stöhnend auf dem von Steinen und spitzen Stöckern übersäten Waldboden auf. Der Wind kreiste über dem Rebell, als wäre er ein ausgehungerter Geier, ließ nicht von der Gestalt ab, die sich vom Boden abdrückte, um sich aufzurichten.
Doch war ich schneller und so hob ich ihn gleich wieder an. Der halsbrecherische Wind zerzauste sein rabenschwarzes Haar, warf seinen Kopf zurück, übernahm die Kontrolle über seine Gelenke. Er schwebte völlig in der Luft, der Wind zerrte mit endloser Kraft an ihm. Mit einem Ruck richtete ich ihn senkrecht zum Boden, außerdem so, dass ich mit ihm auf Augenhöhe war, im in dieses wundervolle Blau sehen konnte, das Gefühle sprach, die ich nicht verstand.
»Wie kannst du mir das nur antun?!«, schrie ich ihn frustriert an, während der Wind ihn ohne große Schwierigkeiten in der Luft behielt.
Rey versuchte seinen Kopf ein wenig zu senken, doch der Wind hielt ihn oben, gab ihm keinen einzigen Moment die Oberhand. Der Wind, dieses Etwas, das für viele keine Gefahr zu sein schien, hielt Riley in Schach, ließ nicht von ihm ab. Der Rebell, der einige Zentimeter vor mir in der Luft schwebte, versuchte zu schlucken und brachte erstickt heraus: »Ich habe nicht ...«
Ich drückte ihm kräftig die Kehle zu und verzog vor Wut das Gesicht. »Nicht was?«, knurrte ich, mein Atem raste ungebändigt vor sich hin. »Was hast du nicht, Riley.« Meine Finger taten weh, meine Gelenke fühlten sich steif an, dennoch kontrollierte ich den Wind weiter, gab Rey keine Chance, mich anzugreifen. Aber eigentlich wollte ich das. Ich wollte, dass er mich angriff – er war mein Feind. Gewissermaßen zumindest. Ich wollte meinen Frust irgendwo abbauen.
»Dich angelogen«, brauchte er hervor, während er erstickt nach der kostbaren Luft rang.
Ich starrte ihn lange an. Ihn, der gefangen war, mich belogen und hintergangen hatte. Ihn, den Rebell, für den ich eins mehr als Verbundenheit empfunden hatte. So lenkte ich den Wind mit einem Knurren in eine andere Richtung, er schleuderte Riley augenblicklich einige Meter von mir, der sich daraufhin erschöpft aufrappelte. Er keuchte, hustete, aber griff mich nicht an. Verdammt, er griff mich einfach nicht an! »Caitlyn, du musst verstehen ...«
Mithilfe des Windes hob ich ihn wieder hoch, es dauerte keinen Augenblick, und schleuderte ihn erneuert fort. Doch auch diesmal rappelte er sich nur keuchend auf, rang nach Luft und versuchte das Gleichgewicht zu finden, während ich auf eine Reaktion von ihm wartete. Er hatte Kräfte, er konnte kämpfen, aber er tat es verdammt noch mal nicht! »Warum kämpfst du nicht?«, brüllte ich ihn an und knickte die Finger immer weiter ein, der Wind spielte umso stürmischer um meine Finger, fuhr mir ungebändigt durch die Haare und wartete auf seinen Angriff.
»Ich will dich nicht bekämpfen«, hauchte Riley und musste sofort wieder husten. Weiterer Frust, Verärgerung und Zorn machten sich in mir breit, da er nicht gewillt war, sich mir ordentlich zu stellen. Ich griff ihn an und er, dieser Betrüger, tat nichts dergleichen.
»Wieso nicht?!«, knurrte ich tief aus der Kehle und sah ihn mit stechendem Blick an, den er aber Stand hielt.
»Weil ich nicht dein Feind bin«, flüsterte er, doch der Wind trug seine Antwort zu mir, sodass ich sie klar und deutlich verstand. Riley stemmte die Hände in die Knie und rang immer wieder nach Luft, die ich ihm für gewisse Momente genommen hatte.
Ich lachte trocken auf und ballte die eine Hand zur Faust. »Wie witzig«, stieß ich hervor und trat einen Schritt auf ihn zu, mein Krieger blieb in unmittelbarer Nähe. »Willst du mir wieder weismachen, dass es irgendwelche Straßenbanden gewesen sein könnten. Es waren die Rebellen, Riley, und daran kannst du nichts ...«
»Die Rebellen haben deine Familie nicht getötet!«, schrie er mit krächzender Stimme. Er biss die Zähne aufeinander und rappelte sich mit viel Überwindung auf, während er mich mit bittenden Blicken ansah.
Erst starrte ich ihn nur an, bis meine Gefühle wieder in Rage gerieten und ich ansetzte: »Du...« Ich trat einen Schritt vor, rief schon den Wind auf, diese unsichtbare Macht, um Riley das heimzuzahlen, was er mir angetan hatte, doch Riley sagte etwas, das mich wie erstarrt stehen ließ.
»Es war der Officer.«
Ich wusste nicht, ob es Überrumplung, Irrglaube und pure Fassungslosigkeit waren, aber ich starrte Riley nur an, nahm jeder seiner Bewegungen wahr. Ich konnte nichts sagen, nicht antworten, ich war sprachlos. Wie konnte er nur so hinterhältig sein und eine Tat, die die Rebellen begangen hatten, dem Officer anhängen. Ja, er herrschte vielleicht nicht gut, aber der Officer hatte nichts von den Quator gewusst. Er hatte keine Ahnung, bis ich zu ihm gegangen war. Er war nicht der Böse, der meine Familie ermordet hatte.
Plötzlich erfasste mich so eine Wut, dass der Wind Riley mit voller Wucht in die Luft beförderte, der die Augen aufriss, aber kein Ton über die Lippen brachte, ihn wie in einem Tornado herumwirbelte, ehe ich schrie, die Augen zusammenkniff, bis ich ein lautes, ohrenbetäubendes Knacken hörte, das mich zusammensacken ließ.
Schwer atmend kniff ich die Augen zusammen, meine Hände zitterten, die Finger schienen steif. Mein Atem hatte keinen Takt, mein Herz pochte wie wild. Die Wut war da, ebenso wie Frust und Zorn, Enttäuschung und Verachtung, doch gerade beschlich mich ein unangenehmes Gefühl. Eines, das man nach Taten oft bekam. Ich wusste nicht, ob ich es als Reue identifizieren konnte, aber plötzlich fühlte ich mich niedergeschlagen und unglaublich müde. Ich wollte die Augen nicht öffnen, ich scheute mich vor dem Anblick, der mich erwarten würde. Ich war wütend gewesen, wie so oft, und in solchen Phasen tat man Dinge, die man zunächst, nur in diesem winzigen Augenblick, für richtig hielt, als richtig empfand, obwohl sie doch so falsch waren. Auch diesmal hatte ich mich von diesen hinterhältigen Gefühlen leiten lassen, die sich nach Rache, nach Wiedergutmachung gesehnt hatten. Ich wollte die Augen nicht aufschlagen, um das zu sehen, was ich in meiner Phase der Verbitterung angerichtet hatte. Ich wollte nicht sehen, was ich mit meinen Kräften bewirkt hatte.
Ein Schluchzer kam mir über die Lippen. Ich verurteilte, hasste, verachtete mich für das, was ich eben getan hatte, obwohl es erst richtig gewirkt hatte, obwohl ich auf Vergeltung aus gewesen war.
Ich fing an zu zittern, obwohl es nicht kalt war, während der Wind mir zart über die Wange strich, als würde er mich streicheln, mich trösten. Es war, als würde er mir sagen wollen, dass es nicht so schlimm sei. Aber das war es. Es war nur ein Moment gewesen, in dem ich die Fassung verloren hatte, und schon hatten andere dafür einstecken müssen.
Ich öffnete die brennenden Augen und blickte sofort zu der Gestalt, die dort als schwarzer Fleck reglos am Fuße eines Baumes lag. Ich schlug mir die Hände vor den Mund und fing an zu wimmern, während mir die Tränen, die ich versuchte zurückzudrängen, unaufhörlich über die Wangen liefen. Ich zitterte am ganzen Leib, als ich den Stamm des Baumes hinaufblickte und sah, dass der Baum in der Mitte abgeknickt war, gerade so noch stand, ohne an der Stelle zu brechen.
Es war ein schockierendes Bild, was mir da vor Augen lag. Ich konnte – wollte – nicht einsehen, was da passiert war, was ich getan hatte. Es kam mir zu surreal vor, um wahr zu sein. Es konnte nicht sein.
Mit zitternden Gliedern erhob ich mich vom erdigen Waldboden und ging auf die Gestalt zu, die ohne jegliche Regungen dort lag, einsam, verlassen. Stöcker knackten unter meinen Füßen und bei jedem Mal zuckte ich zusammen. Mein Zittern wurde intensiver, als ich mich ganz langsam und mit schwirrendem Kopf vor Rey niederließ, an dessen Kopf eine große Blutwunde saß, aus der langsam Blut rann.
Ich hielt mir die Hand vor den Mund, erstickte meine Schluchzer oder die leisen Schreie, die mir über die Lippen kommen wollte, weil ich jemanden das Leben genommen hatte, nur weil ich in einem winzigen Moment verbittert gewesen war.
»Nein«, hauchte ich und stand abrupt auf. Das konnte einfach nicht sein, ich konnte ihn nicht umgebracht haben. Ich ... Ich hatte ihn wirklich umgebracht. Mörder, sagte mir eine Stimme in meinem Kopf und ich wimmerte wieder, drehte der leblosen Gestalt, die einst den Namen Riley getragen hatte, den Rücken zu, und versuchte meine Schluchzer hinunterzuschlucken, während ich mir die Hand auf den Mund presste und die Augen schloss, aus denen endlos scheinend Tränen strömten.
Es schien eine Ewigkeit her zu sein, als ich die Augen wieder aufschlug und in den Wald spähte, der sich um mich ergab. Die unterschiedlichen Grüntöne vermischten sich zu einer Schicht, leuchteten in einem intensiven, aktiven Ton, der einen eigentlich lächeln ließ. Der Anblick der Natur war wunderbar, aber das konnte ich gerade nicht wahrnehmen. Ich starrte nur vor mich hin, zerriss mir die Gedanken über vergangene Dinge, über Taten, Gesagtes, Gefühle, die einst gewesen waren. Ich dachte an etliche Momente, ließ sie Revue passieren, stellte mir jeden noch einmal genau vor, versuchten jeden noch so erdenklichen Moment zu spüren, zu riechen, ihn noch einmal als real zu empfinden. Doch blieb Leere in mir. Endlose, herzzerreißende Leere, aus der ich keinen Ausweg sah. Ein Gefühl war in mir, das ich kaum beschreiben konnte. Ich war wütend auf mich, sauer, aber auch niedergeschlagen, traurig, und dennoch rückten alle diese Gefühle in den Hintergrund und nur das Gefühl von reiner Leere fand sich in mir wieder, die mich unaufhaltsam in sich gefangen hielt. Ich konnte nicht weinen, nichts sagen, nicht schreien oder gehen. Ich stand nur da, starrte vor mich hin, dachte nicht mehr nach. Ich stand da, inmitten eines grünen Flecks in dieser grauen Welt und tat Momente lang nichts, starrte, schluckte, atmete, lebte.
»Lass es mich dir zeigen.« Die Stimme war sanft, ganz fein hörte ich sie in meinem Kopf, Rileys sanfte, beruhigende Stimme, die alle Zweifel verscheuchte. Sie war leise, doch ich verstand ihn. Ich dachte an ihn, an ihn und seinen Tod.
Ich atmete tief durch und da blieb mir der Mund offen stehen, die Sekunden rannen nur so dahin, brennende Tränen bildeten sich in meinen Augen und liefen mir sofort die Wangen hinab. Ich schluckte stark und schlug mir mit aufgerissenen Augen die Hand vor den Mund, starrte. Es war nicht möglich, es war ...
»Lass es mich dir zeigen, Caitlyn.«
Der Tränenschleier verbarg mir die komplette Sicht, als ich herumwirbelte, ein wenig das Gleichgewicht verlor, es dann aber zitternd wiederfand. Ich erstickte einen kleinen Schrei und presste mir die zitternde Hand auf den Mund, um nicht zu schluchzen. Tränen liefen mir wie kleine Botschafter über das Gesicht und trafen schließlich auf dem grünen Waldboden auf. Ich konnte einfach nicht beschreiben, was in mir vorging, wie ich fühlte, wie glücklich und erleichtert, aber auch beschämt ich war. Ich konnte nicht erklären, was ich in diesem Moment für Glück empfand.
Rileys blaue Augen, gleich Saphiren oder dem Himmel, blickten mich mit so viel Gefühl an, dass ich nur noch mehr schlucken musste. Eine Sache, die mich nur noch mehr erschreckte, war die Tatsache, dass Verständnis in seinen Augen lag. Er sprach es nicht aus, aber er meinte es. Er verstand es. Dass ich ... Aber wie konnte man so etwas verstehen? Wie bitte konnte man für solch eine Tat Verständnis zeigen? Wie konnte er mir dies gegenüber hervorbringen?
Der Rebell, aus dessen Wunde immer noch ein wenig Blut rann, kam einen Schritt auf mich zu, jede Bewegung schien ihm zu schmerzen und streckte mir die Hand entgegen. Er schluckte stark, als er meine schlaffe Hand ergriff und hauchte: »Bitte.«
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