Tag für Tag
Seit Tagen wurde ich von dem Opa, den ich jetzt liebevoll Elijah nannte, zum Militärgelände gefahren und wieder abgeholt. Er schwieg wie immer und bretterte wie ein Irrer durch die einsam wirkenden Straßen. Auch heute war es wieder so: Er sagte nichts, war totenstill. Mit ihm zu sprechen hatte ich letztendlich auch aufgegeben, dabei hatte ich noch nicht mal eine Ahnung, worüber ich mit ihm reden könnte. Wahrscheinlich hätte ich ihn auch vollquatschen können und er hätte nicht eine Reaktion gezeigt. Aber so war mein lieber Elijah.
Mit gemischten Gefühlen schritt ich durch die leeren Gänge, in denen ich ab und zu einmal einigen Soldaten begegnete, die aber glücklicherweise in ihre eigenen Gespräche verwickelt waren. Ich schaute während des Laufens auf den grauen Boden, sah meine leichte Spiegelung und seufzte schwer. Ich blieb vor den schwarzen Flügeltüren, die in einen der vielen Trainingsräume führten, stehen und sah durch das eingelassene Glas. Hinten, in der Dunkelheit verborgen, dem Licht entronnen, sah ich eine Gestalt, die auf etwas Dunkles in der Luft einschlug. Ich starrte ihn Sekunden an und frage mich auf einmal, warum er so viel Frust besaß. Ich erkannte es an der Art, wie er zuschlug, wie er den Sandsack umrundete, als wäre er sein richtiger Gegner. Ich sah es in seinen Gesichtszügen, in seinen Augen.
Ich nahm meinen Blick von ihm und band mir meine Haare zu einem Pferdeschwanz. Ich trug nicht oft einen Zopf, da mich diese Frisur zu sehr an meine Mutter erinnerte, der ich wie aus dem Gesicht geschnitten schien. Nach einem Moment der Selbstbeherrschung stieß ich die Türen auf, sodass mir die gesamte Aufmerksamkeit der in der Dunkelheit verborgenen Person galt. Er ließ die Arme sinken, trat zwei Schritte nach vorne, sodass ich sein Gesicht sehen konnte, das durch die Lampe, die ihn von der Seite anschien, Schatten aufwies. Rey legte den Kopf leicht schief, seine himmelblauen Augen funkelten mich an. »Morgen, Prinzessin«, sagte er und trat auf die Matte, auf der wir seit Tagen, die sich für mich aber schon wie Wochen anfühlten, trainierten. »Matte«, sagte er tonlos und schnürte sich die weißen Bänder von den Fäusten.
Ich folgte seiner Anweisung ohne Widerworte, ließ meinen Rucksack, in dem eigentlich nur ein wenig Obst, eine Trinkflasche und ein Handtuch ruhte, fallen und schüttelte die Arme aus, die ebenso wie die Beine von dem ganzen Training ein wenig schmerzten.
Ich hatte Rey noch nicht gefragt, warum er sich genau vor den Augen des Officers aufhielt. Ich hatte ihn nicht gefragt, ob James auch ein Rebell war – wobei ich mir eigentlich ziemlich sicher war. Und noch wichtiger: Ich hatte ihn nicht gefragt, warum er eigentlich ein Rebell war. Eigentlich hatte ich ihn nie irgendetwas gefragt. Und so war es auch heute: Ich fragte nicht. Wir traten uns mit Respekt gegenüber – auch wenn ich diesen mit Murren und Knurren rüber brachte –, sprachen nicht über das, was wir wollten, was wir sollten, was wir waren.
»Der Officer«, begann er und lachte kalt auf, »hat mich gebeten, dich in deinem Spezialgebiet zu trainieren. Eigentlich kann ich dich da nicht viel trainieren, aber wir hören ja alle brav auf den guten Herren.« Er schnaubte verächtlich und holte tief Luft, ehe er sich mir ganz zu wandte.
»Er hat es dir gesagt?«, fragte ich ungläubig.
Er lachte kurz. »Ja, so ziemlich. Er vertraut doch seinen Besten.«
»Aber du bist ein Rebell.«
»Oh, Weltuntergang«, meinte er etwas kühler und hob die Augenbrauen, ehe ein Grinsen über sein markloses Gesicht huschte. »Aber das weiß der liebe und gutmütige Officer doch nicht.«
Und wieso?, wollte ich eigentlich fragen, aber irgendwie brachte ich diese oder ähnliche Fragen nicht über meine Lippen. Ich wusste nicht, warum, aber es klappte einfach nicht. »Also gut«, meinte ich dann. »Was machen wir?«
Rey grinste breiter und strich sich einige Strähnen seines schwarzen Haares aus der Stirn. »Üben.«
Ne, echt, dachte ich nur und verdrehte die Augen, ehe ich die Arme vor der Brust verschränkte. Quentin, mein Bruder, hatte immer gemeint, dass ich so immer mehr Selbstbewusstsein und Stärke ausüben würde. Und das war in Reys Gegenwart auch notwendig.
Er hingegen lief zu einer der dunkeln Wände und schaltete an einem ebenfalls dunkelgrauen Kasten weiter Lampen ein, die diesen Ort ungemütlich und befremdlich wirken ließen, bevor er zurückkam. Erst jetzt sah ich, dass rund um die Matte Waffen lagen. Messer, Pistolen, Elektroschocker, das eine oder andere Schwert, ab und zu auch ein Säbel. Ich erkannte sogar ein Basketballschläger, den ich schief ansehen musste. »Willst du mich mit denen töten oder soll ich das tun? Wenn dem so sei, würde ich gern als Erstes«, meinte ich abweisend und ließ meinen Blick über die ganzen Gebilde schweifen.
Rey lachte wieder, und als ich ihn anblickte, lag ein Grinsen mit leichter Wärme um seine Lippen, das irgendwie zu ihm passte. »Nicht so ganz«, sagte er schließlich und ließ sein Lachen in einem Husten ersticken. »Ich möchte, dass du sie anhebst.«
Verdutzt sah ich ihn an, zog die Brauen zusammen, starrte. Aber er meinte es tatsächlich ernst, wobei ich nur einen Gesichtsausdruck machen konnte, der zwischen Verständnislosigkeit und Verwunderung lag.
»Aber alle. Gleichzeitig.«
Ich riss die Augen auf. Gleichzeitig. Alle Waffen. Ich blickte noch einmal über alle und schätzte sie auf vierzig Exemplare. Alle auf einmal, ging es mir wieder durch den Kopf und da kam der Selbstzweifel in mir auf. Ja, ich konnte Personen anheben, Bäume entwurzeln, aber es war etwas anderes, vierzig Stück vor einem zu haben. Das Gewicht machte nicht allzu viel aus, aber die Anzahl war da schon gewaltiger. Ich musste den Wind auf jedes einzelne dieser Modelle richten, ihn konstant halten, aufrechterhalten. Ich muss mich auf jeden Punkt einzeln und doch gleichzeitig konzentrieren, was ich bis jetzt als unmöglich gesehen hatte. Drei Dinge gingen ja gut, aber vierzig war selbst für mich – musste ich leider zugeben – zu viel. Viel zu viel um mich besser auszudrücken.
»Darf ich dich eigentlich mal etwas fragen?«, lenkte ich vom Thema ab und legte den Kopf schief.
Rey formte die Augen zu Schlitzen und stöhnte übertrieben. »Wieso? Bist du so interessiert an meinem Leben?«
»Nein, aber ich würde gerne wissen, warum du dir so sicher bist, dass ich dich nicht an den Officer verrate. Warum vertraust du mir in diesem Punkt, wenn du doch weißt, dass ich dich am liebsten tot sehen würde?«
Er lachte und fuhr sich durch sein Haar. »Ich weiß es einfach.« Er trat einen Schritt auf mich zu. »Du wirst mich nicht verraten.«
»Pff.« Ich stieß ungläubig Luft aus. »Erstens mal ist das kein Grund, sondern eine wage Vermutung. Und zweitens: Ich würde am liebsten immer noch zum Officers gehen und sagen, wer du bist. Das Einzige, was mich davon abhält, ist die Tatsache, dass du mich trainierst. Was aber wieder die Frage aufwirft, was dabei für dich herausspringt. Was bringt es dir die Waffe des Officers zu trainieren, Rey, die er gegen euch Rebellen einsetzen will?«
Lange starrte er mich an, emotionslos, ehe sich dieses typische Grinsen wieder bildete, bei dem ich nur die Augen verdrehen konnte. »Fragen über Fragen. Und doch gibt es keine Antworten.« Er lachte in sich hinein. »Und nun los.« Rey zeigte auf die Waffe und verschränkte die muskulösen Arme vor der Brust.
Ich blickte ihn noch lange an, wartete auf eine Antwort, aber als ich mir sicher war, dass keine mehr kommen würde, stöhnte ich nur und atmete tief durch. Ich kniff die Augen zusammen und stieß Luft aus, bevor ich mir auf die Unterlippe biss und nur durch einen Gedanken den vertrauten Wind aufrief. Unsichtbar umspielte er meine Hände, bildete kleine Wirbelstürme, die meine Hände einhüllten. Ich konzentrierte mich vollkommen auf ihn, meine Gedanken spielten sich nur um ihn ab, über seine Macht, seine Kraft, seine Wildheit, über seine einzigartige Freiheit. Ich dachte nur daran, wie ich Gegenstände anheben könnte, wie ich sie in die Luft hob. Der Wind spielte immer noch um meine Hände, zart, flüsterte mir in seiner einzigartigen Sprache Worte zu, die ich nicht verstehen konnte. Ich fühlte, wie er auf die Dinge zuging, die ich fest anvisierte, wie er jedes einzeln anhob, es in die Luft beförderte. Ich spürte ihn, wie er mir durch das Haar fuhr, mich freudig begrüßte, mit mir spielte. Ein Lächeln bildete sich um meine Lippen. Er war immer noch da, groß und kraftvoll. Ich spürte jeden einzelnen Gegenstand, der in der Luft gefangen schien. Es war ein berauschendes Gefühl, ihn zu spüren, mit ihm eine Macht zu haben, die ich nicht zu definieren vermochte.
»Und jetzt richte sie auf mich«, erklang Reys Stimme aus weiter Entfernung. Es fühlt sich so an, als wäre ich in einem Traum und wolle nicht aufwachen. Das Gefühl war so berauschend und fesselnd, voller Macht und Einfluss, dass ich dieses Gefühl nicht hinter mir lassen wollte. Dennoch rang ich mich dazu durch, meine Augen zu öffnen und Rey anzublicken. Mir stockte der Atem.
»O Mann«, hauchte ich und ließ meine aufgerissenen Augen über die etlichen Gegenstände schweifen, die wie durch eine unsichtbare Schnur in der Luft hingen.
»Richte sie auf mich«, erklang seine Stimme erneuert und ich riss mich von dem atemberaubenden Anblick los. Seine Augen funkelten und ich schluckte schwer. Für einen Moment dachte ich schon, die Verbindung würde abbrechen, aber als ich die Augen wieder zusammenkniff, fühlte sich alles wieder stabil und sicher an.
»Keine Angst, dass ich dich umbringe?«, fragte ich locker, die Augen geschlossen, während sich meine Mundwinkel zu einem Grinsen nach oben bogen.
»Das wirst du nicht«, sagte er voller Überzeugung.
Ich stutzte und wollte schon lachen. Das wirst du nicht, äffte ich ihn nach. Wieso zur Hölle war er sich so sicher? Dachte er, ich zöge hier nur eine Show ab? Dachte er, ich wäre eigentlich gar nicht auf Rache aus? Wenn das so wäre, dann wäre er echt ein schlechter – ein sehr, sehr schlechter – Menschenkenner. So schlug ich die Augen auf und schaute ihm in seine. Die Waffen hingen dennoch in der Luft, unantastbar, starr. »Und woher willst du das wissen?«, fragte ich dann und legte den Kopf leicht schief.
Rey trat einen Schritt nach vorne und kniff die Augen zu einem Spalt zusammen, ehe seine Augen wieder die runde Form annahmen. »Ich sehe es in deinen Augen.«
Ach, echt?, fragte ich mich. Nun, vielleicht hatte ich nicht vor ihm im Augenblick umzubringen, aber irgendwann – dann, wenn ich ihn nicht mehr bräuchte – würde ich es tun. »Nun, das ... ist vielleicht ein Grund«, musste ich eingestehen. Meine Finger und Arme fühlten sich ein wenig eingerostet an, da ich sie wie erstarrt hielt, weil ich dachte, dass ich mit der falschen Bewegung die Verbindung zum Wind abbrechen würde.
»Das ist einer«, meinte er und grinste kurz, ehe er seine kalter Maske wieder aufsetzte und mit dem Kopf auf die etlichen Waffen zeigte, die waagerecht zum Boden um die Matte in der Luft fest hingen.
Ich seufzte leise und konzentrierte mich wieder, gab meinem Krieger neue Informationen und spürte, wie er reagierte. Wie er mit einer Leichtigkeit meine Befehle ausführte, wie er alles perfekt lenkte und steuerte. Ich kniff einen Moment die Augen zu und versuchte etwas, wovon ich mir nicht sicher war, ob es klappen würde: Ich versuchte eine Waffe aus der Masse der anderen herauszufischen, und sie an eine völlig andere Position zu bewegen. Als ich dann die Augen nach kurzen Warten aufschlug, verschlug es mir die Sprache. Genau das Bild, das ich gedacht hatte, dass ich vor mir gehabt hatte, sah ich nun auch. Alle Waffen waren im Halbkreis auf Rey gerichtet, der die Klinge anstarrte, die an seiner Kehle haftete. Am liebsten hätte ich Freudenschreie von mir gegeben und Luftsprünge gemacht. Gott, ich hatte nie gewusst, dass ich so etwas Gewaltiges könnte. »Wahnsinn«, sagte ich zu mir selbst und stieß einen leisen Freudenlaut aus.
»Das ist ja alles gut und schön«, setzte er an, starrte aber weiter auf die Waffe, »aber mich würde es freuen, wenn du die Klinge von meiner Kehle nehmen könntest.«
»Wieso?« Ich musste grinsen und befahl dem Wind die anderen Waffen fallen zu lassen. Sofort reagierte er, ließ diese langsam sinken und legte sie sorgfältig auf den Boden ab. Es war, als würde ich ihn, den Krieger, der immer einen großen Teil meiner selbst ausgemacht hatte, neu entdecken. Als würde ich etwas an ihm erkennen, dass vorher noch nicht da gewesen war. Es war einfach nur der größte Wahnsinn.
Rey knurrte und richtete seine stechend blauen Augen auf mich, bohrte sich in mich.
»Du sagtest doch, du bist dir so sicher, dass ich dir nichts tue«, gluckste ich und zog das Schwert mit einem Mal zurück. Keine Sekunde später hielt ich den mit Leder besetzten Griff in der Hand und grinste es an. »Tja, den Wind zu kontrollieren, hat so seine Vorteile.«
»Allerdings«, grummelte Rey und rieb sich nachdenklich das Kinn.
»Was nun? Soll ich vielleicht noch das gesamte Militär ...?« Die Tür wurde unerwartet aufgerissen und ich wirbelte herum. Ich hatte schon fest damit gerechnet den Typen mit den unnatürlich grünen Augen wiederzusehen, aber diesmal war es eine junge Frau, die mit einem Lächeln in den Raum trat. Abwertend musterte sie mich mit den grau stechenden Augen. Ihr rotbraunes Haar war zu einem Zopf gebunden und ihr Gang war lässig, fast überheblich und das Grinsen verriet mir so einiges über sie.
»Militärgelände anheben«, murmelte ich in mich hinein und verfolgte wie ein Raubtier jede ihrer Bewegungen. Sie strahlten Selbstbewusstsein, aber auch einen großen Teil von Arroganz aus.
»Rey, was machst denn hier allein mit ihr?«, spuckte sie das Wort förmlich aus und so langsam begann das Wasser in meinem Inneren zukochen. Langsam, noch leicht, aber es wurde mit jeder verstreichenden Sekunde zu einer brodelnden Masse.
Rey schien das alles kalt zu lassen, denn er starrte mich weiter an, während diese junge Frau sich an seine Schulter lehnte und ihm so nah kam, dass ich schon fast dachte, sie würde ihn verschlingen. Dann würde es mir wenigstens erspart bleiben, ihn zu ...
»Ich mein ja nur. Auch wenn der Officer dir das angeboten hast, kannst du doch nicht deine gesamte Zeit hier verschwenden.«
Vor allem nicht mit ihr, dachte ich ihr Gesagtes zu Ende und musste knurrend. Warum war die so verdammt eingebildet? Hatte ich mich etwas an ihren Freund rangemacht? War ich ihm zu nahe geraten? Wenn ja, dann tut es mir ja so überhaupt nicht leid. Was dachte sie? Dass ich mir Rey, einen dämlich grinsenden Rebell, angeln würde? Aber klar doch.
»Das ist aber wichtig, Tania.«
»So wichtig kann das doch nicht sein. Oder Schätzchen?«
Ich reckte das Kinn und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich wollte etwas erwidern, aber diese Tania kam mir zuvor. Sie ging auf mich zu und hob meine Strickjacken abwertend zwischen zwei Finger, während sie sagte: »Denn wirklich geeignet bist du doch nicht. Oder siehst du das etwas anders?«
»Tania«, knurrte Rey mit tiefer Stimme und trat näher.
Sie ließ sich jedoch nicht beirren und stieß kühl Luft aus. »Du kannst doch nicht wirklich ernst meinen, dass dieses Stück von einem Mädchen überhaupt eine Chance hat, gegen einen von uns Soldaten anzukommen. Sie hat ja noch nicht mal Kraft in den Armen«, höhnte sie und stieß mich an der Schulter ein Stück zurück.
Du hast ja so etwas von keine Ahnung, knurrte ich in meinen Gedanken und ballte die Hände zu Fäusten. Ich senkte ein wenig den Blick und biss die Zähne zusammen.
Sie wirbelte mit den Händen herum. »Du kannst doch nicht meinen, Rey, dass dieses Stück mehr wert ist, als ich ...« Im Bruchteil einer Sekunde wurde sie so stark gegen die Wand gedrückt, das ihr Gesagtes in einem erstickten Schrei unterging.
Ich schoss vor, zog aus meinem Stiefel mein Messer und hielt es ihr an die Kehle. Mir fiel jetzt gerade auf, dass ich es schon bei Torrence und Rey gemacht hatte. Diese Drohposition einnehmen, um den Gegner kleinzukriegen. Und diesmal war es gut, dass es auch klappte. »Es bin?«, fragte ich amüsiert. »Soll ich dir antworten?«, knurrte ich. »Du bist nicht ein Stück besser als ich, hast nicht ein Stück mehr Macht, als dass ich sie habe. Du bist ein Nichts im Gegensatz zu mir. Schwach und leicht zu töten.« Ich musste hämisch grinsen und beugte mich so nahe zu ihr heran, dass ich flüsterte: »Ich sehe die Angst in deinen Augen. Nicht vor dem Tod, sondern dem Schmerz. Ich kann sie förmlich spüren, diese Angst. Sie ist ein Teil von dir.« Ich sah sie einen langen Moment mit beißendem Blick an, ehe ich ruckartig von ihr abließ, meinen Krieger zurückrief, der Wind um mich abnahm und zwei Schritte zurücktrat. Ich ließ den Dolch in den Stiefel gleiten und schaute mit einem hinterhältigen Grinsen auf die Gestalt, die sich verängstigt an die Wand drückte. Ich betrachtete das eine Stück des Tattoos an ihrem Unterarm und musste knurren. Und wieder habt ihr keine Angst vor dem, was genau vor eurer Nase liegt. Ihr seht nicht diese heftige Gefahr, die bald ihre volle Blüte erreichen wird. Ihr habt keine Angst, weil ihr ihn nicht für ernst nehmt. »Du solltest sie hier wegschaffen. Wenn sie jemand sieht, ist es aus mit deiner Freundin«, sagte ich zu Rey, bevor ich mich abwandte, meinen Rucksack nahm und noch immer voller Wut aus dem Trainingsraum stürmte. Ich hörte noch einmal meinen Namen, der sich aber in den Fluren und Gängen verlor, die wie ein Irrgarten waren. So wie meine Gefühle. Ein ganzer Wirbelsturm aus einzelnen Einflüssen, nicht kontrollierbar, unbezwingbar, Welten verändernd.
***
Es war wie immer ein berauschendes Gefühl, ihn um mich zu spüren. Er spielte mit einzelnen Strähnen, hob sie an, sodass es so aussah, als würden sie schweben. Ich breitete die Arme aus und schloss die Augen, während ich den Kopf zum Himmel reckte. Vogelgezwitscher erfüllte diesen friedvollen Ort, gab ihm etwas Einzigartiges, Unnahbares. Er war wie die Oase in der Wüste. Das Wundervolle im Trüben. Grün und einsam, aber doch sprühend vor Leben. Einzigartig und unbezahlbar.
Spielerisch wehte er mir die Haare ins Gesicht, woraufhin ich lachen musste. Ich hatte mir schon oft vorgestellt, der Wind sei eine Person mit einer eigenen Persönlichkeit, frech, aber auch beschützend, freundlich und angriffslustig. Er war mein Freund, den nur ich auf eine für mich auch unerklärliche Weise verstehen konnte.
Ein Knacken hinter mir unterbrach die friedliche Stille, sodass auch das Lächeln aus meinem Gesicht verschwand. Ich senkte die ausgestreckten Arme und schlug die Augen wieder auf. Oben in den hohen Baumkronen hüpften die unterschiedlichsten Tiere vor sich hin, sorglos, frei.
Ein Räuspern brachte mich ganz aus dem Gefühl der Sorglosigkeit, der Nähe, der Abgeschiedenheit. Ich atmete tief durch, aber drehte mich nicht um. Ich wusste, wer hier war. Ich wusste, dass er einige Schritte hinter mir stand. Ich wusste all das, auch dass er mir in den Rücken starrte, aber deswegen gab ich meine Position nicht auf. Ich wollte mich nicht umdrehen. Ich wollte nur hier stehen, die frische Luft einatmen, den Wind spüren.
»Es tut mir leid«, erklang seine Stimme hinter mir. Ich hörte einen weiteren Stock unter seinem Gewicht brechen und spürte ihn ganz nah.
»Was soll dir denn leid tun?«, fragte ich, drehte mich aber nicht um, blickte nur nach oben, wo ich den blauen Himmel erkannte, an dem vereinzelte Wolken vorbeizogen.
»Das mit Tania.«
»Wieso entschuldigst du dich für Dinge, für die du nicht die Verantwortung trägst, für die du nichts kannst?« Eine weitere Böe kam auf und wirbelte mein Haar ungestüm um meinen Kopf, wobei ich lächeln musste.
Er sagte nichts, schwieg eine ganze Zeit. Stille legte sich über uns, wir lauschten nur den beruhigenden Natureinflüssen, den Rufen der Tiere, dem Geraschel im Unterholz.
»Ich weiß es nicht«, sagte Rey schließlich und trat neben mich.
Aus dem Augenwinkel erkannte ich ihn. Er trug eine olivgrüne Jacke, das Haar war wie üblich strubbelig, was in mir das Gefühl weckte, ihm durch das Haar zu fahren. Seine blauen Augen spähten in den Wald, der auf den ersten Blick vielleicht an jeder Stelle gleich schien, aber in Wirklichkeit war er ein einzigartiger Schatz, grün, voller Leben.
»Es ist so still«, sagte er irgendwann und spähte in die Blätterdächer.
»Es ist die Natur«, erwiderte ich knapp und blickte in den Wald, der sich wie ein grüner Teppich durch die Landschaft zog.
Reys Kopf drehte sich langsam zu mir, bevor er mich lange und intensiv anblickte. Ich hatte zwar das Gefühl ihn anblicken zu müssen, unterließ es aber. Dann bildete sich auf seinem ausdruckslosen Gesicht ein Lächeln, das mich irgendwie berührte. Ich konnte es nicht definieren, aber irgendwas an dieser Geste war auf eine Weise aufheiternd, freundlich, ehrlich.
»Weißt du«, begann er irgendwann wieder, »ich heiße eigentlich gar nicht Rey.«
Verwundert blickte ich ihn an und zog bei seinem Grinsen nur noch mehr die Augenbrauen zusammen. Irritiert nahm ich den Blick von ihm und spähte wieder in den Himmel, der sich langsam zu verdunkeln schien. »Wie heißt du denn sonst, Nicht-Rey?«, fragte ich deswegen, blickte ihm aber nicht in diese fesselnden, blauen Augen, die einem Ozean glichen und mit nicht nur einem Wort zu beschreiben waren.
»Riley«, sagte er. »Eigentlich heiße ich Riley.«
»Und Rey ist dein Spitzname.«
Er nickte neben mir, die Hände in den Jackentaschen vergraben.
»Wozu das?«
»Der Sicherheit wegen«, antwortete er knapp.
Ich nickte nur und atmete die frische, nach Wald und Moos riechende Luft ein. Ich wusste, dass ich gerade mit ihm, mit einem Rebell sprach, aber ich hatte gesagt, ihn jetzt noch nicht umzubringen. Er war für mich jetzt nur meine Trainer, obwohl es etliche Fragen gab, die mir nur so im Kopf schwirrten.
»Was ist dir eigentlich zugestoßen, dass du die Rebellen so verabscheust?«, fragte Riley nach einer Weile.
Ich knurrte leicht, nahm den Blick aber nicht von den grünen Blätterdächern. Er versuchte nicht mich zu überzeugen, mir etwas einzureden, sondern fragte nur, was damals passiert sei. Und so gestand ich ihm Antwort: »Die Rebellen haben meine Eltern getötet. Und das Gleiche werde ich mit ihnen tun.«
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