Lügen und Wahrheiten?


Das kalte Wasser holte mich aus meiner Müdigkeit. Tropfen für Tropfen rann mir eiskalt das Gesicht hinunter und tropfte in das exquisite Waschbecken. Gold überzog das ganze Bad, ließ es funkeln, und wie ein einziger Schatz aussehen. Ich hingegen war das Gegenteil von diesem funkelnden Glanz. Verschlafen und erschöpft blickte ich meinem Spiegelbild entgegen, musterte jedes Detail in diesem geschafft aussehendem Gesicht. Die ganze Nacht hatte ich nicht geschlafen, nicht ein einziges Auge zubekommen, wie so oft. Meine Gedanken kreisten um so vieles, dass ich es gar nicht zusammenfassen konnte. Es war viel zu viel und auf das meiste hatte ich keine logische Antwort. Die Fragen blieben offen im Raum stehen und versuchten mich mit jedem verstreichendem Moment zu erdrücken. Es war eine innerliche Qual, der ich einfach nicht entfliehen konnte. Eine, die mit meinen Gefühlen und Gedanken, Wünschen und Vorstellungen zusammenhing.

Frustriert, dass ich nicht weiter wusste, stieß ich mich vom Waschbecken ab und riss die Tür des Bades auf. Feine Sonnenstrahlen schienen durch die riesigen Glasfronten und kitzelten mein Gesicht. Und obwohl ich gerade nur die Augen schließen und diesen Moment von Wärme und Nähe spüren wollte, ging ich einfach knurrend weiter, lief durch Flure und Gänge, angeordnet wie in einem Irrgarten, ehe ich mir meinen Rucksack schnappte, ihn über die Schulter schwang und mich aufmachte. Und schon beim Gedanken an das Militärgelände oder an Rey – okay, bei Riley fielen mir etliche, unerklärliche Fragen ein – kamen wieder etliche Fragen auf, auf die ich verflucht nochmal keine Antwort hatte. Es war, als fische ich im Trüben, ginge ein Weg, von dem ich das Ende nicht wusste. Dabei wollte ich doch nur eins: Die Rebellen vernichten. Oder wollte ich das nicht? Genau das war ja der Punkt. Ich wusste es einfach nicht. Ich hatte keine Ahnung, wie ich gerade fühlte, was richtig oder was falsch war.

So verschlossen in meinen Gedanken merkte ich nicht, dass sich mir plötzlich eine Gestalt in den Weg stellte. Und wie das Schicksal es wollte, lief ich genau in die Person hinein. Keuchend stieß ich von der harten Brust ab und taumelte einige Schritte zurück. Kraftlos, wie ich war, hob ich den Kopf und blickte in zwei stahlgraue Augen, die mit dem grauen Haar zu harmonieren schienen. Sein Gesicht war ausdruckslos, abwägend, befremdlich. Doch hellte sich seine Gesichtszüge ein Stück auf, als ich gezwungenermaßen die Mundwinkel ein Stück in die Höhe zog.

»Entschuldigt«, murmelte ich und richtete meinen Rucksack, der mir von der Schulter gerutscht war. Ich fühlte mich unbehaglich, nicht zuletzt wegen meiner gescheiterten Mission. Seit jeher war der Officer verschlossen und strenger zu mir, als würde ich ihm jeden Morgen seinen geliebten Kaffee stehlen. Sébastien redete kaum mit mir, war abweisend und knurrte immer, wenn ich ihn anblickte. Es war zum Haare ausreißen. Überall war es falsch, was ich tat, nicht gut, minderwertig.

»Caitlyn«, meinte er mit einer mir schon fast vergessenen Strenge in der Stimme und so blickte ich von seinen schwarzen Schuhen auf. Ich sah das Spiel seiner Kiefer, ehe er den Mund aufmachte und etwas meinte, das ich für absolut ... durchgeknallt hielt: »Caitlyn, ich bin froh, dass ich dich auf meiner Seite habe. Das ist für uns ein großer Fortschritt gegen die Rebellen, aber dennoch kann es nicht so weitergehen wie bisher. Du bist jung und hübsch. Und wenn du Torrence heiratest, würde das dir eine gute Zukunft sichern. Das ist vielleicht auf einen Schlag ein wenig schnell, aber ich weiß, dass es für dich eine sichere Zukunft wäre.« Er sah mich lange an, sein Ausdruck sprach Bände, doch ich konnte ihn nur anstarren. Er seufzte einmal, ehe er mir streng zunickte und dann verschwand.

Ungläubig, fassungslos – ich hatte dafür keine Worte – starrte ich in den leeren Gang, der von Licht geflutet wurde. Ein wenig schnell, ließ ich es mich ungläubig im Gedanken durchgehen. Es war nicht nur ein wenig schnell, sondern ich wurde hier zu etwas gezwungen, dass ich überhaupt nicht wollte! Nicht in diesem Leben würde ich diesen Sohn von keine Ahnung was heiraten! Ich würde noch nicht einmal daran denken, mit ihm länger als zwanzig Minuten in einem Raum zu sitzen! Das ... das war doch ein Scherz. Er konnte mich doch ... Arrh!

Wütend fegte der Wind durch den Gang und riss die Bilder mit einem Mal von der Wand, stieß teure Vasen um, schleifte die Scherben an den Fensterwänden entlang. Zorn wallte in mir auf, Gefühle, die mein ganzes Gemüt einnahmen. Ein Schritt und du kommst nicht mehr zurück. Nie mehr, gingen mir Rileys Worte durch den Kopf und Tränen sammelten sich langsam in meinen Augen, während aus der Wut und dem Zorn pure Verzweiflung wurde.

***

»Er ist nicht hier«, meinte der Soldat schulterzuckend und schlug erneuert auf den Sandsack ein.

Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen. »Wie: Er ist nicht hier

Seufzend hörte der Soldat auf und kam zu mir. Er begutachtete seine Fäuste, ehe er mich mit monotonem Blick ansah. »Rey ist nicht hier. Keine Ahnung, wieso. Auf jeden Fall war er heute noch nicht da, und wenn er früh nicht auftaucht, kommt er auch später nicht.« Der Mann mit den kurz geschorenen Haaren nickte mir knapp zu – ein Zeichen, das für ihn diese Unterhaltung vorbei war – und gesellte sich wieder zu seinem stillen, herumwirbelnden Gegner.

Augen verdrehend wandte ich mich von ihm nach einigen Momenten ab und machte mich auf, dieses einfältige und graue Militärgelände zu verlassen. Der Lehrer versäumt den Unterricht, ging es mir durch den Kopf, aber ich hatte eine Ahnung, wo er stecken konnte. Seit Tagen kam er auch da hin, wenn ich dort war. Wie eine zutrauliche Katze, die nicht ohne Besitzer konnte.

Die doppelt oder dreifach gesicherten Türen, die auf den Parkplatz führten, wurden für mich geöffnet und mit neuer Entschlossenheit trat ich hinaus. Der Wind hieß mich sofort willkommen, spielte mit jedem Haar und freute sich auf seine Weise, dass ich wieder bei ihm war. Ich musste lächeln, strich mir aber die Haare nach hinten, die wie wild um mein Gesicht flogen. Anscheint verstand er es und ließ von meiner braunen Mähne ab. Dafür nahm er meine Hand in Beschuss, zog seine Runde und jagte wohlfühlende Impulse durch meinen Körper. Er gab mir das Gefühl etwas Wichtiges zu sein, er sagte mir auf seine Weise, dass ich besonders wäre, dass ich jemanden hätte, der immer zu mir halten würde. Er war mein Freund, obwohl ich ihn kaum kannte.

Die Straßen im westlichen Teil wirkten keineswegs leer, aber verlassen. Leute fanden sich zwar wieder, gingen von Laden zu Laden oder saßen in dem ein oder anderen Park, aber dennoch merkte man, dass hier etwas fehlte. Ich konnte es mir nicht erklären, aber ich sah, dass die Leute nicht zufrieden waren.

Ich hob meinen Kopf und sah noch in weiter Entfernung den Middle Tower, der alles dominierend überragte. Ich schätze es noch auf eine halbe Stunde Fußweg, bis ich dort ankommen würde. Ich hatte den alten Herren – Elijah, wie ich ihn ja nannte – nicht angerufen, da ich ein wenig zu Fuß gehen wollte, mir die Gegend anschauen wollte. Doch eine kleine Stimme in meinem Kopf sagte mir, dass ich es noch wegen einem anderen Grund nicht wollte. Und zwar aus dem, weil Rey sonst Dresche kriegen würde, falls der Officer erfahren würde, dass er mit seiner Waffe nicht ordentlich trainierte. Ich schob diesen Gedanken zwar in den Hintergrund, aber dennoch kam er immer wieder hervor, um mich daran zu erinnernd, dass es nur deswegen gewesen war. So war es aber nicht – hoffte ich zumindest.

Irgendwann entschloss ich mich, dann in einen Einkaufsladen zu gehen. Ich war noch nie in einem gewesen, fiel mir auf. Als ich noch in der Hütte im Wald gelebt hatte, war ich immer zu dem Markt am Rande der Stadt gegangen, hatte die letzten Ersparnisse in etwas Nahrung gesteckt oder Beeren aus dem Wald gepflückt. Weil ich aber Hunger hatte und heute Morgen nichts zu mir genommen hatte, ging ich in diesen kleinen Laden. Drinnen roch es nach Gebäck, nach Kuchen, anders als ich es mir vorgestellt hatte. Aber Vorstellungen entsprachen selten der Wahrheit, das hatte ich schon oft am eigenen Leib erfahren.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte mich plötzlich eine höfliche Stimme und ich wirbelte herum. Hinter einer kleinen Theke, die ich kaum bemerkt hatte, stand eine hübsche Frau. Das blonde Haar erinnerte mich an Weizen, der sanft auf einer Wiese gewogen wurde, während die Sonne ihre Strahlen auf ihm tanzen ließ. Ich hatte Weizen noch nie auf Feldern gesehen, jedoch stellte ich ihn mir wie viele andere kleine Dinge immer vor.

»Ähm ... Ich weiß nicht genau. Ich hätte gerne etwas zu essen, aber was genau weiß ich nicht. Hätten sie einen Tipp für mich?« Ich wusste, dass das ein wenig verwirrend war, diese Situation, aber ich wusste wirklich nicht, was ich essen sollte. Nur eins stand fest: Ich hatte Hunger.

»Nun ...«, meinte sie und verzog halb lächelnd das Gesicht. »Ich habe vorhin einen Apfelkuchen gebacken. Wenn Sie wollen ...?« Sie zeigte irgendwie hinter sich und sah mich fragend an.

Mit einem Lächeln nickte ich und trat näher. »Gerne doch. Ein Stück hätte ich gern.«

Die junge Frau verschwand für einen Moment hinter einer Klapptür, ehe sie mit einem Teller voll mit einem riesigen, lecker aussehenden Stück Apfelkuchen zurückkehrte. Mit einem zufriedenen Grinsen schob sie mir den Teller herüber und ich bezahlte.

»Brauchen sie einen Stuhl?«, fragte sie nach einem Moment und zog, ehe ich geantwortet hatte, einen Stuhl unter dieser vielseitigen Theke hervor.

Dankend ließ ich mich auf diesen Barhocker – oder was auch immer er war – nieder und aß Stück für Stück von diesem leckeren Kuchen. Er war wirklich köstlich und wahrscheinlich das Beste, was ich je gegessen hatte. »Haben Sie keine Kundschaft?«, fragte ich verwundert.

Die Frau riss die Augen auf, seufzte dann jedoch und lächelte wieder. »Ach, Sie sind von außerhalb. Nun, dann versteht sich das.« Nun, ich verstand das zwar nicht, aber ich erwiderte nichts. »Die Stadt hat sich in den letzten Jahren drastisch verändert. Früher blühte die Stadt richtig, war voller Freude. Eine richtige Stadt halt. Die Officers, die wir bis jetzt immer hatten, waren alle ziemlich großzügig und lebensfroh, von Nächstenliebe eingenommen.« Sie sprach ein wenig leiser. »Doch seit Officer Sébastien an der Macht ist, hat sich die Stadt gewandelt. Es heißt sogar, er solle seinen Vater umgebracht haben, nur um an die Macht zu kommen. Er ist habgierig, lässt die ganze Bevölkerung kontrollieren und spielt mit Illusionen. Er ist ein strenger Mann, verbietet vieles, und verlangt Steuern, die für einige ungeheuerlich hoch sind – selbst für mich.« Die junge Frau stand auf und nahm sich einen Lappen von einem zweiten Tisch. »Tut mir leid, dass ich Ihnen jetzt hier Ihren Aufenthalt vergrault ...«

»Was ist mit den Rebellen?«, fiel ich ihr ins Wort. »Seit wann sind sie da?«

Die Frau riss die braunen Rehaugen auf und musterte mich einige Momente eindringlich, ehe sie sich zu mir beugte und meinte: »Die Rebellen haben sich aus Bürgern gebildet, die gegen den Officer und seine unterjochende Regierung sind. Sie waren früher nicht da, haben sich in den letzten Jahren aber immer mehr vermehrt. Der Officer ist kein guter Mann, scheut kein Blutvergießen um seinen Willen zu bekommen. Die Rebellen versuchen nur ihn und seine Politik zu stürzen und ein friedvolles Zusammenleben zu erschaffen.« Die Frau nickte mir zu, ihr Gesichtsausdruck war nicht zu deuten, ehe ihr Lächeln zurückkehrte und sie mir den leeren Teller abnahm. »Hat es Ihnen geschmeckt«, fragte sie mit erfreuter Stimme.

»Ja, sehr«, murmelte ich und starrte von mich hin. Ein Schritt und du kommst nicht mehr zurück. Und ich war ihn gegangen, diesen einen Schritt. Ich konnte nicht mehr zurück. Nie mehr.

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